Zukunftsstudie: So sieht die Welt im Jahr 2030 aus

Aktuelle Aspekte der Produktivkraftentwicklung

Von Rolf Jüngermann

Werden sich die Möbelhersteller von heute bis zum Jahr 2030 zu Agenturen weiterentwickelt haben, die in erster Linie Anleitungen, Programme und Rohmaterial anbieten, damit Kunden ihre Möbel mit ihrem 3D-Drucker selbst bauen und gestalten können? Werden wir intelligente T-Shirts tragen, die unmerklich eine Vielzahl von Körperfunktionen erfassen und weiterleiten, und wie wird sich das auf Gesundheitsvorsorge und Krankenversicherung auswirken?

Ein interdisziplinäres Team aus dem Umfeld des VDI (Verein Deutscher Ingenieure) hat in den vergangenen zweieinhalb Jahren zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) den aktuellen Foresight-Prozess (strategisches Instrument zur langfristigen Vorausschau) im Unterauftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführt und die Ergebnisse in einer Studie veröffentlicht, die Aufschluss über gesellschaftliche Entwicklungen und technologische Trends bis in das Jahr 2030 geben soll. Das BMBF als Auftraggeber der Studie will die in drei Bänden zusammengefassten Studienergebnisse als „Ideen­pool für zukünftige Forschungsprogramme und Projekte“ nutzen, um frühzeitig Orientierungswissen für strategische Entscheidungen bereitzustellen und an den Schnittstellen von Gesellschaft und Technik neue Herausforderungen in Form von „Innovationskeimen“ zu identifizieren.

Für den ersten Band („Gesellschaftliche Veränderungen 2030“) wurden gemeinsam mit dem ISI 60 Trends in den Bereichen Gesellschaft/Kultur/Lebensqualität, Wirtschaft sowie Politik und Governance identifiziert. Dazu gehören Thesen wie die „zunehmende Einforderung eines Rechts auf freie Nutzung digitaler Güter“, „Crowdfunding als alternatives Finanzierungsmodell“, „Selbermachen 2.0“ oder auch „Post-Privacy versus Schutz der Privatsphäre“. Die Trends verknüpften die Wissenschaftler zu sieben größeren Themenkomplexen, für die jeweils Chancen, Risiken und mögliche Entwicklungen aufgezeigt werden.

Band zwei („Forschungs- und Technologieperspektiven 2030“) ist stärker technisch ausgerichtet und widmet sich Anwendungspotenzialen sowie Entwicklungschancen in insgesamt elf Forschungs- und Technologiefeldern. Dazu gehören Biotechnologie, Dienstleistungen, Energie, Gesundheit und Ernährung, Informations- und Kommunikationstechnologie, Mobilität, Nanotechnologie, Photonik, Produktion („Industrie 4.0“), zivile Sicherheitsforschung, Materialwissenschaft und Werkstofftechnik. Für jedes Technologiefeld werden „Anwendungen mit hohem Potenzial bis 2030“ benannt. Im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sind dies beispielsweise Nanoelektronik-Hardware, Quanten- und Biomolekular-Computer, Quantenkryptografie sowie Complex Event Processing und Predictive Analytics.

Im dritten Band („Geschichten aus der Zukunft 2030“) werden schließlich eine Vielzahl kleiner „Geschichten aus der Zukunft“ erzählt mit Begleittexten zu Themen wie Automatisierung und Robotik, Infrastrukturen für sozio-technische Innovationen oder auch „Privatsphäre im Wandel“. Damit soll wohl auch einfacheren Gemütern hinreichend deutlich gemacht werden, dass Digitalisierung, Vernetzung und eine zunehmende Informationsgewinnung aus großen Datenmengen den größten Einfluss auf unsere gesellschaftliche Zukunft haben werden.

Der Informationsgehalt der Studie ist beträchtlich, in den technisch geprägten Teilen teilweise sogar beeindruckend – wenn auch oft genug offensichtlich stark Lobby-geprägt. Überwiegend umso schwächer – nicht selten banal oder auch grob irreführend – sind die zu den Bereichen Gesellschaft/Kultur/Lebensqualität, Wirtschaft sowie Politik und Governance formulierten Vorstellungen, Ziele und Geschichten. Offensichtlich war man nicht bereit, sich auf die reale gesellschaftliche Problemlage und auf die einschlägigen alternativen, linken und gewerkschaftlichen Positionen einzulassen. Bei genauerem Hinsehen finden sich zudem vor allem im ersten und dritten Band immer wieder krasse Beispiele dafür, bei welchen inhaltlichen und begrifflichen Banalitäten diejenigen landen, denen Positionen und Denkwerkzeuge des Marxismus zum Tabu geworden oder gar unbekannt sind.

Trotzdem bleibt dieser Report über die Traumwelt und Wunschvorstellungen im Wolkenkuckucksheim der Autolobby, der Pharmazie- und Medizinlobby und ähnlicher Kreise eine wichtige Informationsquelle, denn es ist unbedingt davon auszugehen, dass seine Grundlinien in einem engen – nicht nur propagandistischen – Zusammenhang stehen mit der Strategie des Kapitals in den nächsten 15 Jahren.

Alle drei Bände der Zukunftsstudie können kostenlos online beim VDI Technologiezentrum abgerufen werden unter: http://bit.ly/1U3MUgc

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Aktuelle Aspekte der Produktivkraftentwicklung", UZ vom 4. September 2015



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Schlüssel.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit