Ich befinde mich in einem heruntergekommenen Gebäude. Als ich an der Toilette vorbeilaufe, schlägt mir Pissegeruch entgegen, so dass ich kurz an meiner Mission zweifle. Es ist kalt. Sehr kalt. „Könnt ihr bitte das Fenster schließen? Es ist richtig kalt.“ „Aber Frau Becker! Das ist doch kaputt.“ Ach so. „Aber ab nächster Woche wird die Heizung angeschaltet.“ Cool. Ab nächster Woche heizen wir also freundlicherweise den umgebenden Stadtteil.
Zeitsprung. Nächste Woche. Es ist immer noch kalt. Sogar noch kälter. „Warum habt ihr die Heizung nicht angemacht?“ „Aber Frau Becker! Die ist doch kaputt.“ Cool. Passt ja zum Fenster. Na ja.
Ich befinde mich an meinem neuen Arbeitsplatz, einer sogenannten Brennpunktschule. Mein erster Eindruck von den Schülerinnen und Schülern: Zucker. Die Lehrerinnen und Lehrer: überarbeitet und desillusioniert. Als Inklusionslehrerin bin ich zuständig für die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung. So komme ich viel rum. Heute hat es mich in den Kunstunterricht verschlagen. „Aber warum seid ihr denn im Klassenzimmer und nicht im Kunstsaal?“ „Aber Frau Becker! Da gibt es doch keine Stühle.“ Ach so.
Ich werde häufig gefragt, was mein Job als Inklusionslehrerin eigentlich beinhaltet. Tja. Alles. Das ist die kurze Antwort. Ich mache tatsächlich alles. Alles, was das Kind braucht. Alles, was die Lehrkraft der Regelschule braucht, um das Kind angemessen unterrichten zu können. Ich halte den Kontakt zu den Eltern. Zum Jugendamt. Zu den Therapeuten. Zum Sportverein, wenn gewünscht. Zu den Schulbegleitern, die in den seltensten Fällen eine pädagogische Ausbildung haben. Ich organisiere Nachhilfe. Ich lösche Brände, ich schlichte Streit. Jeden Streit. Auch die, an denen meine Schüler ausnahmsweise mal nicht beteiligt sind. Und ich berate. Alle. Die Eltern, die Schülerinnen und Schüler, die Kolleginnen und Kollegen. Sogar die beratungsresistenten. Die Schulleitung. Die Schulsozialarbeit. Jeden, der mich fragt.
Dafür habe ich 2,5 Stunden Zeit. Pro Woche. Meine Kollegin aus dem Förderschwerpunkt Lernen beneidet mich darum. Sie hat pro Kind knapp 30 Minuten. Meine Kollegin, die den sonderpädagogischen Bedarf feststellt und Gutachten schreibt, wird ebenfalls beneidet. Sie muss deshalb nämlich 45 Minuten pro Woche weniger unterrichten.
Den Gutachtenprozess muss man sich etwa so vorstellen: Termin mit der Regelschule vereinbaren. Kind im Unterricht beobachten. Kollegen beraten. Eltern beraten. Formulare ausfüllen. Nochmal beobachten. Nochmal beraten. Mehr Formulare ausfüllen. Ausführliches Gutachten verfassen.
Offiziell muss die Kollegin mindestens acht Gutachten im Schuljahr bearbeiten. In Wahrheit werden so lange Gutachten geschrieben, bis alle Anfragen bearbeitet sind.
Ob skurril, ganz normal oder beides: Anna Becker berichtet in ihrer Kolumne ab sofort und in unregelmäßigen Abständen für UZ aus ihrem Arbeitsalltag.


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