Altenpflege am Limit

Werner Sarbok im Gespräch mit Matthias Gruß, ver.di

Der Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit für ein Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals enthält aus Sicht der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) eine Reihe von Maßnahmen, die „sehr anerkennenswert sind und in die richtige Richtung weisen“. Darüber sprachen wir mit Matthias Gruß, bei ver.di zuständig für die Altenpflege.

UZ: ver.di bewertete die Schaffung von 13 000 Stellen in der Altenpflege als einen ersten Schritt, die jedoch das Problem der schlechten Arbeitsbedingungen nicht lösen würden. Wie sehen diese Arbeitsbedingungen zur Zeit aus?

Matthias Gruß: 13 000 Stellen sind in der Tat kein großer Wurf. Wir haben bundesweit mehr als 13 000 stationäre Einrichtungen, das ist also im Durchschnitt nicht mal eine Pflegekraft pro Einrichtung. Entlastung sieht anders aus. Wir sagen: Da fehlt ‘ne Null – Wir bräuchten eher 130 000 Stellen.

Gerade erst hat der DGB eine Umfrage vorgelegt, in der Pflegekräfte zu ihren Arbeitsbedingungen befragt werden. Die Ergebnisse sind erschreckend, aber wir kennen die Schilderungen des Arbeitsalltags seit vielen Jahren, weshalb sie uns nicht überraschen. Weil zu wenig Personal eingesetzt wird, kommen Pflegekräfte regelmäßig an den Rand ihrer Belastbarkeit, oft gehen sie auch darüber hinaus. Sie nehmen keine Pausen, machen Überstunden, springen spontan für erkrankte Kolleginnen und Kollegen ein, obwohl sie eigentlich endlich mal einen freien Tag gehabt hätten. Ihre Dienstzeiten sind nicht planbar, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist unter diesen Bedingungen fast unmöglich. 80 Prozent der Pflegekräfte fühlen sich bei der Arbeit gehetzt, viele berichten davon, bei der Qualität der Versorgung Abstriche machen zu müssen, um die Arbeit einigermaßen zu schaffen. Mit einem schlechten Gewissen und mit Tränen in den Augen den Dienst zu verlassen ist keine Seltenheit. Das macht auf Dauer krank. Und das sieht man auch in den Statistiken: Pflegekräfte sind häufiger und länger krank als andere Beschäftigte. Viele verlassen erschöpft und resigniert nach wenigen Jahren den Beruf. Jede/r Vierte wirft schon während der Ausbildung hin.

UZ: Um den Teufelskreis aus schlechten Arbeitsbedingungen, fehlenden Fachkräften und steigender Belastung zu durchbrechen, sind aus der Sicht von ver.di kurzfristig wirkende Maßnahmen erforderlich. Was muss denn schnell geschehen?

Matthias Gruß: Wir brauchen dringend deutlich mehr Personal. Allein um bundesweit auf das Niveau des Bundeslands mit der bislang besten Personalausstattung zu kommen, bräuchten wir 63 000 zusätzliche Stellen. Und damit ist immer noch kein gutes Versorgungsniveau gesichert.

Bis 2020 soll zwar ein Instrument zur Personalbemessung entwickelt werden. Das dauert uns aber zu lang. Wir schlagen vor, dass der Schlüssel 1:2 angelegt wird, bis es valide Zahlen gibt. Also wenn eine Einrichtung 100 Bewohnerinnen und Bewohner hat, muss sie mindestens 50 Vollzeit-Pflegekräfte beschäftigen.

Außerdem braucht es eine deutlich bessere Bezahlung und einen höheren Urlaubsanspruch als gesetzlich vorgegeben. In vielen privaten Einrichtungen gilt nur der gesetzliche Urlaubsanspruch von 20 Tagen. Da sich viele, vor allem kommerzielle Arbeitgeber Tarifverhandlungen verweigern, ist es sinnvoll und gut, wenn der Arbeitsminister einen Tarifvertrag auf die gesamte Altenpflege flächendeckend erstreckt. Das steht im Koalitionsvertrag und das fordern wir ein. Denn wenn die Arbeitgeber nicht freiwillig anständig bezahlen, müssen sie dazu gezwungen werden.

UZ: In der Altenpflege arbeitet ein hoher Anteil angelernter Pflegekräfte. Viele dieser Kolleginnen und Kollegen haben keine volle Stelle, obwohl sie das gern hätten, und müssen folglich sogar aufstocken. Wie stellt sich ver.di dazu?

Matthias Gruß: Die hohe Teilzeitquote betrifft nicht nur die Pflegehilfskräfte. Mehr als die Hälfte aller Pflegekräfte arbeitet in Teilzeit. Von den Teilzeitbeschäftigten in Ostdeutschland geben 46 Prozent der Fachkräfte und 55 Prozent der Helferinnen und Helfer in der Altenpflege an, keine Vollzeitstelle gefunden zu haben. Das gilt auch für viele Pflegekräfte im Westen.

Arbeitgeber stellen gern in Teilzeit ein, weil sie mit Teilzeitkräften flexibler planen können. Mit denen werden die Zeiten abgedeckt, in denen besonders viel zu tun ist. Und wenn eine Kollegin krank wird, fällt nur eine halbe Stelle aus und nicht gleich eine ganze. Für die Pflegekräfte ist Teilzeitarbeit auch deshalb ein Problem, weil die Altersarmut so programmiert ist und das Überleben im Alltag noch schwieriger wird – angesichts der ohnehin schon geringen Löhne, insbesondere bei den Hilfskräften.

Wir finden: Jeder muss ein Recht darauf haben, auf Vollzeit zu arbeiten, wenn er oder sie es möchte. Das ist ja auch ein enormes Potential. Wenn Arbeitgeber über Fachkräftemangel reden, zugleich aber ihre Beschäftigten in Teilzeitverträge zwingen, passt das nicht zusammen. Viele Pflegekräfte haben aber auch auf Teilzeit reduziert, weil sie die Arbeitsbelastung in Vollzeit nicht mehr aushalten. Deshalb müssen sich auch die Arbeitsbedingungen verbessern – vor allem durch mehr Personal.

UZ: Seit etwa zehn Jahren werden in den Seniorenheimen Betreuungsassistenten beispielsweise für an Demenz erkrankte Bewohnerinnen und Bewohner eingesetzt. Hat das zu einer Entlastung der Pflegekräfte geführt?

Matthias Gruß: Das ist nicht so leicht zu beantworten. Betreuungskräfte übernehmen bestimmte Arbeiten, das reduziert natürlich den Aufwand für die Pflegefachkraft. Aber die Pflegefachkräfte sind trotzdem verantwortlich dafür, dass alle Aufgaben erledigt werden, weshalb es einen höheren Kommunikationsaufwand gibt. Für die Pflegefachkräfte bleiben außerdem vor allem die besonders belastenden Tätigkeiten übrig, ohne dass zwischendurch Verschnaufpausen bei Routine-Aufgaben oder Gespräche mit den Bewohnerinnen und Bewohnern möglich sind. Das spaltet auch die Belegschaften.

Und wenn man einen ganzheitlichen Anspruch an Pflege hat, gehören auch die Aufgaben dazu, die von Betreuungskräften übernommen werden. Da kommen zehn verschiedene Menschen ins Zimmer des Bewohners für zehn verschiedene Aufgaben. Eine Person gibt die Tabletten aus, eine andere macht das Bett, eine wechselt die Verbände und eine andere reicht das Essen. Und das auch noch in drei Schichten. Diese Taylorisierung der Arbeit führt nicht zu einer besseren Pflege und nicht zur Entlastung der Beschäftigten.

UZ: Im Zuge der Pflegereform 2016/2017 wurden die bisherigen Pflegestufen in fünf neue Pflegegrade umgewandelt. Hatte diese Reform positive Auswirkungen auf die Beschäftigten bei der ambulanten Pflege?

Matthias Gruß: Gut ist, dass es einen umfassenderen Leistungsanspruch für die Pflegebedürftigen gibt. Aber gerade im ambulanten Bereich wurde nicht mitbedacht, dass man dafür auch mehr Personal braucht. Eine Leistungsausweitung bei gleichzeitig stagnierendem Personal hat keinerlei positive Auswirkung. Teilweise können dann Dienste nicht mehr angeboten werden, vor allem im ländlichen Raum. Bei den aktuellen Vorhaben von Spahn fällt die ambulante Pflege übrigens komplett unter den Tisch. Bei den 13 000 neuen Stellen sind nur die stationären Einrichtungen gemeint, auch sonst geht es immer nur um die Heime. Deshalb ist es besonders wichtig, dass bei dem Personalbemessungsinstrument, das gerade erarbeitet wird, auch Vorgaben für die ambulante Pflege gemacht werden. Und auch bei unserem Tarifvertrag, den wir auf die ganze Altenpflege erstrecken lassen wollen, legen wir Wert darauf, dass alle Regelungen auch für die ambulante Pflege gelten. Denn die Arbeit dort ist genauso anspruchsvoll und belastend.

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"Altenpflege am Limit", UZ vom 14. September 2018



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