Bertelsmann-Stiftung manipuliert. Medien übernehmen unkritisch

Altersarmut neu definiert

Von Reiner Heyse

Die Armutsschwelle eines Landes ist international klar beschrieben: Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erhält, ist armutsgefährdet. Das Bundesamt für Statistik (destatis) berechnete diese Schwelle für Deutschland im Jahr 2018 mit 1 035 Euro netto.

Zu anderen Ergebnissen kommt die Bertelsmann-Studie, die sich auf Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) beruft: Sie schrumpft die Armutsschwelle für Menschen über 65 um 120 Euro auf 905 Euro.

Wie sie das bewerkstelligt, wird in der Studie nicht explizit erklärt. Es ergibt sich aber aus einer Tabelle, in der das „durchschnittliche Einkommen der älteren Bevölkerung“ dargestellt wird, aus der dann die 60-Prozent-Armutsschwelle berechnet wird.

Das ist eine üble Manipulation, weil in dem Erklärungstext suggeriert wird, dass die Erhebungsmethode den internationalen Regeln folgt. Das tut sie aber keineswegs. Würden die Manipulateure das Spiel der separaten Betrachtung von Bevölkerungsteilen konsequent weitertreiben, müssten sie auch die Alterseinkommen von Beamten, Politikern und Freiberuflern herausrechnen. Es geht ja schließlich in der ganzen Studie um die Rentnerinnen und Rentner der gesetzlichen Rentenversicherung. Das Ergebnis wäre dann voraussichtlich eine Altersarmutsschwelle so um die 850 Euro. Das wäre dann eine Armutsschwelle, die für sehr viele Rentner noch unter der Grundsicherung läge.

Die Deutsche Rentenversicherung empfiehlt aktuell, bei einer Rente von unter 865 Euro prüfen zu lassen, ob Anspruch auf Grundsicherung besteht. Hier setzt eine weitere Neu-Definition der Bertelsmann-Veröffentlichung an: Es wird eine Grundsicherungsschwelle von 777 Euro in die Welt gesetzt.

Hierzu sollte man wissen: Die Grundsicherung setzt sich aus zwei Komponenten zusammen.

1. Dem Regelsatz zur Bestreitung des laufenden Lebensunterhalts – zurzeit für Einzelpersonen 424 Euro im Monat – der für alle gleich ist.

2. Den Wohnkosten, bestehend aus Kaltmiete und Heizkosten/Warmwasserkosten. Sie werden regional unterschiedlich bewertet. Der Höchstsatz orientiert sich an der örtlichen Mietobergrenze plus der Heiz-/Warmwasserkosten. Danach kann zum Beipiel die Grundsicherung im Landkreis Rendsburg/Eckernförde 840 Euro betragen, in Berlin 920 Euro.

Die neu ins Leben gerufene Grundsicherungsschwelle kann also nur für eine Gegend Deutschlands relevant sein, in der die Kaltmiete deutlich unter 300 Euro liegt. Davon gibt es aber nur sehr wenige.

Die Bertelsmann-Stiftung hat eine Studie in die Welt gesetzt, die ganz offensichtlich Armuts-Maßstäbe verschieben soll. In der vergangenen Woche wurde eine NDR-Info Sendung zur Altersarmut bereits anmoderiert mit „es geht also um Menschen, die weniger als 905 Euro im Monat zum Leben haben“.

Auch diese Bertelsmann-Studien-Ergebnisse sind von nahezu allen Medien unkritisch übernommen worden. Es wird nicht hinterfragt, anscheinend noch nicht einmal registriert, dass destatis zur Armut und damit auch zur Altersarmut, völlig andere Zahlen veröffentlicht als die Bertelsmann-Stiftung.

Die Altersarmut kann von heute 16,8 Prozent bis 2039 auf 21,6 Prozent ansteigen, verrät die Studie. Das ist zwar alarmierend, aber durch die Maßstabsverschiebungen gleichzeitig verharmlosend.

Die in der Studie untersuchten Reformkonzepte sind samt und sonders für eine Bekämpfung der Altersarmut völlig ungeeignet. Die Einführung einer Mindestrente wird mit keinem Wort in Erwägung gezogen. Gegen das sinkende Rentenniveau wird wieder einmal Propaganda für die private Vorsorge betrieben:

„Um das sinkende Rentenniveau auszugleichen, sollte die private Vorsorge eine größere Bedeutung für die Einkommenssicherung im Alter bekommen. Wenn man als Zielgröße der ergänzenden Altersvorsorge die Verbreitung der GRV unterstellt, ist das bisher nicht im erforderlichen Ausmaß geschehen.“

Es ist zu befürchten, dass „Experten“, die solche Positionen und Forderungen vertreten, zu den wissenschaftlichen Beratern der Rentenkommission gehören. Ob das zutrifft, bleibt hinter der absoluten Geheimhaltung der Kommissionsarbeit verborgen.

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"Altersarmut neu definiert", UZ vom 27. September 2019



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