Rechte Gewalttaten nehmen in Berlin zu

Auf dem Vormarsch

Von Markus Bernhardt

Berlin gilt als tolerante Stadt. Und doch kommt es in der Bundeshauptstadt zunehmend zu Übergriffen auf sogenannte Minderheiten. Vor allem Flüchtlinge, Judinnen und Juden, Menschen mit Handicap, Obdachlose und Lesben und Schwule geraten immer öfter ins Visier von Rassisten und Rechten. Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt schlagen Alarm. Vorfälle mit rechtem, rassistischem oder antisemitischem Hintergrund sind um über 22 Prozent angestiegen, gaben die Beratungsstellen Ende letzter Woche bekannt. Die Initiative „Berliner Register zur Erfassung rechtsextremer und diskriminierender Vorfälle“ dokumentierte für das Jahr 2018 insgesamt 3405 Vorfälle (2017: 2800). Im Durchschnitt wurden pro Tag neun Vorfälle aufgenommen.

Vor allem antisemitische und rassistische Angriffe, Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien sind im Vergleich zum Vorjahr stark gestiegen. Gleiches gilt für Vorfälle, die den deutschen Faschismus verharmlosen. Diese stiegen auf 382 (2017: 293). Dass es einen Rückgang an Vorfällen gibt, die einer organisierten rechten Szene zugeordnet werden können, wie die Opferberatungsstellen konstatieren, ist keineswegs ein Grund zur Entwarnung. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Dadurch zeigt sich, dass rechtsextreme Denkmuster immer öfter in der Mitte der Gesellschaft zu verorten sind und nicht nur am rechten Rand.

Ein Beispiel vom 8. Juni 2018: Eine 27-jährige Frau, die ein langes Kopftuch (Tschador) trägt, steigt gegen 15 Uhr nachmittags am Packereigraben im Märkischen Viertel in den Bus M21 ein. Die Fahrerin des Busses beleidigt nach Polizeiangaben die zugestiegene Frau, zeigt den Hitlergruß und deutet mit zwei Fingern einen Hitlerbart an. Die Polizei ermittelt gegen die Busfahrerin wegen Volksverhetzung und der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

„Rassistisches und antisemitisches Verhalten entspringt Einstellungen und Werten. Der erhebliche Zuwachs gerade dieser Vorfälle ist besorgniserregend und zeigt, dass es notwendig ist, sich im Alltag ganz bewusst gegen Ausgrenzung und Abwertung einzusetzen“, fordert Kati Becker, Koordinatorin der Initiative „Berliner Register“. Anders als die Opferberatungsstelle „Reach­Out“ dokumentiert die Initiative neben gewalttätigen Angriffen und massiven Bedrohungen auch andere Vorfälle wie zum Beispiel Propagandadelikte und Beleidigungen. Ziel der Initiative sei es, „alltägliche Formen von Diskriminierung sichtbar zu machen, um rechtzeitig Gegenstrategien zu entwickeln“, so Becker weiter.

„ReachOut“ betonte, dass Rassismus mit 50 Prozent „das häufigste Motiv“ für gewalttätige Übergriffe sei. Die Experten dokumentierten 309 Angriffe für das Jahr 2018 (2017: 267). Mindestens 423 (2017: 374) Menschen seien verletzt, gejagt und massiv bedroht worden. Darunter 19 Kinder und 47 Jugendliche. Außerdem mussten 19 Kinder miterleben, wie ihre Eltern geschlagen, bespuckt und gedemütigt wurden. „Auffällig ist der Anstieg der rassistisch motivierten Taten. Ganz offensichtlich fühlen sich die Täterinnen und Täter durch rassistisch geprägte Diskurse von Politikerinnen und Politikern rechtspopulistischer, aber auch anderer Parteien ermutigt zuzuschlagen“, erklärt Sabine Seyb, Mitarbeiterin von „ReachOut“. Seyb schätzt die Entwicklung der Angriffszahlen folgendermaßen ein: „Wir beobachten eine Enttabuisierung bezüglich der Gewalt gegen ausgegrenzte und diskriminierte Bevölkerungsgruppen. So erfuhren wir auch von acht Angriffen gegen obdachlose Personen. Gleichzeitig gerät der Bürgermeister von Berlin-Mitte in die Schlagzeilen, weil er unerbittlich und brutal gegen Menschen, die auf der Straße leben, vorgehen lässt.“

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"Auf dem Vormarsch", UZ vom 15. März 2019



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