UZ-Redakteure auf Spurensuche in London

Auf ein Pint mit Marx

„Das Vorwort zur gegenwärtigen Ausgabe muss ich leider allein unterschreiben. Marx, der Mann, dem die gesamte Arbeiterklasse Europas und Amerikas mehr verdankt als irgendeinem andern – Marx ruht auf dem Friedhof zu Highgate, und über sein Grab wächst bereits das erste Gras“, schrieb Friedrich Engels im Vorwort zur deutschen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei“ von 1883.

Wer vor dem Originalgrab von Marx auf dem Friedhof Highgate im Londoner Nordwesten steht, muss Engels eine gewisse dichterische Freiheit zugestehen. Das Grab ist komplett von einer Steinplatte bedeckt, Gras wuchs da vermutlich auch 1883 nicht.

An dem schmucklosen Grab auf dem östlichen Teil des Highgate Cemetery waren, als Engels am 17. März 1883 die Trauerrede hielt – wie von Marx gewünscht – nur wenige Menschen versammelt: Eleanor Marx, Carl Schorlemmer, Ray Lankester, Horatio Bryan Donkin, Wilhelm Liebknecht, Charles Longuet, Paul Lafargue, Friedrich Leßner, Georg Lochner, Edward Aveling, Helena Demuth und Gottfried Lembke.

Heute erhält das Grab von Karl Marx täglich Besuch aus aller Welt. Die Besucher stehen auch an dem schlichten Grab von 1883, vor allem aber am neuen, monumentalen, einige hundert Meter näher am Eingang.

Dort stehen an einem wunderschönen Sommertag auch wir, eine kleine UZ-Reisegruppe, die sich auf den Spuren von Karl Marx nach London begeben hat.

Der Quader mit der überlebensgroßen Porträtbüste von Marx wurde am 14. März 1956 von dem damaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Großbritanniens, Harry Pollitt, enthüllt. Bezahlt wurde sie – genau wie die neue Grabstelle – aus dem „Marx Memorial Fund“, den die CPGB gegründet hatte. Geschaffen wurde das Grabmal vom britischen Bildhauer Laurence Bradshaw. Auf der Vorderseite trägt der Sockel die Inschrift „Workers of All Lands Unite“ („Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“) und die 11. These über Feuerbach: „The philosophers have only interpreted the world in various ways. The point however is to change it“ („Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern“). Dazwischen ist die originale Grabplatte der Familie Marx angebracht.

Auch in dem neuen Grab liegt Marx nicht allein. Im November 1954 waren nicht nur Marx‘ sterbliche Überreste umgebettet worden, sondern auch die von Marx’ Ehefrau und lebenslanger Weggefährtin Jenny von Westphalen, die des gemeinsamen Enkels Harry Longuet und die von Helena „Lenchen“ Demuth, der engen Familienfreundin, Haushälterin, vielleicht Geliebten und vielleicht Mutter von Marx’ einzigem Sohn, der das Erwachsenenalter erreichte. Doch dazu später mehr. Ebenfalls im neuen Grab befindet sich die Urne von Eleanor Marx, die bis 1954 in der Marx Memorial Library aufbewahrt wurde.

Die Besucher, die vor uns da waren, haben Marx und den Seinen Geschenke mitgebracht. Vor dem Monument liegen Geld (Warum? Wegen des „Kapitals“? Oder weil Marx immer pleite war?), mehrere Joints (hätte ihm wahrscheinlich gefallen), Blumen, handgeschriebene Nachrichten, Bücher und Zeitschriften wie „Qiushi“, das Theorieorgan der Kommunistischen Partei Chinas. Ich ärgere mich ein bisschen, dass wir keine UZ dabei haben. Für Materialisten ist es zwar eine alberne Geste, aber ich hätte gern eine hingelegt, nach dem Motto: „Schau mal, wie wir heute mit deinen Erkenntnissen arbeiten.“

Die UZ ist aber zu Hause geblieben, also machen wir schnell das obligatorische Gruppenfoto und schauen uns um. Karl Marx ist nicht der einzige Revolutionär, der auf dem Highgate Cemetery begraben ist. Um ihn herum entdecken wir Genossinnen und Genossen aus dem Iran, dem Irak und aus Südafrika. In die Nachbarschaft von Marx hat sich auch Eric Hobsbawm eingekauft. Sein schwarzer Grabstein wirkt zwischen den anderen irgendwie protzig.

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Unterwegs mit der Karl Marx Walking Tour (Foto: Lars Mörking)

Auch abseits von Marx und seinen revolutionären Erben ist der Highgate Cemetery einen Besuch wert. Ein klassischer alter Garten-Friedhof, geplant nach dem Vorbild des Pariser Père-Lachaise, sollte er zweierlei anlocken: reiche Familien, die Grabstätten kaufen, und zahlende Besucher, die über den Friedhof flanieren. Obwohl immer noch als Begräbnisstelle genutzt, sind große Teile des Friedhofs verfallen, neue Gräber stehen zwischen umgestürzten Grabsteinen. Hier findet man Musiker, Bildhauer, Künstler und Schriftsteller – und dementsprechend abgefahrene Gräber. Auf einem Grab unweit des Eingangs liegen Unmengen an Kugelschreibern – und ein Handtuch. Hier liegt Douglas Adams, der Autor von „Per Anhalter durch die Galaxis“.

Unsere kleine Reisegruppe verlässt den Friedhof, ohne den Westteil gesehen zu haben. Die Füße tun weh (für London braucht man gutes Schuhwerk) und wir wollen in der Nähe noch ein bisschen auf Marx‘ Spuren wandeln.

Zwischen Hampstead und Highgate liegt der Park „Hampstead Heath“, die größte Erhebung Londons. Von dem Stück Heide (englisch „Heath“) hat man einen wunderbaren Blick über die britische Metropole – falls (und das scheint nicht so oft vorzukommen) die Vegetation von der Stadtverwaltung in Schach gehalten wird. Hier sitzen Londoner und Touristen in der Sonne und hierhin hat Marx mit seinen Kindern sonntägliche Ausflüge gemacht, Picknick inklusive. Und weil das Geld im Hause Marx bekannterweise knapp war, ging man zu Fuß. Marx – den Erzählungen von Jenny und auch von Engels nach überaus kinderlieb und den seinen mehr zugewandt als für Männer seiner Zeit üblich – erzählte auf dem Weg stets selbsterfundene Geschichten. Allerdings nur, solange die Kinder liefen. Wenn stehengeblieben und gequengelt wurde war die Geschichte zu Ende. Und so riefen die Kinder: „Tell us another mile!“ („Erzähl uns noch eine Meile!“).

Von Hampstead Heath aus wandern wir den Hügel wieder in Richtung Camden Town hinunter. Nach Hause sozusagen. Und bevor jetzt Klagen kommen: Wissen wir alles. Von Touristen überlaufen, die ganze High Street ist voll von Souvenirklimbimläden mit T-Shirts, auf denen sich beschwert wird, dass jemand nach London fuhr und nur dieses lausige T-Shirt mitgebracht hat. Und den Jungs, die mit den „Heute 50 Prozent billiger“-Flyern wedeln, sollte man besser nicht in eins der Tattoo-Studios folgen. Aber: Auch Marx hat hier gewohnt, Primrose Hill, wo Engels gewohnt hat und angeblich einst Marx‘ Lieblingsbuchandlung war, liegt gleich um die Ecke. Es ist nicht weit bis zum Internationalen Bahnhof St. Pancras, an dem ankommt, wer gemütlich und flugfrei nach London reisen möchte. Und wenn man den äußeren Ring von Touri-Nepp-Buden durchdrungen hat, findet man im Inneren des Camden Market noch immer das, was einst das Teenagerherz hat höher schlagen lassen: Siffige Plattenläden, Politshirt-Verkauf, Punks. Außerdem kann man direkt über der Schleuse sitzen, den Booten zugucken, Wein trinken und über Marx und die Welt reden. Was will man mehr?

Mehr über Marx und den Marxismus erfahren natürlich! Und wer einen genauso fundierten wie kurzweiligen Einblick in das Leben von Karl Marx in London, sein Denken und Wirken haben will, der finde sich am besten sonntags um 11 Uhr vor dem Criterion Theatre am Piccadilly Circus ein. Denn dort ist der Treffpunkt für die „Karl Marx Walking Tour“ von Heiko Khoo und Mark Bygrave. Auch unsere UZ-Reisegruppe ist da, wie es sich dem Klischee nach für Deutsche gehört, als Erste. Zwei von uns haben eine Zeit lang in China gearbeitet, zusammen mit Genossinnen und Genossen aus verschiedenen Ländern. Und wie es der Zufall will, war einer von denen unser Tour Guide auf den Spuren von Marx: Heiko Khoo. Allerdings bleibt nur Zeit für eine herzliche Begrüßung, alles andere muss bis zum Kneipenabend warten. Denn wir sind nicht die einzigen, die sich an der Tour beteiligen wollen. Und so stehen wir mit mehr als 40 Leuten vor der ersten Station der Tour und Heiko kann darüber scherzen, dass es ja nun so schlecht um die Bewegung nicht stehen kann – immerhin hat er heute sogar noch eine zweite Tour.

Wir stehen vor einem Eckhaus in der Archer Street im Herzen Sohos. Denn an diesem Ort wurde die Geschichte der Menschheit für immer verändert.

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1851 bis 1856 lebte die Familie Marx in der Dean Street (Foto: Lars Thiede)

Ab dem 29. November 1847 tagte hier für zehn Tage der Bund der Kommunisten – zum zweiten Mal. Eine erste Tagung hatte im Juni des selben Jahres stattgefunden. Dort war bereits über die Frage eines Programms diskutiert worden. In London trugen Marx und Engels ihre Theorie über die Menschheitsgeschichte vor. Ihr Grundsatz: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“

Marx und Engels setzten sich durch, der Bund der Kommunisten übernahm ihre Anschauung der Welt. Sie erhielten den Auftrag, das Programm zu verfassen. Am 24. Februar 1848 erschien das „Manifest der Kommunistischen Partei“.

Heiko Khoo erzählt anschaulich vom „Frühling der Völker“, den revolutionären Erhebungen, die durch ganz Europa schwappten, von Frankreich und Italien über Deutschland und Österreich bis nach Polen und Ungarn.

Auch in England kam es zu revolutionären Arbeiterprotesten. Im April 1848 marschierten die Chartisten vom Kennington Park zur Blackfriars Bridge – die erste Demonstration der Geschichte, die fotografiert wurde. Doch der Herzog von Wellington wurde aus dem Ruhestand zurückgerufen und mit der Verteidigung der Hauptstadt beauftragt. Er mobilisierte 7.000 Soldaten, um die Bewegung niederzuschlagen. An der Blackfriars Bridge wurden 150 Protestierende verletzt und die Bewegung ebbte ab. In anderen europäischen Ländern konnten die Revolutionäre zumindest Teilerfolge erringen. Doch gegen Ende des Jahres 1848 waren die Revolutionäre geschlagen, sie wurden verfolgt und retteten sich ins Exil.

Marx war vor deutscher Verhaftung geflohen. Nach Paris, dann Brüssel und dann wieder Paris landeten Marx und seine Familie schließlich 1849 London. Hier lebte er bis zu seinem Tod im Jahr 1883.

Heiko Khoo erzählt die Geschichte von Marx und dem Marxismus mit einem Augenzwinkern, er weiß auch die Nichtmarxisten unter den Zuhörern zu begeistern. Dass wir Spaltung zum Beispiel immer groß geschrieben haben, erwähnt er gleich mehrmals. Unter anderem mit einer Geschichte, die sich 1850 in London ereignete. Bei einem Treffen verneinte August Willich, einer der Anführer des badisch-pfälzischen Feldzugs, in dem Engels sein Adjutant war, dass die Revolution vorbei sei. Als Marx dafür plädierte, erst mal die Niederlage zu studieren, warf Willich ihm vor, konterrevolutionär zu sein – und forderte ihn zum Duell. Marx zuckte mit den Schultern, Duelle waren nicht seine Art. Doch ein anderer Genosse, Conrad Schramm, erklärte, er werde stellvertretend für Marx kämpfen. Also traf man sich in Antwerpen, mit dem ganzen Zinnober: Morgengrauen, Pistolen, 20 Schritte Abstand, und schon hatte Schramm eine Kugel im Kopf. Marx und Jenny waren entsetzt, als sie vom Tod Schramms hörten. Der jedoch tauchte zwei Tage später wieder auf – mit einem blutigen Verband um den Kopf. Hier, in Soho, so Heiko Khoo, habe eben alles begonnen mit dem Streiten und Spalten.

Nach den deutschen Revolutionären gab es eine zweite Welle von Flüchtlingen, die ab Mai 1871 nach London kamen und sich vor allem in Soho niederließen. Es waren die Überlebenden der Pariser Commune. Noch heute findet man in Soho zwischen den Theatern, Rotlichtetablissements und Luxusboutiquen französische Cafés. Marx schrieb über die Ereignisse „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ und auch privat hatte die Niederlage der Commune Auswirkungen auf die Familie Marx. Drei der Kommunarden, die nach London kamen, interessierten sich mehr als politisch – vor allem für die Töchter. Jenny, die älteste, heiratete Charles Longuet, Laura Paul Lafargue. Der jüngsten Tochter, Eleanor, brach Prosper-Olivier Lissagaray das Herz. Gegen den Widerstand von Marx hatten sie sich verlobt, aber Lissagaray ging nach einer Amnestie für die Kommunarden nach Frankreich zurück.

Heiko Khoo spart während der Tour das schwere Leben der Familie Marx nicht aus, die Armut, das ständige Exil, die Krankheiten, die Marx letzte Jahre prägten, sein schwindendes Augenlicht. Er musste nicht nur seine Lebensliebe Jenny begraben, sondern verlor auch die älteste Tochter mit dem selben Namen an dieselbe Krankheit. Beide starben an Krebs. Von den insgesamt sieben Kindern von Jenny und Karl Marx erreichten nur drei das Erwachsenenleben. Wir stehen vor dem Haus, in dem drei Kinder starben, Franziska, Heinrich und Edgar, mit acht Monaten, knapp einem Jahr und acht Jahren.

Aber waren das wirklich alle Söhne? Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Helena Demuth und Marx eine leidenschaftliche Affäre hatten, auch ich musste schmunzeln, als ich ihren Namen auf dem Grabstein gesehen habe. Marx soll der Vater ihres unehelichen Sohns Frederick sein, für den Engels die Vaterschaft anerkannt hatte.

Heiko Khoo hält die Geschichte genau dafür: eine Geschichte. Erfahren werden wir es nie. Als er einmal Nachfahren von Helena Demuth auf der Tour hatte, hat er ihnen vorgeschlagen, die Sache doch ein für allemal zu klären. Auch ein Nachkomme von Marx lebt noch, ein Gentest würde Klarheit bringen. Doch die Demuths winkten lachend ab. Manche Dinge bleiben besser ein Geheimnis. Und wer will schon darauf verzichten, vielleicht mit Marx verwandt zu sein?

Ein kleines Stückchen weiter stehen wir an dem Ort, der einst das Zentrum der Revolution war. Denn hier gründeten Delegierte aus aller Welt (Marx vertrat Deutschland) am 28. September 1864 die Internationale Arbeiterassoziation. Es war kein rein kommunistisches Projekt, Mitglieder waren Gewerkschafter, irische Nationalisten, US-amerikanische Feministen, auch der Anarchist Bakunin machte mit – wenn auch nicht lange. Ein französischer Kommunarde namens Eugène Pottier schrieb 1871 – unmittelbar nach der blutigen Niederschlagung der Commune – zu Ehren der Gründung ein Gedicht. Es ist heute in fast alle Sprachen der Welt übersetzt. Heiko Khoo fragt die Gruppe, wer es in welcher Sprache singt. Verwirrte Gesichter, außer bei der UZ-Reisegruppe. Dann fängt Heiko auf Englisch an. Und so stehen wir vor dem Haus, in dem sich die Erste Internationale gründete, und singen die „Internationale“. Hätte ich das vorher gewusst, ich hätte Taschentücher eingepackt.

Doch für Rührung ist nicht lange Zeit, auch die Pause im Pub entfällt, weil Heiko heute gleich zwei Touren führt. Und am nächsten und letzten Stopp, bevor die Tour im Britischen Museum endet, sind eh andere Emotionen angesagt. Ein herrschaftliches Gebäude, drinnen, so Heiko, sitzt das Böse. Die Bank of England? Irgendeine andere Bank? Das britische Kriegsministerium? Nein, hier ist das Hauptquartier von Palantir. Also schnell den Stinkefinger in die Kamera gehalten und weiter.

Wer bei seinem London-Trip auch das Britische Museum besuchen möchte, sollte es vielleicht für den Anschluss an die Tour einplanen. Der Eintritt in das Museum ist nach wie vor frei, der Andrang ist immens. Dank Heiko gehen wir an den langen Schlangen vorbei und betreten das Museum durch einen Seiteneingang.

Das 1753 gegründete British Museum ist das älteste der Welt, es ist bombastisch, sowohl von der Architektur als auch von der Sammlung her. Hier gibt es Benin-Bonzen, ägyptische Mumien, den Rosetta-Stein und unfassbar viel mehr. Es ist ein Prachtbau des Kolonialismus, nicht umsonst gibt es Kampagnen, die sich dafür einsetzen, die zusammengeklauten Schätze der Geschichte an ihre Herkunftsländer zurückzugeben. Richtig so! Beeindruckend ist es trotzdem.

Wir gehen schnellen Schrittes an Exponaten vorbei – ich sehe Statuen, die ich den Osterinseln zuordne – durch einen lichtdurchfluteten Zwischenraum, biegen an zwei Sphinxen ab und enden im Lesesaal. Hier hatte Marx seinen Arbeitsplatz.

Heiko Khoo geht hier noch weiter auf Marx Familie ein, erzählt vom Selbstmord von Eleanor Marx, den viele für einen Mord hielten, auf jeden Fall aber ihrem Lebensgefährten Edward Aveling anlasteten. Aveling wollte nicht einmal ihre Urne. Bevor sie 1954 im Familiengrab in Highgate beigesetzt wurde, stand sie im Büro der Sozialdemokratischen Föderation im Gebäude der späteren Marx Memorial Library, 1920 kam sie ins Büro der Kommunistischen Partei Großbritanniens. Als die Polizei die Räume 1921 durchsuchte, beschlagnahmten sie die Urne mit Eleanors Asche – ohne Angabe von Gründen. Später wurde sie an die Marx Memorial Library zurückgegeben.

Auch Laura Marx nahm sich das Leben, allerdings friedlicher als Eleanor. Nach einem Opernbesuch am 25 November 1911 bereiteten sie und ihr Mann Paul Lafargue dem Leben ein Ende – die Last des Alters war zu groß geworden. Ihr Abschiedsbrief endet mit „Lang lebe die Revolution! Lang leben die Ideen von Marx und Engels und die Internationale!“ Zu ihrer Beerdigung kamen 80.000 Menschen. Ein junger russischer Revolutionär war einer der Redner: „Die russische Revolution läutete eine Ära demokratischer Revolutionen in ganz Asien ein, und 800 Millionen Menschen schließen sich nun der demokratischen Bewegung der gesamten zivilisierten Welt an. Auch in Europa gibt es zunehmend Anzeichen dafür, dass die Ära des sogenannten friedlichen bürgerlichen Parlamentarismus zu Ende geht und einer Ära revolutionärer Kämpfe des Proletariats Platz macht, das im Geiste marxistischer Ideen organisiert und erzogen wurde und die bürgerliche Herrschaft stürzen und ein kommunistisches System errichten wird“, so Lenin an Lauras Grab – fünf Jahre später wagten die Iren den Osteraufstand, sechs Jahre später siegte die Oktoberrevolution.

Karl Marx selbst erlebte keine weitere Revolution mehr. Nachdem er auf der Isle of Wight vom Tod seiner Tochter Jenny erfahren hat, schickt er Eleanor zur Beerdigung. Er selbst ist zu krank für eine Reise nach Frankreich. Zurück in London, kümmern sich Friedrich Engels und Lenchen Demuth um ihn. Um viertel vor drei am Nachmittag des 14. März 1883 stirbt Karl Marx, in seinem Sessel sitzend. Engels und Lenchen Demuth hatten nur kurz den Raum verlassen.

Man kann im Lesesaal des Britischen Museums eine Stecknadel fallen hören, also Heiko Khoo aus Engels’ Grabrede zitiert: „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, dass die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; dass also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen – nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt.“

Verdammt, Taschentücher einpacken wäre wirklich eine gute Idee gewesen. Und eine bessere Planung auch. Einmal im Monat gibt es auch eine Walking Tour durch Camden. Hier lebte Marx mit seiner Familie, als er „Das Kapital“ schrieb. Machen wir beim nächsten Mal. Und vielleicht ringen sich Heiko Khoo und Mark Bygrave bis dahin durch und machen eine Tour zu denen, auf die Marx Werk wirkte. Denn auch Trotzki, Stalin und Lenin verbrachten Zeit in London …

Abends, bei einem Pint im „Golden Lion“ in Camden frage ich Heiko, ob er bei der Tour auch mal angefeindet wird oder ob er Teilnehmer hat, die überhaupt kein Wissen über Marx mitbringen, sondern nur mal gucken wollen, wo der „Erfinder des Kommunismus“ gelebt hat. Heiko verneint, freundliches Inte­resse schlägt ihm bei den Touren entgegen. Den Eindruck hatten wir auch, als wir die „Internationale“ gesungen haben, war der Rest der Gruppe nicht abgeneigt – eher fasziniert, mal Kommunisten in freier Wildbahn zu sehen.

Nachfragen gab es bei der Tour vor allem zur politischen Ökonomie. Zu dieser zweiten großen wissenschaftlichen Arbeit von Marx sagte Engels an seinem Grab: „Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entdeckung des Mehrwerts war hier plötzlich Licht geschaffen, während alle früheren Untersuchungen, sowohl der bürgerlichen Ökonomen wie der sozialistischen Kritiker, im Dunkel sich verirrt hatten.“

Mit dem historischen Materialismus und der politischen Ökonomie hat Marx die Verhältnisse der Dunkelheit entrissen, Licht auf die Mechanismen geworfen, die den Menschen dem Menschen zu einem Wolf machen. Er warf Licht auf Unterdrückung und Ausbeutung, er zeigte die Ursachen auf, aber vor allem den Ausweg. Denn, so Engels weiter am Grab in Highgate: „Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewusstsein seiner eigenen Lage und seiner Bedürfnisse, das Bewusstsein der Bedingungen seiner Emanzipation gegeben hatte – das war sein wirklicher Lebensberuf. Der Kampf war sein Element. Und er hat gekämpft mit einer Leidenschaft, einer Zähigkeit, einem Erfolg wie wenige.“

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Lesesaal der British Library (Foto: Lars Mörking)

Auf die Erfolge der Arbeiterbewegung zu schauen fällt in Zeiten von Konterrevolution, Krieg und Krise zumindest in Europa manchmal schwer. Diese Schwermut kann der Blick über den Tellerrand kurieren. Antikoloniale, antiimperialstische Bewegungen gilt es zu entdecken und zu analysieren, Schlüsse für die eigenen Kampfbedingungen zu ziehen. Und was würde Marx sagen, könnte er die Volksrepublik China und die entstehende neue Weltordnung sehen? Marx erlebte keine siegreiche Revolution, aber er kannte erste Versuche wie die Pariser Commune und er erkannte die Mechanismen der gesellschaftlichen Entwicklung – und damit den historischen Optimismus, eine der schönsten Eigenschaften des Revolutionärs.

„Und deswegen war Marx der bestgehasste und bestverleumdete Mann seiner Zeit. Regierungen, absolute wie republikanische, wiesen ihn aus, Bourgeois, konservative wie extrem-demokratische, logen ihm um die Wette Verlästerungen nach. Er schob das alles beiseite wie Spinnweb, achtete dessen nicht, antwortete nur, wenn äußerster Zwang da war. Und er ist gestorben, verehrt, geliebt, betrauert von Millionen revolutionärer Mitarbeiter, die von den sibirischen Bergwerken an über ganz Europa und Amerika bis Kalifornien hin wohnen, und ich kann es kühn sagen: Er mochte noch manchen Gegner haben, aber kaum noch einen persönlichen Feind.

Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk!“

Wir trinken das erste Pint auf Marx nicht im nächsten Pub, sondern auf einem Boot auf der Themse auf dem Weg nach Greenwich. Da steht das Observatorium mit dem Null-Meridian. Symbolisch steht es mit seinem in den Boden eingelassenen Metallstreifen nicht nur für eine akkurate Uhrzeit, sondern für die Aufteilung der Welt. Auf dem Weg dahin kann man das proletarischste aller Londoner Arbeiteressen essen: Pie and Mash, bei Goddards nach einem Rezept von 1890. Aber das ist beides eine Geschichte für einen anderen Tag.

Als wir am nächsten Mittag am Bahnhof St. Pancras aus Britannien aus- und in der EU wieder einchecken und den Zug nach Brüssel besteigen, halte ich eine große Schutzhülle im Arm, ein Geschenk von Heiko. Und ich bin bereit, es mit allem, was ich habe, gegen Rempler und damit mögliche Knicke zu verteidigen. Vier Länder und genauso viele Züge später (kaum fährt der Eurostar bei Aachen über die Grenze, geht das Chaos los) atme ich in meiner Wohnung auf. Alles ist heil geblieben. Und in den Redaktionsräumen der UZ hängt jetzt eine Originalausgabe der „New York Tribune“ mit einem Artikel von Marx. Was für ein Geschenk!

Karl Marx Walking Tour
Jeden Sonntag 11 Uhr
Treffpunkt Criterion Theatre/Eros Statue am Piccadilly Circus
20 Pfund
Tour Guides: Heiko Khoo und Mark Bygrave
Karl Marx in Camden
Jeden ersten Sonntag im Monat um 14:30 Uhr, im Anschluss an die Vormittagstour
Treffpunkt Underground-Station Chalk Farm
Alle Infos unter: marxwalks.com

Highgate Cemetry
Swain’s Lane, London N6 6PJ
Eintritt: 10 Pfund, Nur Ostteil (hier liegt Marx): 7 Pfund
Öffnungszeiten:
März bis Oktober
Täglich von 10 bis 17 Uhr
Letzter Einlass um 16:30 Uhr
November bis Februar
Täglich von 10 bis 16 Uhr
Letzter Einlass um 15:30 Uhr
Am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag geschlossen.

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"Auf ein Pint mit Marx", UZ vom 31. Oktober 2025



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