Einige aktuelle Hinweise zur Entwicklung der Partei der Arbeiterklasse

„Auf die große Masse wirken“

Schon in der Geburtsurkunde der Kommunistischen Partei, dem „Kommunistischen Manifest“, betonten Karl Marx und Friedrich Engels zu Beginn ihrer wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit 1848 die Notwendigkeit der Herausbildung einer eigenständigen Kommunistischen Partei, die den Anspruch hat, „theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“ zu haben.

Beide haben keine in sich geschlossene Parteitheorie zu Papier gebracht. Verstreut in ihrem Werk findet sich in den folgenden Jahrzehnten aber eine Fülle von nützlichen Hinweisen für Mitglieder von Parteien, die sich für ihr Wirken auf die Arbeiten der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus berufen.

Aus Niederlagen lernen

Recht kurz nach dem „Manifest“ resümierte Friedrich Engels in seiner Schrift „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“ die Ereignisse von 1848/49, die mit einer Niederlage endeten. Das, so Engels, sei nichts Schlimmes – es komme nicht darauf an, ob, sondern eben auch darauf, wie Bewegungen geschlagen würden: „Eine Niederlage nach schwerem Kampf ist eine Tatsache von ebenso großer revolutionärer Bedeutung wie ein leicht errungener Sieg. Die Niederlagen von Paris im Juni 1848 und von Wien im Oktober haben zur Revolutionierung der Bevölkerung dieser beiden Städte sicher weit mehr beigetragen als die Siege vom Februar und März. Die Versammlung und das Volk von Berlin hätten wahrscheinlich das Schicksal jener beiden Städte geteilt; aber sie wären ruhmvoll unterlegen und hätten in den Herzen der Überlebenden das Verlangen nach Rache hinterlassen, das in revolutionären Zeiten eine der stärksten Triebfedern zu energischem, leidenschaftlichem Handeln bildet.“

Vor allem aber geißelte Engels – als hätte er von heutigen Auseinandersetzungen gewusst – die Fixierung auf Parlamente als den vermeintlichen Nabel der politischen Welt: „Die Linke der Versammlung (gemeint ist die Frankfurter Nationalversammlung – M. S.) – diese Elite und dieser Stolz des revolutionären Deutschlands, wofür sie sich selbst hielt – war förmlich berauscht von den paar armseligen Erfolgen, die sie davongetragen. (…) Diese armseligen Schwachköpfe waren im ganzen Verlauf ihres meist recht obskuren Lebens so wenig an so etwas wie einen Erfolg gewöhnt, dass sie tatsächlich glaubten, ihre lumpigen Amendements, die mit zwei oder drei Stimmen Mehrheit durchkamen, würden das Antlitz Europas verändern. Seit Beginn ihrer parlamentarischen Laufbahn waren sie mehr als jede andere Fraktion der Versammlung von jener unheilbaren Krankheit, dem parlamentarischen Kretinismus, verseucht, einem Leiden, das seine unglücklichen Opfer mit der erhabenen Überzeugung erfüllt, dass die ganze Welt, deren Vergangenheit und deren Zukunft, durch die Stimmenmehrheit gerade jener Vertretungskörperschaft gelenkt und bestimmt wird, die die Ehre hat, sie zu ihren Mitgliedern zu zählen, und dass alles und jedes, was es außerhalb der Mauern ihres Hauses gibt – Kriege, Revolutionen, Eisenbahnbauten, die Kolonisierung ganzer neuer Kontinente, kalifornische Goldfunde, zentralamerikanische Kanäle, russische Armeen und was sonst vielleicht noch Anspruch erheben kann, die Geschicke der Menschheit zu beeinflussen –, dass all das nichts ist im Vergleich mit jenen unermesslich wichtigen Ereignissen, die mit der ausnahmslos bedeutungsvollen Frage zusammenhängen, der das Hohe Haus gerade seine Aufmerksamkeit widmet.“

Die Frage der Einheit

Als dann, Jahrzehnte später, die Konzentration auf das wirkliche Leben und die Kämpfe auf den Straßen, Plätzen und vor allem in den aufblühenden Betrieben Deutschlands das Ergebnis eines steten Wachstums der damals noch an Marx und Engels orientierten, im Entstehen begriffenen Sozialdemokratischen Partei hatte, gab Engels in einem Brief an August Bebel vom 20. Juni 1873 einen ebenfalls bis heute nützlichen Hinweis. Dies war, um ihn in den geschichtlichen Zusammenhang zu stellen, eine Zeit, in der verschiedene sich als sozialistisch betrachtende Parteien um die Köpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter rangen. Damals – auch hier ist die Parallele zu heute verblüffend – führte das bei vielen zu dem Ruf, man solle doch das Streiten lassen und sich einigen. Engels fand das falsch und deutete auf Hegel, der gesagt habe: „Eine Partei bewährt sich dadurch als die siegende, dass sie sich spaltet und die Spaltung vertragen kann.“ Vor allem aber verwies er auf eine Erfahrung aus politischen Kämpfen: „Man muss sich durch das Geschrei nach ‚Einigung‘ nicht beirren lassen. Die dies Wort am meisten im Munde führen, sind die größten Zwietrachtstifter. (…) Diese Einigungsfanatiker sind entweder beschränkte Köpfe, die alles in einen unbestimmten Brei zusammenrühren wollen, der sich bloß zu setzen braucht, um die Unterschiede in weit schärferem Gegensatz wiederherzustellen, weil sie sich dann in einem Topf befinden (…), oder aber Leute, die die Bewegung unbewusst (…) oder bewusst verfälschen wollen. Deswegen sind die größten Sektierer und die größten Krakeeler und Schurken in gewissen Momenten die lautesten Einigungsschreier. Mit niemandem haben wir in unsrem Leben mehr Last und Tuck gehabt als mit den Einigungsschreiern.“

Massenorientierung

Allerdings: Bei aller Bereitschaft zum Streit mit diesen „Einheit!“ krakeelenden Sektierern darf eine Partei, die wie eine kommunistische das große Ziel nie aus den Augen verliert, sich niemals so in den Kämpfen mit diesen Leuten aufreiben, dass die eigentlichen Adressaten aller politischen, wissenschaftlichen und agitatorischen Anstrengungen aus dem Blickfeld gleiten – dazu Engels an gleicher Stelle: „Wenn man sich wie Sie gewissermaßen in einer Konkurrenzstellung zum Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein befindet, so nimmt man leicht zu viel Rücksicht auf den Konkurrenten und gewöhnt sich, in allem zuerst an ihn zu denken. Nun ist aber sowohl der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein wie die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, beide zusammen, immer noch eine sehr kleine Minorität der deutschen Arbeiterklasse. Nach unserer (gemeint sind Marx und Engels selbst – M. S.) Ansicht, die wir durch lange Praxis bestätigt gefunden haben, ist aber die richtige Taktik in der Propaganda nicht die, dem Gegner hie und da einzelne Leute und Mitgliedschaften abspenstig zu machen, sondern auf die große, noch teilnahmslose Masse zu wirken. Eine einzige neue Kraft, die man aus dem Rohen heraus selbst herangezogen hat, ist mehr wert als zehn Lassallesche Überläufer, die immer den Keim ihrer falschen Richtung mit in die Partei hineintragen.“

Der Brief endet übrigens – nach einem Hinweis auf Marx, der zur Zeit sehr überarbeitet sei – mit den Worten: „Dass Sie ihre Gefangenschaft stoisch aushalten und studieren, ist sehr schön. Wir alle freuen uns, Sie nächstes Jahr hier zu sehn. Herzlichen Gruß an L(iebknecht). Aufrichtigst Ihr F. Engels.“

Repression

Ungefähr ein halbes Jahrzehnt später, noch bevor die SPD sich 1890 ihren heutigen Namen gab, war der Aufschwung der sozialdemokratischen Bewegung auch dank der politischen Orientierung an Marx und Engels unübersehbar. Engels hat in diesen Jahrzehnten des Aufschwungs häufig für verschiedene Zeitungen Jahresrückblicke geschrieben, in denen er die Entwicklung kritisch einschätzte. Ein solcher Jahresrückblick über „Die europäischen Arbeiter im Jahre 1877“ erschien im Frühjahr 1878 in mehreren Folgen im New-Yorker „The Labor Standard“. Engels berichtete darin von den hin und her wogenden, durchaus nicht immer siegreichen Kämpfen und notierte die „schnell wachsende Macht“ der deutschen Sozialdemokratie, die in den damaligen Wahlen von Mal zu Mal mehr Stimmen erringe. Er verwies darauf, dass Wachstum und zunehmende staatliche Repression sich durchaus nicht ausschlössen und vertiefte damit den Hinweis am Schluss des oben zitierten Briefes an Bebel: „Der rasche Fortschritt der Arbeiterpartei in Deutschland wird nicht erkauft ohne beträchtliche Opfer auf seiten derer, die dabei eine recht aktive Rolle spielen. Verfolgungen durch die Regierung, Geld- und noch öfter Gefängnisstrafen hageln auf sie nieder, und sie haben sich schon längst dazu entschließen müssen, den größeren Teil ihres Lebens im Gefängnis zu verbringen. Obgleich es sich meistens um kürzere Gefängnisstrafen handelt, von ein paar Wochen bis zu drei Monaten, so sind doch lange Haftzeiten keineswegs eine Seltenheit. So wurden kürzlich, um das wichtige Bergbau- und Industriegebiet von Saarbrücken vor der Ansteckung mit dem sozialdemokratischen Gift zu bewahren, zwei Agitatoren zu je zweieinhalb Jahren verurteilt, weil sie sich auf dieses verbotene Gebiet gewagt hatten. Die elastischen Reichsgesetze bieten für solche Maßregelungen eine Fülle von Vorwänden, und wo sie nicht ausreichen, sind die Richter meist gern bereit, sie bis zu dem Punkt auszudehnen, der für eine Verurteilung erforderlich ist.“

Rolle der Gewerkschaften

Direkt nach diesem Hinweis, der belegt, dass es zur Traditionslinie bürgerlicher Staatsapparate gehört, auf zunehmenden Widerstand mit wachsender Repression zu antworten, verwies Engels auf einen anderen, bis heute aktuellen Aspekt der politischen Arbeit, mit dem wir diese kurze Sichtung von Aussagen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus zu praktischen Fragen der Entwicklung von kommunistischen Parteien abschließen wollen: „Ein großer Vorteil für die deutsche Bewegung ist, dass die Gewerkschaftsorganisation mit der politischen Organisation Hand in Hand arbeitet. Die unmittelbaren Vorteile, die die Gewerkschaften gewähren, ziehen viele sonst Gleichgültige in die politische Bewegung hinein, während die Gemeinsamkeit der politischen Aktion die sonst isolierten Gewerkschaften zusammenhält und ihnen gegenseitige Unterstützung gewährleistet.“

Unser Autor ist Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung und veröffentlicht auf deren Internetseite monatlich unter der Rubrik „Marx Engels aktuell“. Wir haben seinen Beitrag redaktionell geringfügig bearbeitet.

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"„Auf die große Masse wirken“", UZ vom 20. September 2024



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