Der heutige Kampf ist das Entscheidende

Nina Hager im Gespräch mit Ellen Brombacher

UZ: Jedes Jahr am zweiten Sonntag im Januar gehen seit vielen Jahrzehnten Zentausende nach Friedrichsfelde, um Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts und anderer ermordeter Revolutionäre zu gedenken. Sie demonstrierten trotz Verfolgung, trotz des Verbots 1929. Die Faschisten zerstörten die Gedenkstätte. Den Widerstand konnten sie nicht brechen. Seit 1946 wurde die Tradition fortgesetzt. Nach 1990 schien es so, als wäre die Zeit von Demonstrationen nach Friedrichsfelde vorbei. Dem war nicht so. Warum?

Ellen Brombacher ist Mitglied des Bundessprecherrates der Kommunistischen Plattform (KPF).

Ellen Brombacher ist Mitglied des Bundessprecherrates der Kommunistischen Plattform (KPF).

Ellen Brombacher: Wer die Zeit 1989/90 in der DDR politisch bewusst erlebt hat, der erinnert sich daran, dass es seinerzeit nichts in der DDR Verwurzeltes gab, was nicht öffentlich denunziert wurde. Das betraf die Volksbildung ebenso wie das Gesundheitswesen, die Sicherheitsorgane und die SED sowieso; es betraf jegliche politische Manifestation, der Antifaschismus war „verordnet“ und überhaupt taugte nichts etwas, außer dem grünen Pfeil – und der auch nicht gleich. In dieser Situation stand das Bezirkssekretariat der SED/PDS Berlin, dem ich bis Mitte Februar 1990 angehörte, vor der Frage, wie mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration umgegangen werden sollte. Ich sage es unumwunden: Was am 14. Januar 1990 geschehen wäre, hätten sich im Januar 1989 nicht Oppositionelle wie die heutige CDU-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld mit der Losung „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ positiv auf Rosa Luxemburg bezogen, kann wohl niemand sicher sagen. So aber stand ihrer Ehrung nichts Prinzipielles im Wege. Und das war gut so und zeugt davon, dass beinahe jegliches auch seine guten Seiten hat. Natürlich war es nicht denkbar, dass sich das Berliner Bezirkssekretariat an der Brücke Frankfurter Allee trifft und wie zu DDR-Zeiten an der Spitze der Demonstration nach Friedrichsfelde marschiert. Wer das heute abverlangt, hat keine Vorstellung über die seinerzeit herrschende Atmosphäre. Die Idee des stillen Gedenkens wurde geboren und hatte im Sekretariat auch meine Stimme. So wurde eine der wichtigsten Traditionen der kommunistischen und sozialistischen Bewegung in diesem Land bewahrt. Und das, was sich ab S- und U-Bahnhof Lichtenberg hin zum Friedhof der Sozialisten in jenem Januar 1990 vollzog, war letztlich eine Demonstration im Geiste des von Karl Liebknecht geprägten „Trotz alledem“!

UZ: 1996 bildete sich ein neues Demo-Bündnis, das bis heute existiert. Das war ziemlich „bunt“ und manche Konflikte und nötige inhaltliche Debatten waren da – vor allem in den ersten Jahren – programmiert. Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen zu entwickeln, sich aber auch abzugrenzen, war gewiss nicht einfach?

Ellen Brombacher: Es muss etwas früher angesetzt werden. Der heutige Platz der Vereinten Nationen in Berlin hieß Anfang der 90er Jahre noch Leninplatz und in dessen Mitte stand ein Lenindenkmal. Das musste natürlich geschleift werden. Aus Protest dagegen bildete sich ein Leninplatzbündnis, welches dazu aufrief, am Tag der Luxemburg-Liebknecht-Ehrung vom Leninplatz aus nach Friedrichsfelde zu marschieren. Dieser Aufruf fand breite Unterstützung und so demonstrierten 1992 Zehntausende zu den Gräbern von Rosa und Karl. Das wiederholte sich bis einschließlich 1995. In jenem Jahr prügelte die Polizei auf dem Friedhofsvorplatz vor laufenden Kameras in brutaler Weise und das Leninplatzbündnis erklärte hernach, es könne die Verantwortung für die Demonstration nicht länger übernehmen. Als Antwort darauf bildete sich unser heutiges Bündnis. Es war in der Tat nicht einfach, so viele verschiedene Sichten unter einen Hut zu bringen. Die Autonomen sind wirklich etwas anders drauf als z. B. die DKP oder die KPF und Ähnliches lässt sich für andere Parteien und Gruppierungen sagen. Wir haben uns zusammengerauft, nicht zuletzt in Solidarität gegen Druck von außen. Wir haben gelernt, dass Gemeinsamkeiten wichtiger sind als Differenzen und dass Berechenbarkeit eine Grundvoraussetzung für sich entwickelndes Vertrauen darstellt. Unsere Differenzen haben wir nicht nach außen getragen und dass möchte ich auch in diesem Interview so halten.

UZ: Heute kommen viele Menschen mit Familie oder Freunden zum stillen Gedenken. Tausende demonstrieren gemeinsam unter roten Fahnen zur Gedenkstätte der Sozialisten. Vor Jahren war das scheinbar noch ein Widerspruch?

Ellen Brombacher: Vielleicht trifft der Begriff scheinbar nicht ohne weiteres zu. Nachdem sich 1996 das neue Bündnis gebildet hatte, gab es in manchen Vorständen und Fraktionen der damaligen PDS große Vorbehalte. Ich habe einen ganzen Hefter mit Zeitungsartikeln und Reden von teils sehr prominenten Genossinnen und Genossen meiner Partei, die sich an real oder vermeintlich Kritikwürdigem im Rahmen der Demonstration mehr störten als sie den Wert der Demonstration als breite linke Manifestation zu akzeptieren bereit waren. Die Polemik von ihnen war nicht von schlechten Eltern. Wir standen vor der Wahl: Lassen wir uns auf diesen Stil der politischen Auseinandersetzung ein oder ignorieren wir ihn und betonen vielmehr die großen Gemeinsamkeiten derer, die zum stillen Gedenken gehen und derer, die die Form des Demons­trierens wählen. Das Leben gab die Antwort. Wenn die Demonstration sich dem Friedhof näherte, standen die älteren Genossinnen und Genossen, die vom stillen Gedenken kamen, am Straßenrand, klatschten oder erhoben die Faust und sangen mit uns die Internationale. Das war die normative Kraft des Faktischen und es ist längst Normalität, dass seinerzeit die PDS und heute die Partei „Die Linke“ jährlich beschließt, dass die Partei das stille Gedenken, die Demonstration zur Gedenkstätte der Sozialisten sowie die Kranzniederlegung am Landwehrkanal als Bestandteile der Ehrung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht betrachtet und zur Teilnahme an diesen Ehrungsformen aufruft.

UZ: Am 10. Januar 2016 findet die vom Bündnis organisierte Demonstration zum 20. Mal statt. Ich habe da sicher nicht falsch gezählt? Welche – vorläufige – Bilanz würdest du für diese Jahre ziehen?

Ellen Brombacher: Einiges an Bilanz steckt in den vorhergehenden Antworten. Dass die Demonstration faktisch seit 24 Jahren stattfindet ist vielleicht das Wichtigste. Es war ja kein Spaziergang. Es würde zu weit führen, hier im Einzelnen über die Gefährdungen zu berichten, die es gab. Schlimme Prügelorgien durch die Polizei. Erst mit der SPD-PDS-Regierung in Berlin hörte das auf. Ich hatte zu dieser Koalition ein sehr kritisches Verhältnis. Aber man muss ehrlich bleiben. Ich denke an das Verbot der Ehrung 2000, weil ein terroristischer Anschlag angekündigt wurde. Ich denke an die noch nicht lange zurückliegenden Versuche, die Demonstration zu spalten. Das sind bei weitem nicht alle Hürden, die wir zu nehmen hatten. Ohne Solidarität untereinander, ohne Verlässlichkeit und Vertrauen, ohne die Fokussierung auf Gemeinsamkeiten wäre die Demonstration weder 24 noch 20 Jahre alt geworden. Diese Werte müssen wir bewahren – in der gemeinsamen Aktion.

UZ: In diesem Jahr gibt es eine neue Situation. Denken wir an die Fluchtbewegungen oder daran, dass sich Deutschland nun auch am Krieg in Syrien beteiligt.

Ellen Brombacher: Der heutige Kampf ist das Entscheidende. Du hast mir vor allem Fragen zur Geschichte der Demonstration gestellt. Und das ist zweifellos wichtig. Aber entscheidend sind unsere heutigen Kämpfe. Nacht für Nacht stehen Flüchtlingsunterkünfte in Flammen. Faschisten werden immer dreister. Offen rechte Bewegungen wie PEGIDA finden mit Rassismus und Islamhetze regen Zuspruch. Flüchtlinge sind willkommene Sündenböcke.

Darüber, dass Großkonzerne Jahr für Jahr Milliarden an Steuern hinterziehen, spricht kaum jemand. Währenddessen verdienen deutsche Rüstungsschmieden an Waffenexporten in Krisen- und Kriegsgebiete. Bundeswehrsoldaten „verteidigen“ deutsche Interessen immer noch am Hindukusch und andernorts. Kriege und Ausbeutung schaffen unentwegt neue Fluchtbewegungen und neuen Terror.

Demonstrieren wir am 10. Januar 2016 im Rahmen der Luxemburg-Liebknecht-Ehrung gegen die Fluchtursachen und gegen Faschisten – solidarisch mit den Erniedrigten, egal, wo sie geboren sind. Wir müssen viele werden!

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Der heutige Kampf ist das Entscheidende", UZ vom 25. Dezember 2015



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