Die AfD hat Auftrieb. Sie ist die Partei jener im deutschen Bürgertum, die für politischen Mord offen sind

Dialektik der Konterrevolution

Kolumne

Am Sonntag verfehlte der Jurist und AfD-Kandidat Robert Sesselmann (1973 in der DDR geboren), der unter Fraktionschef Björn Höcke im Thüringer Landtag sitzt, mit 46,7 Prozent knapp die absolute Mehrheit bei der vorgezogenen Landratswahl im thüringischen Sonneberg. Der CDU-Kandidat und amtierende Landrat Jürgen Köpper erreichte 35,7 Prozent. Am Montag setzten sich Grüne, Linkspartei, SPD und FDP für Köppers Erfolg in der Stichwahl am 25. Juni ein.

Die AfD ist eine Formation, wie sie in der BRD seit deren Gründung unter wechselnden Parteinamen stets existierte, zumeist aber von CDU/CSU und FDP aufgesogen wurde. Dazu sind diese drei nicht mehr in der Lage. Im Krisen- und Kriegskapitalismus des vergangenen Vierteljahrhunderts vertritt die AfD das, was die aggressivsten Teile der BRD-Bourgeoisie stets durchsetzten, nun aber durch die „Altparteien“ allein nicht mehr gewährleistet sehen: Die autoritäre Formierung der Gesellschaft im Zeichen des nationalistischen, totalitären Antikommunismus, der die BRD seit ihrer Gründung prägte.

Teilweiser Verlust der Führungskraft einer imperialistischen Bourgeoisie ist nichts Neues. Mit der Konterrevolution von 1990/1991 in den sozialistischen Ländern Europas und der Sowjetunion kam den Herrschenden der Hauptfeind abhanden. Nationalisten und Faschisten krochen aus ihren Löchern, in denen sie sich vor dem Kommunismus versteckt hatten. In der antikommunistischen Stimmung konnten sie sich als Unterdrückte inszenieren. Nationalismus und Faschismus wurde nicht nur in Deutschland gebraucht, um die Konterrevolution ideologisch zu vollenden.

Während marxistische und klassenkämpferische Positionen zurückgedrängt wurden, breiteten sich Parteien aus, die sich bewusst auf faschistische „Vorbilder“ beziehen und diese somit wieder salonfähig machten. In Frankreich wurde die letzte Präsidentschaftswahl hochstilisiert zu einer Wahl zwischen Demokratie oder Marine Le Pen. Jetzt regiert der Demokrat im Elysee-Palast mit Notverordnungen und zieht die Rentenreform gegen sein Volk durch. In Österreich, der Slowakei, den Niederlanden, Schweden, Ungarn, Polen, den baltischen Republiken, vor allem aber in der Ukraine regieren ebensolche Kräfte oder wurden zumindest an der Regierung beteiligt.

In Italien, heute regiert von der Faschistin Giorgia Meloni, war die Entwicklung besonders beständig. Einer, der sie vorantrieb, der ehemalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi, ist in dieser Woche gestorben – eine Träne sollte ihm niemand nachweinen.

Die gleichen Medien, die sich über Sesselmann empören, sind diejenigen, die seit Jahren Berlusconi verharmlost haben. Sie sind diejenigen, die Geschichtspolitik in diesem Geist in den baltischen Republiken und der Ukraine bagatellisieren. Dort zeigt das „Verteidigungs“ministerium nun Bilder deutscher „Leopard“-Panzer mit Bandera-Fahne.

Die NATO hat unter Einsatz dieser ideologischen Instrumente Westeuropa, vor allem aber Osteuropa ideologisch formiert. Der NATO-Krieg gegen Russland ist eine direkte Konsequenz der Konterrevolution von 1990/1991. Ideologisch getragen werden Aufrüstung und der Feldzug hierzulande von SPD, CDU/CSU, Grünen, FDP und großen Teilen der Linkspartei – nicht von der AfD. Diese ist allerdings meisterlich darin, populäre Themen aufzugreifen, von sozialer Gerechtigkeit bis Frieden. Das gelingt ihr dort, wo ihr der Platz dafür geräumt wurde, wo fortschrittliche Kräfte nicht mehr die Interessen der Mehrheit vertreten.

Wenn die AfD nun „Frieden“ proklamiert, lässt sie zugleich von ihrem Engagement für NATO, Bundeswehr und Großkapital nicht ab. Ihre Funktion ist derzeit, diejenigen an das System zu binden, die von den anderen Parteien gegen den Kapitalismus aufgebracht wurden.

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"Dialektik der Konterrevolution", UZ vom 16. Juni 2023



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