Repression, Integration und „Social Media“

Digitale Streikwarnungen?

Tim Laumann

Der kommunistische Liedermacher Franz Josef Degenhardt schrieb ein „Lehrstück“ über die Kommunistin Natascha Speckenbach. Diese organisierte Widerstand gegen eine Akkordsteigerung ihrer Kolleginnen. Als Reaktion auf die ersten Kämpfe der Arbeiterinnen schickte der Boss Psychologen von der „Schöner Arbeiten AG“, die die Halle anders malern ließen und Musik beschafften, damit die Stückzahl erhöht werden konnte. Das verfing natürlich bei Natascha und ihren klassenbewussten Kolleginnen nicht, denn die kannte ja „Marx und Engels und wie man’s richtig macht“. Als das nicht verfing, schickte der Kapitalist den Werkschutz.

Und heute? Die „FAZ“ berichtet, dass mit einer Software namens „Predictive Risk Intelligence“ (kurz PRI) Daten aus Tageszeitungen und anderen Quellen, vor allem aber Social-Media-Daten ausgewertet werden, um Risiken vorherzusagen. Ursprünglich sei PRI eine Form der Datenanalyse, die Unternehmen zum Management von Lieferketten einsetzten. Der Anbieter behaupte aber auch, dass die Software Streiks vorhersagen könne: „PRI-Anbieter sammeln große Datenmengen (etwa Postings auf Seiten wie Twitter oder Facebook), werten sie aus und können so ziemlich genau vorhersagen, wann und wo es zu Störungen der Lieferkette durch Streiks oder Proteste kommt.“ Das ermöglicht dem Unternehmen, frühzeitig zu reagieren. Beschweren sich also Hafenarbeiter online über Lohnausfall oder Überstunden, ist, wenn der Streik dann ausgerufen wird, die Ladung längst auf die Schiene verlegt.

Mit den Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen Revolution wird die Ware Arbeitskraft durch längere und teurere Ausbildung teurer und die Arbeiterklasse insgesamt, weil sie näher an den Schalthebeln der Macht sitzt, potenziell mächtiger. Damit wird die Einbindung der Arbeiter immer wichtiger, gerade bei denen, die mit dem Kopf arbeiten. In Zeiten mit einem für die Arbeiterklasse vorteilhaften Kräfteverhältnis funktioniert das per Integration, also durch Formen der indirekten Steuerung, durch eine „Humanisierung der Arbeitswelt“, wie SPD und DGB das einst ausdrückten. Eine Studie des IMSF kam schon 1974 zu dem Schluss, dass sich hinter der „Humanisierung“ die Integration und auch die Repression und die Überwachung verbarg. In den großen Staatskonzernen wurde die Überwachung sogar amtlich gefordert, die Berufsverbote ließen grüßen. Mit der Verschlechterung der Kräfteverhältnisse, dem Rechtsschwenk der Sozialdemokratie und der Schwäche der revolutionären Teile der Arbeiterbewegung konnte nun durchregiert werden und Kontrolle ersetzte die Integration.

Die Repression hat verschiedene Gesichter. In dem Buch „Die Fertigmacher“ beschreiben Werner Rügemer und Elmar Wiegand, wie „Union busting“ bereits sehr früh auch mittels elektronischer Kontrolle arbeitete und dazu Social-Media-Postings ausgewertet wurden. Skandale wie die Überwachung einer Toilette mit Kameras oder die Kündigung eines Betriebsrates im mittelhessischen Gießen wegen eines Posts, in dem die Tradition deutscher Konzerne inklusive der Finanzierung und Hervorbringung des deutschen Faschismus zutreffend beschrieben wird, sind nur aktuell vorfindliche Beispiele.

Lenin schrieb einst, dass die Bourgeoisie zwei Herrschaftsformen kenne – Repression und Integration –, die fast immer gemeinsam und als Mischform auftreten würden. Manipulation und Kontrolle bis hin zur Spionage sind folglich Formen dieser Herrschaft. Formen allerdings, an denen etwas deutlich werden kann. Kämpfe gegen Überwachung und Manipulation können Anknüpfungspunkte bieten zur Entwicklung von Klassenbewusstsein.

Degenhardts Natascha Speckenbach lässt die Lampenprüferinnen zur Musik tanzen, den Ausschuss vermehren, die Psychologenspielchen bis zur Erhöhung des Ausschusses weiterspielen. Den Werkschutz verprügelte schon die gesamte Belegschaft. „Aber was noch sehr viel wichtiger ist, zwölf Frauen gehen jetzt wöchentlich zu der Natascha Speckenbach, mit Haaren wie Tomatensaft, und lesen Marx und Engels und Lenin, und wie man’s richtig macht.“

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"Digitale Streikwarnungen?", UZ vom 3. Juni 2022



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