Zum China-Antrag des Parteivorstandes zum 25. Parteitag der DKP

Diskussionsbetrag von 27 Genossinnen und Genossen

Dem 25. Parteitag der DKP liegt der Antrag „Die VR China, ihr Kampf um den Aufbau eines modernen sozialistischen Landes und die Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse“ des Parteivorstands vor. In der UZ-Ausgabe 46 vom 18. November haben wir diesen Antrag vorgestellt und Fragestellungen für die Diskussion umrissen und damit die Diskussionstribüne eröffnet. Die bisher veröffentlichten Debattenbeiträge und andere wichtige Texte zum Thema finden sich unter unsere-zeit.de/china-debatte

27 Genossinnen und Genossen aus unterschiedlichen Bezirken und Landesorganisationen haben am 8. Dezember einen gemeinsamen Diskussionsbeitrag zum China-Antrag verbreitet. Der Beitrag enthält wichtige Argumente für die Diskussion, sprengt aber den Rahmen der Diskussionstribüne in der UZ. Die 27 Autorinnen und Autoren werfen dem Parteivorstand unter anderem vor, die Debatte zu China, wie vom 23. Parteitag beschlossen, nicht organisiert zu haben. Sie sehen in dem Antrag zu China den Versuch, in der DKP neue Sozialismusvorstellungen ohne umfassende Diskussion und ohne Transparenz durchsetzen zu wollen, die im Widerspruch zum Parteiprogramm stünden. Das Sekretariat des Parteivorstandes hat sich unter der Überschrift „Die Debatte hart in der Sache führen – aber ohne Unterstellungen“ ebenfalls schriftlich zu diesen Vorwürfen geäußert. Beide Dokumente sind unter unsere-zeit.de/china-debatte nachzulesen.

In der UZ werden wir die Diskussionstribüne auch im kommenden Jahr fortsetzen. Beiträge zur Debatte sollten 4.000 Zeichen nicht überscheiten und gehen an debatte@unsere-zeit.de.

Diskussionsbeitrag zum Antrag des Parteivorstandes an den 25. Parteitag der DKP „Die VR China, ihr Kampf um den Aufbau eines modernen sozialistischen Landes und die Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse“

Von: Esther Bender, Oslo; Dorothea Bittner-Roshankar, Hamburg; Maurizio Caffo, Frankfurt; Marius Dornemann, Düsseldorf; Elke Dunkhase, Berlin; Helmut Dunkhase, Berlin; Anne Franz, Essen; Georg Fülberth, Marburg; Theodor Godomski, Frankfurt; Florian Hainrich, Kiel; Harald Humburg, Hamburg; Heide Humburg, München; Heiko Humburg, Hamburg; Inge Humburg, Hamburg; Jella Humburg, Hamburg; Johannes Hör, Essen; Andrea Hornung, Frankfurt; Konni Kanty, Trier; Jürgen Lloyd, Krefeld; Olaf Matthes, Essen; Jan Meier, Frankfurt; Daniel Polzin, Köln; Paul Rodermund, Essen; Carol Schröder, Bottrop; Jonas Schwabedissen, Essen; Mark Szau, Siegen; Arne Winter, Flensburg; Jonas Vogt, Magdeburg; Lucas Zeise, Frankfurt

Der China-Antrag des Parteivorstandes (PV) will die Partei auf eine positive Wertung des Weges der chinesischen „Reform und Öffnung“ festlegen. Der Antrag äußert sich grundsätzlich dazu, was eine sozialistische Gesellschaft ausmacht – und bricht, ohne das klar zu sagen, mit den bisherigen Sozialismusvorstellungen unserer Partei. Zur Entwicklung in China enthält er unbelegte und falsche Behauptungen. Er wertet die Errungenschaften der chinesischen Revolution bis zum Beginn der Reformen herab. Er distanziert sich indirekt von den Erfahrungen der sozialistischen Industrialisierung in der Sowjetunion. Der PV hat der Partei keine Möglichkeit gegeben, diese Fragen in Vorbereitung des 25. Parteitages ernsthaft zu diskutieren – obwohl ihn der 23. Parteitag beauftragt hatte, diese Debatte zu organisieren. Das ist der Grund für diesen Diskussionsbeitrag zu folgenden fünf Punkten: zur Organisation der Debatte, zum Bild der sozialistischen Gesellschaft im Antrag, zu den Erfahrungen des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR und China, zur chinesischen Entwicklung seit 1978 und zu unseren Aufgaben im Kampf gegen imperialistische Kriegspolitik und antichinesische Hetze.

Natürlich wissen wir, dass dieser Text – der gerne an Genossinnen und Genossen weitergegeben werden kann – keine abschließenden Antworten auf die diskutierten Fragen geben kann. Wir freuen uns über kritische Rückmeldungen und wir sind insbesondere gerne bereit, unsere Position auf Diskussionsveranstaltungen von Parteigliederungen zu vertreten.

Organisierte Debatte?

Der 23. Parteitag hat den PV beauftragt, die Debatte über China zu organisieren.1 Im Juni hat der PV dazu eingeschätzt: Die „Debatte hat nicht stattgefunden, bis auf [eine] kurze Leserbrief-Debatte in der UZ“2. Auf der PV-Tagung im November behauptete Patrik dann das Gegenteil – ohne dass es im Zeitraum Juni bis November weitere zentrale Materialien, bundesweite oder zumindest regionale Konferenzen, Diskussionsforen o. Ä. gegeben hätte. Stattdessen gab es kurzfristig ein Pressefest zu organisieren, richtigerweise kein Zeitpunkt für intensive innerparteiliche Diskussionen. Der PV hat ferner beschlossen, eine gesonderte Konzeption3 zu erarbeiten, um die Debatte zu organisieren, und Wera hat im Referat4 eine Diskussionstribüne in der UZ angekündigt. Diese Ankündigungen und damit auch den Beschluss des 23. Parteitages hat der Parteivorstand nicht umgesetzt. In den Medien der Partei kamen kritische Stimmen nicht zu Wort. Dass es jetzt noch eine UZ-Debatte gibt, ist gut. Sie kann aber eine vom PV organisierte Debatte, in der die Kontroversen klar herausgearbeitet werden, nicht ersetzen. Die kurzen Beiträge der Diskussionstribüne können die historischen und theoretischen Fragen, um die es geht, höchstens anreißen

Und die Debatte kommt zu spät: Der PV hat seinen Antrag zwei Monate vor dem Antragsschluss am 15. Dezember verschickt, eine Diskussion nach Antragsschluss kann so nicht mehr in Vorschläge an den Parteitag umgesetzt werden. Und dies, obwohl der PV sogar ankündigte: „Die Diskussion und Beschlussfassung [zum China-Antrag] ist Teil der Arbeit an der Weiterentwicklung der Programmatik der DKP“5. Gerade weil es in der Debatte zum China-Antrag auch um programmatische Fragen geht, um unsere Sozialismusvorstellungen, brauchen wir eine besser organisierte, gründlichere Debatte, als jetzt vor dem Parteitag möglich ist.

Allerdings hat Patrik auf der PV-Tagung im Juni 2021 das Referat „Herausforderungen und Probleme beim Aufbau des Sozialismus“6 gehalten, das auch als Bildungsmaterial für die Gruppen aufbereitet worden ist. Dieses deutet die veränderte Auffassung darüber bereits an, was die sozialistische Gesellschaft ausmache, die im theoretischen Teil des China-Antrages ausformuliert ist. Das Referat spricht diese neue Auffassung allerdings nicht ausdrücklich aus. Um die Debatte zu organisieren, wäre die Parteiführung in der Verantwortung gewesen, die Unterschiede zwischen dieser neuen Sozialismusauffassung und der, die in unseren bisherigen Parteiprogrammen festgehalten ist, herauszustellen und zu erklären.

Wir wollen und können anderen Parteien nicht vorschreiben, was sie zu tun haben. Das wäre anmaßend und falsch. Wir sollten auch keine Noten für andere Kommunistische Parteien vergeben. Aber was aus unserer Sicht das Wesen der sozialistischen Gesellschaft ausmacht, das müssen wir für uns selbst klären.

Neue Erkenntnisse über den Sozialismus?

Der PV-Antrag benennt die Produktivkraftentwicklung als Hauptaufgabe des Sozialismus. Diese Feststellung könnte eine Binsenweisheit sein. Wenn eine Gesellschaftsformation die andere ablöst, setzt sich die neue eben durch, weil die alten Produktionsverhältnisse zu einer Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden waren. Das ist keine Besonderheit des Sozialismus. Sozialismus bedeutet: Auflösung des Widerspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, Entwicklung der Produktivkräfte auf dieser neuen Grundlage. Trotzdem nennt der Antrag die Formel von der „Hauptaufgabe des Sozialismus“ gleich dreimal (Z. 65, 99 und 134-135) – und legt den Eindruck nahe, dass Marktelemente und Privatunternehmen nötig sind, um dieses Ziel zu erreichen. Warum wird das dann nicht klar und deutlich so gesagt? Natürlich muss man Theorie verändern, wenn es neue praktische Erfahrungen gibt, die das erforderlich machen. Aber das erfordert dann eine umfassende Analyse aller sozialistischen Gesellschaften und ihrer Entwicklung.

Bisher war die DKP der Auffassung, dass gerade die kapitalistische Produktionsweise mit ihrer zentralen Bedeutung von „freien“ Märkten, doppelt freien Lohnabhängigen und der Freiheit für das Kapital, mit der Tendenz alles zur Ware zu machen, die Produktivkräfte nicht mehr entwickeln kann, ohne sie in Destruktivkräfte zu verwandeln.

Bisher waren wir der Auffassung, dass gerade die gesellschaftliche Planung auf Basis des gesellschaftlichen Eigentums an den wesentlichen Produktionsmitteln in Verbindung mit der Herrschaft der Arbeiterklasse der Weg ist, um die Produktivkräfte von ihren Fesseln zu befreien.

Bisher sind wir in unserem Parteiprogramm davon ausgegangen, dass der Sozialismus die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft ist.7 Unserem Programm zufolge ist diese Phase gekennzeichnet durch „das gesellschaftliche Eigentum an allen wichtigen Produktionsmitteln, an den Finanzinstituten und Naturressourcen“ 8. Des Weiteren heißt es: „An die Stelle der chaotischen, auf Profitinteressen ausgerichteten, von Krisen geschüttelten kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft tritt eine nach wissenschaftlichen Kriterien gemeinschaftlich und verantwortungsbewusst geplante, von Solidarität getragene Produktionsweise“ 9. Der Antrag lehnt sich jedoch an die bekannte Formel Walter Ulbrichts an, der Sozialismus sei eine relativ eigenständige Gesellschaftsformation. Heißt das, dass der PV möchte, dass wir als Partei diese Sicht übernehmen? Dann sollte er das so auch sagen und begründen.

Von den hier skizzierten grundlegenden Kennzeichen hat sich China durch den sogenannten Reformprozess immer weiter wegentwickelt. Die wichtigen Produktionsmittel sind teilweise oder vollständig in der Hand von Kapitalisten und auch die verbliebenen staatlichen Unternehmen müssen sich am Markt behaupten und am Profitprinzip orientieren. Marktgesetze und Gesetze der Kapitalakkumulation setzen sich hinter dem Rücken der Produzenten durch – damit ist eine Wirtschaftsplanung unmöglich. Die Arbeiterklasse wird ausgebeutet, der Mehrwert privat angeeignet.

Trotzdem charakterisiert der PV-Antrag China eindeutig als sozialistisch.10 Er vermittelt so den Eindruck, als seien gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln, Befreiung von der Ausbeutung und Wirtschaftsplanung keine wesentlichen Merkmale des Sozialismus und die Produktivkräfte entwickele am besten der Markt, nicht der Plan.11 Das ist ein Bruch mit unserer bisherigen Auffassung.

Planwirtschaft gescheitert?

Der Antrag enthält knappe Bemerkungen im Zusammenhang mit den Erfahrungen, die in der Sowjetunion und in China bis 1978 im sozialistischen Aufbau gemacht wurden. Diese Bemerkungen zeichnen ein verzerrtes Bild der wirklichen Entwicklung. Im Antrag heißt es: „[Der Sozialismus muss] gegen die vielfältigen Angriffe des Imperialismus verteidigt werden, was etwa während des Zweiten Weltkriegs die absolute Priorität hatte. Um diese Aufgaben zu meistern, waren und sind die Kommunistischen Parteien auch zu Kompromissen mit dem Klassenfeind gezwungen. Dazu zählt die Zulassung von kapitalistischem Eigentum in sozialistischen Ländern“12 . Anders gesprochen: Um „Aufgaben“ wie die Verteidigung im Großen Vaterländischen Krieg zu „meistern“, waren die Kommunistischen Parteien – also hier die KPdSU – zu Kompromissen „gezwungen“, wie etwa der „Zulassung von kapitalistischem Eigentum“. Damit verdreht der Antrag die Geschichte: Gerade weil die Sowjetunion sich auf den imperialistischen Angriff vorbereiten musste, war sie dazu gezwungen, den Aufbau der Schwerindustrie zu forcieren – und das war nur möglich, indem sie Industrie und Landwirtschaft sozialistisch gestaltete, die Planwirtschaft entwickelte und das kapitalistische Eigentum abschaffte.

In dieselbe Richtung argumentiert Patrik in seinem Referat „Herausforderungen und Probleme beim Aufbau des Sozialismus“. Er spricht über die NÖP und dass es damals nötig gewesen sei, kapitalistisches Unternehmertum zuzulassen – um dann zu behaupten: „Andere Versuche [als die NÖP], die notwendige Produktivitätssteigerung durch Kampagnen zu erringen, waren meist nicht von Erfolg gekrönt. Ein Beispiel dafür sind die Erfahrungen der chinesischen Kommunistinnen und Kommunisten mit dem ‚Großen Sprung nach vorn‘“13. Was ist mit der „Kampagne“ der ersten Fünfjahrespläne in der Sowjetunion? War sie „nicht von Erfolg gekrönt“? Die Industrialisierung der Sowjetunion konnte nur auf sozialistischem, planwirtschaftlichem Wege erreicht werden.

Mit der NÖP konnte die Rekonstruktion der Wirtschaft nach Weltkrieg und Bürgerkrieg erreicht werden, danach stieß sie an ihre Grenzen14 – auch daran zeigt sich, dass sie eine Erscheinung der Übergangsperiode war. 15 Die größten wirtschaftlichen Erfolge haben die Völker der sozialistischen Länder gerade da erreicht, wo sie sich auf die eigene, bewusste und planmäßige Anstrengung gestützt haben – und nicht darauf, dass Privatunternehmer die Produktivkräfte angeblich besser entwickeln könnten. Der „Große Sprung“ in China brachte auch Rückschläge mit sich. Der planwirtschaftliche sozialistische Aufbau der chinesischen Wirtschaft bis 1978 war insgesamt aber sehr wohl „von Erfolg gekrönt“: Von 1952 bis 1978 verdreifachte sich das BIP, das chinesische Volk konnte seinen Lebensstandard enorm verbessern. Das sieht der Parteivorstand anscheinend anders: „Die Einführung der ,sozialistischen Marktwirtschaft‘ […] hat […] zu einer stürmischen Entwicklung der Produktivkräfte geführt. Das Agrarland China wurde in historisch kurzer Zeit auf den Weg zu einem modernen Industrieland gebracht, das weltweit Spitzenleistungen in Forschung und Entwicklung vorzuweisen hat“16. Und: „Festzuhalten ist jedoch, dass sie [die Reform und Öffnung seit 1978] die Voraussetzungen für den rasanten ökonomischen Aufstieg Chinas geschaffen hat und damit hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit werden konnten“17. Die Reform von 1978 hat zu einer stürmischen Entwicklung der Produktivkräfte geführt, die Reform hat die Voraussetzungen für den ökonomischen Aufstieg geschaffen? War also der wirtschaftliche Aufbau nach dem Sieg der Revolution von 1949 bis 1978 weitgehend erfolglos? Der Antrag ignoriert die gewaltigen Errungenschaften, die das chinesische Volk in dieser Zeit erreicht hat. 18 Die Widersprüche der alten Gesellschaft und die besonderen nationalen Bedingungen hatten China trotz sehr niedrig entwickelter Produktivkräfte zum Sozialismus gedrängt. Der sozialistische Aufbau hat die Voraussetzungen geschaffen, die den Kurs der Reform und Öffnung ermöglichten – die Unternehmen, die die Marktreformer privatisiert haben, waren auf planwirtschaftlichem Wege aufgebaut worden.

Chinas Arbeiterklasse: Ausgebeutet und herrschend?

Der Antrag behauptet, er verschließe die Augen nicht vor den mit den Marktreformen verbundenen Widersprüchen.19 Eine sachliche Analyse würde bedeuten, diese Widersprüche zumindest zu benennen – das leistet der Antrag nicht.

Natürlich ist ein Parteitagsantrag kein wissenschaftlicher Aufsatz, der für seine Einschätzungen umfassende Belege anführt. Allerdings hat die Parteiführung die nötigen Belege auch an anderer Stelle nicht vorgelegt. Der Antrag enthält eine Reihe von Behauptungen, die erst in einer gründlichen Debatte überprüft werden müssten, bevor der Parteitag begründet darüber entscheiden könnte. Ein Beispiel: Der Antrag behauptet: „Sie [die KPCh] hält die Kommandohöhen der Wirtschaft und die Macht im Staat“20. Weder im Antrag noch in anderen Beiträgen der Parteiführung wird das genauer ausgeführt – es wird nicht einmal gesagt, was die „Kommandohöhen“ einer modernen Wirtschaft sind oder was es bedeutet, sie zu „halten“.

Wenn wir der chinesischen Gesellschaft einen sozialistischen Charakter oder eine „sozialistische Orientierung“ zuschreiben wollen, müssen wir analysieren, welche grundsätzlichen Tendenzen in der gesellschaftlichen Entwicklung sichtbar werden. Aber diese Tendenzen führen weg von der sozialistischen Gesellschaft, die das chinesische Volk bereits aufgebaut hatte. Sie widersprechen dem, was wir auf Grund unserer Weltanschauung und der historischen Erfahrungen der sozialistischen Länder als Sozialismus ansehen.

Die Reform und Öffnung war im Sinne ihrer Betreiber erfolgreich, weil die chinesische Führung die große Gelegenheit genutzt hat, die ihr die Krise in den imperialistischen Zentren und der Übergang zum Neoliberalismus geboten haben: Sie hat einen großen Teil der industriellen Fertigung, der aus den Zentren verlagert wurde, nach China geholt und China zur „Werkbank der Welt“ gemacht. Der große Vorteil, den China im Wettbewerb um Aufträge und Investitionen aus dem Ausland ausgespielt hat, war die riesige Masse billiger Arbeitskräfte, die als Wanderarbeiter in die Städte kamen und die dort bis heute einen auch politisch diskriminierten, schlechter gestellten Teil der Arbeiterklasse bilden. 21 Durch die Marktreformen ist die alte, sozialistische soziale Sicherung zerschlagen worden, bis heute ist die neue, marktwirtschaftliche Sozialversicherung lückenhaft und ungleich. Die Reform hat die Arbeitskraft zur Ware gemacht. Der Antrag des PV teilt mit, es handele sich um eine Entwicklung „mit nur geringen und kurzfristigen sozialen Auswirkungen“22.

Auf der anderen Seite hat sie eine neue Klasse von Kapitalisten hervorgebracht, oft aus den Reihen der Kader der KPCh. Reform und Öffnung hat bedeutet: massenhafte Entlassungen auch in Staatsbetrieben, massenhafte Privatisierungen von Staats- und Kollektivbetrieben. Die Korruption, die die KPCh heute bekämpft, ist erst durch diese oft chaotischen Privatisierungen und durch die neue soziale Spaltung der Gesellschaft entstanden. Nach der Zahl der Beschäftigten, dem Kapital und dem Anteil am BIP überwiegen die Privatunternehmen in China seit langem über die Staatsbetriebe, zudem wächst die private Wirtschaft schneller als die staatliche. 23 Nach den Beschlüssen der KPCh soll China immer weiter für den Markt geöffnet.24 Die staatlichen Rahmenpläne sind dabei nicht mit bspw. den sowjetischen oder kubanischen Plänen vergleichbar. Sie orientieren sich vielmehr an japanischen Vorbildern25 und haben den Charakter staatsmonopolistischer Planung.

Der Antrag nimmt anscheinend an, dass der gesellschaftliche Überbau in China über Jahrzehnte unabhängig von der wirtschaftlichen Basis einen sozialistischen Charakter erhalten könne. Das widerspricht sowohl den bisherigen Erkenntnissen des Marxismus als auch den politischen Entwicklungen in China.

Der Antrag schätzt ein, dass die chinesischen Kapitalisten nicht die politische Macht hätten26, die KPCh habe verhindert, „dass sich die Bourgeoisie in eine Klasse für sich entwickelt“27. Die Marktreformer haben die Partei jedoch für Kapitalisten geöffnet, gerade unter den größten Kapitalisten ist der Anteil der Parteimitglieder besonders hoch. 28 Parteiorganisationen in Privatunternehmen werden oft auf Initiative des Inhabers gegründet, der sich in vielen Fällen auch als Parteisekretär wählen lässt.29 Unternehmer sitzen in Volkskongressen und lassen sich zu Parteikongressen delegieren, lokale Kader werden oft zu Unternehmern, Unternehmer knüpfen Netzwerke in der Partei, Unternehmerverbände schlagen Gesetze vor. 30 Das chinesische Kapital ist eine politische Kraft – aber nicht in Opposition zur KPCh, sondern mit ihr verflochten.

Der Antrag verweist auf das von der KPCh angekündigte Jahrhundertziel, bis 2049 China zu einem modernen sozialistischen Land zu machen. 31 Allerdings bedeutet „sozialistisch“ im heutigen Verständnis der KPCh nicht, dass dann das Eigentum privater Unternehmer eingeschränkt werden müsse. Seit 2004 garantiert sogar die Verfassung der Volksrepublik, dass das Privateigentum unverletzlich ist. Unter Xi Jinping betont die KPCh die Rolle des Marktes und des privaten Unternehmertums noch stärker als zuvor.32 Das, was der Antrag unter der Überschrift „Klassenkämpfe in China“ beschreibt, hat wenig mit den wirklichen Klassenkämpfen in China zu tun.

China als Prüfstein?

Für unser Eingreifen in der zentralen Frage unseres Klassenkampfes hierzulande – dem Kampf gegen die Kriegsgefahr – wäre es gut, wenn wir eine konsistente Einschätzung der Produktionsverhältnisse, der Außenwirtschafts- und Außenpolitik Chinas hätten. Da wir das nicht haben, müssen wir diese Diskussion auch gerade deswegen zügig vorantreiben. Aber wir sind deshalb im Kampf für den Frieden hierzulande trotzdem nicht handlungsunfähig.

Unsere Aufgabe ist es, den Widerstand gegen die Politik des deutschen Imperialismus und seiner Verbündeten zu organisieren. Die USA betreiben die ökonomische, politische und militärische Konfrontation mit China besonders aggressiv, um ihren Niedergang als Großmacht aufzuhalten. Die Bundesregierung hat lange versucht, sich zwischen den USA und China zu positionieren: Am chinesischen Markt profitieren, aber mit den US-Verbündeten den politischen Aufstieg Chinas verhindern. Besonders die Grünen stehen dafür, den Kurs des deutschen Imperialismus zu schärferer Konfrontation mit China zu verändern.

Die antichinesische Hetze hat dabei eine wichtige Funktion. Die Konzernmedien empören sich über „Menschenrechtsverletzungen“ in Xinjiang, die chinesische Politik gegenüber Taiwan und den Anrainerstaaten des südchinesischen Meeres und über die „Schuldenfalle“, in die China andere Länder treibe. Sie schüren Angst vor chinesischen Investoren und zeichnen ein oft rassistisches Bild von den fleißigen und gehorsamen Chinesen, die massenhaft in Konkurrenz zu deutschen Beschäftigten treten. Damit begründen sie, warum der Staat deutsche Unternehmer mit öffentlichem Geld unterstützen muss, warum die Völker des Balkans oder Afrikas für die westliche Vorherrschaft dankbar sein können, warum Beschäftigte auf erkämpfte Rechte verzichten sollen, warum deutsche Kriegsschiffe in Südostasien patrouillieren müssen. Weder für Kommunisten noch für unsere Bündnispartner ist der Prüfstein dabei das Verhältnis zur Volksrepublik China. Der Prüfstein ist der Widerstand gegen die Aufrüstung und außenpolitische Zuspitzung, die Ausbeutung anderer Länder, die Profitmacherei und die ideologische Mobilmachung des deutschen Imperialismus.

Der China-Antrag des PV bleibt bei der Frage, was die Orientierung der Partei gegen die antichinesische Formierung ist, weitestgehend im Allgemeinen. Wir können dieser Propaganda entgegentreten, ohne China als Modell anzupreisen. Unsere Aufgabe ist es, die antichinesischen Behauptungen zurückzuweisen und über die Expansions- und Konfrontationspläne des deutschen Imperialismus und seiner Verbündeten aufzuklären – und damit die Friedensbewegung und die kämpferischen Kräfte in den Gewerkschaften zu stärken.


1 „Der Parteivorstand wird beauftragt, die im Vorfeld des 23. Parteitages begonnene Debatte in der Partei um die Volksrepublik China, ihre Errungenschaften, aber auch die Problematiken des von ihr eingeschlagenen Weges fortzuführen und zu organisieren. Dabei sollen auch Vertreter der Botschaft der Volksrepublik China mit einbezogen werden.“ DKP: Debatte um die Volksrepublik China. Beschluss des 23. Parteitags der DKP, 28.2.- 1.3.2020, https://dkp.de/wp-content/uploads/2020/03/23.Parteitag_Beschluss_Debatte-um-die-Volksrepublik-China.pdf , Stand: 04.12.2022.

2 DKP-Parteivorstand: Weiterführung der China-Debatte. Beschluss der 1. PV-Tagung, 9./10.4.2022, in: DKP Intern 2022, Nr.5, S. 45–46.

3 Ebd.

4 Wera Richter: Zu aktuellen Fragen und zur Auswertung des 24. Parteitages. Referat auf der 1. PV-Tagung, 9./10.4.2022, in: DKP Intern 2022, Nr.5, S. 26–34, hier: S. 33.

5 DKP-Parteivorstand: Konzeption des 25. Parteitages der DKP. Beschluss der PV-Tagung am 8./9.10.22, in: DKP Intern 2022, Nr.6, S. 13–17, hier: S. 15.

6 Patrik Köbele: Herausforderungen und Probleme beim Aufbau des Sozialismus. Referat auf der PV-Tagung am 19./20. Juni 2021, in: DKP Intern 2021, Nr. 3, S. 3–20.

7 Parteiprogramm der DKP, S. 21.

8 Parteiprogramm der DKP, S. 21.

9 Parteiprogramm der DKP, S. 21.

10 DKP-Parteivorstand: Die VR China, ihr Kampf um den Aufbau eines modernen sozialistischen Landes und die Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse. Antrag an den 25. Parteitag der DKP, 17. bis 19. März 2023 Beschlossen am 9. Oktober 2022, in: DKP Intern 2022, Nr. 6, Z. 310: „sozialistisches China“, an vielen weiteren Stellen mit der Einschränkung „im Aufbau“.

11 Zum Beispiel: DKP-Parteivorstand: China-Antrag, Z. 139-144.

12 DKP-Parteivorstand: China-Antrag, Z. 80–85.

13 Köbele: Herausforderungen, S. 11.

14 Vgl. z.B. Alec Nove: An Economic History of the USSR. 1917 – 1991, 3. ed. London: Penguin, 1992, S. 136.

15 Vgl. Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, in: Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin: Dietz, 1973, S. 860f; Hans Heinz Holz: Theorie als materielle Gewalt. Die Klassiker der III. Internationale. (= Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, Bd. 2) Berlin: Aurora-Verl., 2011, S. 166, Anm. 34.

16 DKP-Parteivorstand: China-Antrag, Z. 139–145.

17 Ebd., Z. 279–282.

18 Z.B.: Eine anerkannte bürgerliche Studie gibt an, dass sich zwischen 1952 und 1978 das chinesische BIP verdreifacht hat, das BIP pro Kopf um 82 Prozent und die Arbeitsproduktivität um 52 Prozent gestiegen sind und der Anteil der Industrieproduktion auf die Hälfte des BIP zugenommen hat (Maddison, Angus: Chinese Economic Performance in the Long Run. 960-2030 AD, 2. ed., rev. and updated. (= Development Centre studies) Paris: OECD, 2007, S. 59) – trotz extrem schwieriger Ausgangslage und internationalen Bedingungen.

19 DKP-Parteivorstand: China-Antrag, Z. 278f.

20 Ebd., Z. 154.

21 Vgl. z.B. Li Minqi 李民骐: Socialism, Capitalism, and Class Struggle: The Political Economy of Modern China, in: Economic and Political Weekly 2008, Jg. 43, Nr.52, S. 77–85, hier: S. 85; Felix Wemheuer: Chinas große Umwälzung. Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem. (= Neue Kleine Bibliothek) Köln: Papyrossa-Verlag, 2019, S. 189.

22 Antrag, Z. 169-170.

23 Vgl. z.B. Barry Naughton: The Chinese economy. Transitions and growth, Cambridge, Mass.: MIT Press, 2007, S. 302; Barry Naughton: Is China Socialist?, in: The Journal of Economic Perspectives 2017, Jg. 31, Nr.1, S. 3–24, hier: S. 8; Thomas Heberer: Das politische System der VR China im Prozess des Wandels, in: Claudia Derichs, Thomas Heberer (Hg): Die politischen Systeme Ostasiens. Eine Einführung, Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2013, S. 39–231, hier: S. 75; Li Minqi 李民骐: The Rise of the Working Class and the Future of the Chinese Revolution, in: Monthly Review 2011, Jg. 63, Nr.2 (June).

24 Xi Jinping: Erläuterungen zum Beschluss des ZK der KP Chinas über einige wichtige Fragen zur umfassenden Vertiefung der Reformen. 3. Plenum d. 18. ZK, 2013, http://german.china.org.cn/china/2014-01/16/content_31210138.htm, Stand: 11.09.2019.

25 Heberer, Thomas: Vortrag beim Essener Friedensforum, 15.1.2020.

26 DKP-Parteivorstand: China-AntragZ. 287f.

27 Ebd., Z. 151–154.

28 Zhang Houyi 张厚义, Lü Peng 吕鹏: Siying qiyezhu de jingji fenhua yu zhengzhi mianmao bianhua 私营企业主的经济分化与政治面貌的变化 [Ökonomische Differenzierung und Wandel des politischen Status’ von privaten Unternehmern], in: Lu Xueyi 陆学艺, Li Peilin 李培林, Chen Guangjin 陈光金 (Hg): 2013 nian zhongguo shehui xingshi fenxi yu yuce, Beijing: Shehui Kexue Wenxian Chubanshe, 2012, S. 301–311, hier: S. 305.29 Ebd., S. 308.

30 Vgl. z.B. Naughton: Is China socialist?, S. 19; Bruce J. Dickson: Integrating Wealth and Power in China. The Communist Party’s Embrace of the Private Sector, in: The China Quarterly 2007, Nr.192, S. 827–854, hier: S. 852; Heberer: Das politische System, S. 72.

31 DKP-Parteivorstand: China-Antrag, Z. 181f.

32 Z.B. Xi Jinping: Erläuterungen zum Beschluss des ZK der KP Chinas über einige wichtige Fragen zur umfassenden Vertiefung der Reformen. 3. Plenum d. 18. ZK, 2013, http://german.china.org.cn/china/2014-01/16/content_31210138.htm, Stand: 11.09.2019; Xi Jinping: Zai qingzhu gaige kaifang 40 zhounian da hui shang de jianghua. [Rede auf der Versammlung zur Feier des 40. Jahrestags der Reform und Öffnung], http://www.xinhuanet.com/politics/leaders/2018-12/18/c_1123872025.htm, Stand: 29.04.2020.

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