Ich meine, ein kunstinteressierter Zeitgenosse zu sein, ich lese gern und viel, ich mag Museen aller Art, mag Malerei und Bildhauerei, Grafik und Typografie faszinieren mich, seit ich Ende der 1970er Jahre eine wunderbare Ausstellung zu angewandter Gestaltung auf dem Dresdner Fučik-Platz gesehen habe, und ich höre vorwiegend Musik von vor 1920. Ergo bin ich ein selbstgerechter alter Sack, der meint, alles zu kennen.
Aus dieser Selbstüberschätzung holen mich regelmäßig die Essays der schottisch-deutsch-irischen Anglistin und Literaturwissenschaftlerin Jenny Farrell, denn sie faszinieren mich sowohl von der Sprache, der fundierten Kenntnis mir oft unbekannter Details, als auch durch den deutlichen marxistischen Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen. Das ist in dieser Klarheit heute schon selten.
Nun hat sie Essays, Vorträge und andere Arbeiten zu Literaten, Komponisten und Malern und Bildhauern der letzten neun Jahre gesichtet, teils bearbeitet und zusammengefasst in einem Buch „Kunst und Befreiung“.
Ihre marxistische Betrachtungsweise der Kunstwerke ist sicher zu einem Teil ihrer Herkunft und Ausbildung geschuldet, denn wie bemerkte doch der DDR-Philosoph Gottfried Stiehler so trefflich: der Mensch ist ein biopsychosoziales Wesen.
Farrell wuchs in der DDR auf und verdankte ihrem schottischen Vater sowohl die Liebe zur englischen und russischen Sprache als auch eine sozialistische Weltsicht, die durch die DDR-Sozialisation weiter vertieft wurde. Folgerichtig studierte sie an der Humboldt-Universität zu Berlin Anglistik und promovierte dort auch. Ab Mitte der 1980er Jahre arbeitet sie als Hochschullehrerin in Irland. Dort brachte sie ihren Studenten die irische, englische und internationale Literatur nahe und versuchte ihnen beizubringen, dass das Verhältnis zur Kunst auch immer ein Verhältnis zum persönlichen und gesellschaftlichen Leben ist.

Der Kommunist, Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf sprach in Anlehnung an Lenin sogar von der Kunst als Waffe. Von Beginn an beließ sie es deswegen nicht bei Vorträgen vor ihren Studenten, sondern engagierte sich vielfältig im Kampf um eine bessere, ausbeutungsfreie Welt. Die Waffe ihrer Wahl war und ist dabei das Wort. Im Ergebnis entstanden einige Bücher zum Beispiel über William Shakespeare, John Keats oder irische Arbeiterprosa sowie Dutzende Essays und Artikel sowie Vorträge. Die Liste der von ihr im aktuellen Buch porträtierten Künstler ist lang und reicht von der Renaissance bis in die Gegenwart. Das geht von Boccaccio und Chaucer über Georg Weerth, Maxim Gorki, Bertolt Brecht, Victor Klemperer, Brigitte Reimann, Irmtraut Morgner bis Jenny Erpenbeck und Christoph Hein und von Pablo Neruda über Tschingis Aitmatow bis zu James Baldwin, Ngugi wa Thiong’o, José Saramago oder Hang Kang. Die schottische und englische Literatur bekommt ein eigenes Kapitel, das von Shakespeare, Burns, Scott und Shelley bis zur Feministin und Dramatikern Caryl Churchill reicht.
Farrell gelingt es, die Schreibenden in ihrer jeweiligen Zeit zu zeigen und deren Bestreben zur Veränderung des Bestehenden trefflich herauszuarbeiten. Bei Boccaccio ist es die Benutzung der Alltagssprache und des Dialektes anstatt des Kirchenlateins, das Lesende ausschließt. Gorkis Thema sind die Ärmsten der Armen und die Kraft zur Veränderung, die in ihnen steckt. Churchill bietet einen eindringlichem Blick auf die Gegenwart.
Die Plastizität der Darstellung kennzeichnet ebenso die Beschreibung des musikalischen Schaffens von Künstlern wie Ludwig van Beethoven, Frédéric Chopin, Sergei Prokowjew, Dmitri Schostakowitsch oder Duke Ellington und Paul Robeson. Beim Lesen der Zeilen entsteht die Musik im Kopf, das Gewaltige Beethovens, die Leichtigkeit Chopins, das Niederdrückende der Leningrader Sinfonie Schostakowitschs oder auch das Kämpferische Victor Jaras und Paul Robesons.
Bei den bildenden Künstlern und der Einordnung ihres Schaffens und Wirkens reicht die Spanne vom antiklerikalen Hieronymus Bosch über Raffael, Albrecht Dürer, Hans Holbein, Rembrandt, Caspar David Friedrich bis Käthe Kollwitz, Ernst Barlach, Otto Dix oder Robert Ballagh, dessen Bilder den blutigen Kampf der britischen Unterdrücker in Nordirland zeigen.
Diese Essaysammlung ist ein Kompendium kämpfender und kämpferischer Kunst und Künstler der letzten mehr als 500 Jahre. Etliche der im Buch Beschriebenen werden heute vom Mainstream kaum noch erwähnt, denn der kapitalistische Kunst- und Kulturbetrieb scheut Aufruhr, Anprangerndes und Revolutionäres wie der Teufel das Weihwasser. Lieber schläfert man die Massen mit Unterschichten-TV, Nichtssagendem oder Banalem ein oder hetzt die Armen gegeneinander auf, dass sie nicht begreifen, wer ihre wirklichen Peiniger sind. Insofern ist das Buch auch ein Aufruf zum Kampf und sehr lesenswert. Eine klare Empfehlung im Kampf gegen Volksverdummung!
Jenny Farrell
Kunst und Befreiung
Literatur, Musik und Kunst im Kampf für die Menschheit
Neue Impulse Verlag, 396 Seiten, 29,80 Euro
Erhältlich im UZ-Shop


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