Thomas Metscher und Jenny Farrell widmen sich dem Zusammenhang von „Kunst und Revolution“

Spiegel des revolutionären Geistes

Jürgen Enkemann

Mit ihrem Buch „Kunst und Revolution“ legen Thomas Metscher und Jenny Farrell eine Untersuchung vor, die nicht nur theoretische Überlegungen zur Rolle von Kunst in revolutionären Prozessen anstellt, sondern diese auch anhand historischer Beispiele und künstlerischer Werke im Detail analysiert, und bietet somit weit mehr als eine theoretische Erörterung: Es geht tief in die Geschichte, mit einem Fokus auf den deutsch- und englischsprachigen Raum Europas, und zeigt dabei, wie sich revolutionäre Ideen in der Kunst widerspiegeln und entfalten.

Schon die Einleitung verdeutlicht, dass die Autoren ihre Untersuchung bewusst parteilich und aus marxistischer Perspektive betreiben. Das Buch positioniert sich gegen die Haltung der Frankfurter Schule, insbesondere ­Adorno und Horkheimer, deren „Verrat an der Aufklärung“ die Verfasser in einer fundamentalen Kritik an der „Dialektik der Aufklärung“ verurteilen. Sie begreifen Aufklärung als offenen und fortwährenden Prozess, der in künstlerischem Schaffen seinen lebendigen Ausdruck findet. Metscher und Farrell fassen somit die Kunst als „Selbstbewusstsein der Menschheit“, das stets im historischen und gesellschaftlichen Kontext verwurzelt ist. Diese Position bildet das theoretische Rückgrat des Buches und durchzieht die gesamte Analyse, ob es um Literatur, Musik oder andere Künste geht. Als theoretisch wegweisend wird auch der Historiker Eric Hobsbawm mit seinem Werk „Age of Revolution“ betrachtet, der unter dem Begriff der „Doppelrevolution“ die politische Revolution in Frankreich und die ökonomische ‚industrielle Revolution‘ in England als einen zusammenhängenden Prozess beschrieb.

Klassik und Romantik als historische Orientierung

Im ersten Kapitel wenden sich die Verfasser den Begriffen Klassik und Romantik zu und untersuchen, wie diese ästhetischen Kategorien in den Kontext revolutionärer Prozesse passen. Sie verstehen Klassik und Romantik nicht als festgelegte Stilbegriffe, sondern als geschichtliche Kategorien, die eng mit sozialen und politischen Fragen verknüpft sind. Klassik steht in ihrer Interpretation für die Einheit von Individuellem und Allgemeinem, für das Bestreben, das Menschliche in seiner universellen Form darzustellen. Die Romantik dagegen verkörpert das „Unvollendete“, das bisher nicht Erreichte und die Sehnsucht nach einer besseren Welt.

Im Kapitel „Klassik als Epochensumme und Utopie“ geht es verstärkt um die Friedensidee als ein zentrales Konzept klassischen Denkens, als eine Kernidee im Werk von Schiller und Goethe. „Don Carlos” ist der erste große Entwurf eines Befreiungsdramas, während es in „Wallenstein“ in Krie-gen um den Kampf von Machtblöcken ohne Legitimation geht. „Wilhelm Tell” weist eine utopische Tendenz auf mit dem Wunsch nach Wiederherstellung ursprünglicher gesunder Zustände. Goethes „Faust“ endet mit einer Utopie, der Ermutigung zum Handeln und der Vision einer möglichen Zukunft, in der Liebe und Gemeinschaft zentral sind, die Katastrophe aber nicht ausgeschlossen ist.

Shakespeare und Lessing

Ein bedeutender Teil des Buches ist der Literatur gewidmet, in der sich – so die Autoren – die gesellschaftlichen Brüche und Revolutionen besonders intensiv spiegeln. Metscher und Farrell erörtern Shakespeare als Chronisten einer Welt im Wandel: Seine Dramen, so zeigen sie, reflektieren den Übergang von der mittelalterlichen Theokratie zur modernen Welt und werfen sowohl rückblickende als auch utopische Blicke nach vorn. Shakespeares Werk erscheint hier als künstlerischer Spiegel einer Zeit, in der alte Machtstrukturen wanken und neue Möglichkeiten des Menschseins erprobt werden.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Gotthold Ephraim Lessing, der als Vermittler Shake­speares in Deutschland eine zentrale Rolle einnimmt und gleichzeitig als Denker der Aufklärung im deutschen Kulturraum wegweisend ist. „Nathan der Weise“, „Minna von Barnhelm“ und „Emilia Galotti“ analysieren die Autoren als literarische Manifeste, die sich gegen feudale Strukturen und für eine freiheitliche, aufgeklärte Gesellschaft einsetzen. Diese Werke zeigen, wie Lessing nicht nur religiöse Dominanz, sondern auch gesellschaftliche Unterdrückung infrage stellte und den revolutionären Geist der Aufklärung in die deutsche Literatur einbrachte.

Musik als Ausdruck revolutionärer Kräfte

Ein herausragendes Kapitel widmen die Verfasser der Musik, insbesondere Mozart und Beethoven, die für sie wesentliche Figuren revolutionärer Kunst darstellen. Mozart, dessen Tod nur zwei Jahre nach der Französischen Revolution eintrat, greift in seinen Werken das Streben nach Freiheit und Menschlichkeit auf, insbesondere in der „Zauberflöte“ – eine musikalische Utopie des Aufbruchs und Allegorie auf den „Grenzübertritt in eine neue Welt“, die die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und das Erwachen des menschlichen Geistes feiert.

Beethoven wird als einer der radikalsten Verfechter des revolutionären Umbruchs dargestellt. Seine „Neunte Symphonie“ interpretieren sie als musikalischen Ausdruck der Dialektik von Siegen und Niederlagen in Freiheitskämpfen, die schließlich in Schillers „Freude schöner Götterfunken“ trium-phiert. Beethoven widersetzt sich damit der politischen Restauration nach den Napoleonischen Kriegen und bezieht klar Stellung für die Ideale von Demokratie und Freiheit.

Revolutionäre Romantik

Im umfangreichsten Kapitel des Buches beschäftigen sich die Autoren mit der englischen Romantik als einer besonders kraftvollen Ausdrucksform revolutionärer Ideale und Kritik an bestehenden Machtstrukturen. Im Mittelpunkt stehen Dichter wie William Blake, Percy Bysshe Shelley und John Keats, die durch ihre Werke den sozialen und politischen Missständen ihrer Zeit entgegentreten. Shelley übt in Gedichten wie „Song to the Men of England“ oder „The Mask of Anarchy“ offene Kritik an den herrschenden Verhältnissen und tritt für die absolute Gleichberechtigung von Frau und Mann ein. Seine „Ode to the West Wind“ wird zum Sinnbild revolutionärer Kräfte, die die alte Welt hinwegfegen und Platz für eine neue Ordnung schaffen. Keats, der weniger direkt politisch auftrat als Shelley, wird ebenfalls gewürdigt. Sein Werk ist Zeugnis einer Weltsicht, in der die mit dem sinnlichen Leben verbundene Schönheit als Maßstab für eine humane Welt entwickelt wird.

Moderne Kunst zwischen Barbarei und Sozialismus

Die letzte größere Themeneinheit befasst sich mit moderner Kunst und Literatur, darunter eine Linie von den Realismus-Romanen des 19. Jahrhunderts hin zu den revolutionären Schriften des 20. Jahrhunderts. Werke von Melville, Brecht, Seghers, O’Casey, Weiss, Neruda und anderen reflektieren den unvollendeten Prozess der Aufklärung und zeigen, wie sich die Künste im Angesicht gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen stets neu erfanden, Barbarei und Widerstand thematisieren und in der Literatur die menschliche Solidarität und den Drang nach Freiheit betonen.

Den Autoren gelingt es in „Kunst und Revolution“ auf beeindruckende Weise, eine Vielzahl von künstlerischen Werken und gesellschaftlichen Ereignissen miteinander zu verbinden und die Kunst als Triebkraft des menschlichen Freiheitsstrebens darzustellen. Die klare marxistische Perspektive, die analytische Tiefe und die umfassende historische Reflexion machen das Buch zu einem unverzichtbaren Beitrag für das Verständnis der Rolle von Kunst im gesellschaftlichen Wandel.

Ein Kritikpunkt könnte die eingeschränkte geografische und soziale Perspektive sein, die hauptsächlich auf männliche Künstler und eine europäische Sichtweise beschränkt ist. Ein künftiges antihierarchisch und revolutionär ausgerichtetes Kunstschaffen wird wohl auch künstlerisch Engagierte aus unteren sozialen Schichten und auch Nichtprofessionelle stärker einbeziehen.

„Kunst und Revolution“ ist ein zum Nachdenken anregendes Werk für all jene, die sich für die Verbindungen zwischen Kunst und Gesellschaft interessieren. Die Verfasser laden dazu ein, Kunst als Spiegel revolutionären Geistes und als Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu verstehen. Sowohl für Fachleute als auch für all jene, die die Kunst als Motor gesellschaftlichen Wandels betrachten, bietet dieses Buch einen wertvollen Beitrag und eine herausfordernde Lektüre.

Thomas Metscher/Jenny Farrell
Kunst und Revolution
Neue Impulse Verlag, 460 Seiten, 29,80 Euro
Erhältlich im UZ-Shop

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Spiegel des revolutionären Geistes", UZ vom 8. November 2024



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Stern.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit