Am 22. Februar ist Bruno Mahlow in Berlin gestorben

Ein Weiser

Bruno Mahlow kam 1937 als Kind kommunistischer Emigranten in Moskau zur Welt. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wurde seine Familie nach Taschkent evakuiert – sein Vater war schwerbehindert –, dort begannen sein Schulbesuch und das bewusste Erleben des Vielvölkerstaates UdSSR. 1947 kehrten die Mahlows nach Berlin zurück. Bruno studierte in Moskau und arbeitete danach im diplomatischen Dienst der DDR, seit 1967 in der Abteilung Internationale Beziehungen des Zentralkomitees der SED.

Er war zutiefst mit der Sowjetunion und Russland verbunden. Im UZ-Gespräch zum 100. Gründungstag der UdSSR sagte er: „Der Sieg der Sowjet­union über den Faschismus darf nie vergessen werden. Und sofort muss die Frage beantwortet werden: Wie war dieser Sieg möglich?“ Seine Antwort darauf zeigt viel vom Menschen Bruno Mahlow, von seiner Fähigkeit zur nüchternen historischen und politischen Analyse und von der Meisterschaft, mit der er historischen und dialektischen Materialismus als Erkenntnisinstrument handhabte.

Neben der Revolution und ihrer Verteidigung durch die rasch aufgestellte Rote Armee nach dem vom deutschen Imperialismus diktierten Frieden von Brest-Litowsk 1918 nannte er zwei Leistungen, die zum Sieg von 1945 beitrugen: Die Industrialisierung des weitgehend zerstörten europäischen Landesteils. Sowie: Die rasche Entwicklung durch die Neue Ökonomische Politik (NÖP), die 1921 von Lenin konzipiert wurde: „Strategisch ein Rückzug vom Kriegskommunismus hin zur Wiederzulassung kapitalistischer Elemente – Lenin setzte die NÖP gegen große Widerstände in der Partei durch. Das Problem, das die NÖP aufwirft, beschäftigt uns bis heute – siehe China, Vietnam oder Kuba. Es hatte etwas mit Genialität zu tun, 1921 diesen Weg einzuschlagen: Es ging darum, nicht zu schwafeln oder zu meinen, Revolutionen werden am grünen Tisch entschieden, sondern energisch zuzupacken – mithilfe kapitalistischer Elemente.“ Etwas Unerhörtes in der Geschichte und in der Theorie des Sozialismus.

Die Bearbeitung dieses Problems, die spezifische Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft, wurde nach Brunos Auffassung spätestens seit dem XX. Parteitag der KPdSU vernachlässigt. Für ihn führte das entscheidend mit zum Ende der europäischen sozialistischen Staaten. Das auf Verrat zurückzuführen, schien ihm zu flach, er sprach von Schwindel und Konzeptlosigkeit und konnte das beurteilen, erlebte er doch den Niedergang aus nächster Nähe. Seit den 1970er Jahren war er Dolmetscher Erich Honeckers bei Gesprächen mit der KPdSU-Führung. In einem „junge Welt“-Interview schilderte er 2015 einen Wendepunkt, den er selbst erst spät als solchen begriff: „1981 kam der Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Konstantin Russakow, im Auftrag von Leonid Breschnew, dem damaligen Generalsekretär der KPdSU, zu einem Gespräch mit Erich Honecker nach Berlin. Es ging um die Reduzierung der sowjetischen Erdöllieferungen an die DDR um zwei Millionen Tonnen im Jahr. Russakow sagte zu Honecker, es sei dem Genossen Breschnew sehr schwergefallen, mit einer solchen Bitte an ihn heranzutreten. Er hoffe auf Verständnis. Honecker erläuterte die Probleme, die das für die DDR aufwarf, es ging hin und her, bis Russakow erklärte: ‚Ein großes Unglück ist geschehen‘, und die Situation mit der zur Zeit des Friedens von Brest-Litowsk 1918verglich, also mit einer Situation, in der es um die Existenz der Sowjetmacht ging.” Was gemeint war, habe er, Bruno, erst viel später begriffen: Die KPdSU-Führung hatte beraten und sah die Existenz der Sowjetunion in Gefahr. Das ahnte niemand in der DDR-Führung.

Bruno war nach der Konterrevolution im Ältestenrat der PDS und später der Partei „Die Linke“ aktiv, bis das Gremium vor einem Jahr von der Parteiführung als „dysfunktional“ aufgelöst wurde. Im Herbst 2022 trat Bruno in die DKP ein. Zu seinem Vermächtnis gehören Sätze wie diese von 2015: „Für Russland war Deutschland außenpolitisch stets die erste Wahl, für Deutschland war Russland stets nur die zweite. Und: Deutschland hat sich seit dem Ersten Weltkrieg an keinen Vertrag gehalten. Es gibt in dieser Hinsicht nichts Neues.“

Bruno war ein Weiser im Sinne von Brechts Gedicht über das Buch „Taoteking“. Einiges hat er aufgeschrieben, längst nicht alles, was er weitergeben wollte. Sein Tod am 22. Februar kam zu früh.


Bruno Mahlows Einspruch
Im Januar flatterte Bruno eine Vorladung wegen „Belohnung und Billigung von Straftaten“ (Paragraf 140 StGB) wegen eines UZ-Kommentars ins Haus. UZ schrieb dazu am 17. Februar: „Bruno Mahlow wird ein Kommentar in dieser Zeitung mit der Überschrift ‚Bis zur letzten Konsequenz‘ zur Last gelegt. Darin warnte er eindringlich vor der Gefahr eines dritten Weltkrieges. Das Wort ‚Skandal‘ soll man nicht inflationär benutzen, aber für den Tatvorwurf gegen diesen Antifaschisten und Friedenskämpfer der ersten Stunde gibt es kein anderes.“
Bruno ließ sich nicht beirren und verfasste eine Verteidigungsschrift. Er, der Zeit seines Lebens für Frieden und die diplomatische Lösung von Konflikten gekämpft hatte, wehrte sich gegen den Vorwurf, einen „Angriffskrieg“ zu unterstützen. Er trat auf gegen Geschichtsfälschung, verwies auf den Putsch im Jahr 2014 und auf den Krieg gegen die Bevölkerung im Donbass, um seine Überzeugung zu untermauern, dass Russland keinen Angriffskrieg führt.
Der Text kann hier nachgelesen werden.


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"Ein Weiser", UZ vom 3. März 2023



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