Zu Christoph Heins neuem Roman „Trutz“

Eine „andere“ Geschichte

Von Rüdiger Bernhardt

eine andere geschichte - Eine „andere“ Geschichte - Christoph Hein, Literatur, Rezensionen / Annotationen - Kultur

Christoph Hein

Trutz

Roman

Berlin, Suhrkamp Verlag 2017,

477 S., 25.- Euro

Zu Beginn des Romans gerät der Erzähler „aus Versehen“ in eine Veranstaltung „Feindliche Freunde“, in der es „im Gebäude der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ um deutsch-russische Verhältnisse geht. Der Erzähler ist als Christoph Hein zu erkennen, denn er recherchiert für seinen Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005)“ und ist unterwegs, um einen Zugang zu Akten des Terroristen Wolfgang Grams auf dem kleinen Dienstweg zu bekommen. Die Veranstaltung selbst enttäuscht ihn, denn „eine Neubewertung der geschichtswissenschaftlichen Sicht auf das letzte Jahrhundert“ der deutsch-russischen Beziehungen bleibt aus, die „neuen Dokumente“ sind belanglos. Dafür erfährt der Erzähler durch einen Zuhörer, der über ein unfassbar genaues Gedächtnis verfügt, von ungenügender oder beabsichtigt ungenauer Aufarbeitung der Geschichte. Als der Zuhörer die Fehler korrigieren möchte, muss er sich als „Ewiggestrigen“ beschimpfen lassen, der sich gegen die ihm „unangenehme Wahrheit“ sperre, eines der häufigsten aktuellen Argumente, wenn es um historische Wahrheiten geht.

Das vom Erzähler erlebte „Versehen“ erweist sich als großartiger Einstieg in eine Betrachtung einschneidender Geschichtsereignisse im 20. Jahrhundert. Von seinen beabsichtigten Recherchen hört man nichts mehr, dafür entwickelt sich nun ein umfangreicher Roman über einhundert Jahre deutsch-russische Beziehungen. An die Stelle der versagenden Archivarin tritt der Erzähler. Ihm geht es nicht um große Weltgeschichte, sondern um fast beiläufige, wenn auch erschütternde Familiengeschichten, kaum dokumentierte Randereignisse weltbewegender Vorgänge. Bekannte Daten – Kriegserklärungen, Schlachten, KZ, Vernichtung, Befreiung vom Faschismus – werden beim Leser vorausgesetzt. Zeiträume werden mit einem Satz überbrückt („Innerhalb von dreißig Jahren durfte Maykl Trutz dreimal zu internationalen Konferenzen ins westliche Europa reisen.“) oder mit einem Wort –“Turbulenzen“ für die Ereignisse von 1989/90 – abgetan. Die Orte, in denen der Roman spielt, entsprechen diesem Verfahren: „Trutz“ beginnt in dem Dorf Busow an der Bahnstrecke von Ducherow nach Swinemünde in der Provinz, führt nach Anklam und endet in Wittenberge in der Provinz. Dazwischen liegen Berlin, Moskau, Workuta, Deportationsorte, Leipzig, Potsdam, Weimar. Von Anfang an wird darauf hingewiesen, dass jedes Detail, jeder Erinnerungsfetzen Bedeutung hat für das Verständnis von Geschichte, für „die Wahrheit“, „nichts als die Wahrheit“. Mit dieser Methode des Blicks vom Rande – zeitlich und räumlich – entsteht ein „anderes“ Geschichtsbild.

Bis 2013 hat der Erzähler in den Archiven dreier Ländern nach der Wahrheit gesucht und recherchiert. Er hat dabei eine Geschichte von „Feindlichen Freunden“ kennengelernt, die anders ist als die im Gebäude der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur verkündete. Der Unterschied besteht darin, dass in der offiziellen Veranstaltung bereits vor Beginn die Prämissen feststanden und Korrekturen oder Differenzierungen abgelehnt wurden; in der wahrhaftigen Geschichte dagegen bestimmt nicht die Vernachlässigung unbequemer historischer Vorgänge das Konzept, sondern die untrügliche und vollkommene Erinnerung an die Ereignisse. Das „Versehen“ löst den Versuch einer objektiven Geschichtsbetrachtung aus. Das könnte überall und jeden Vorgang betreffen, wenn das „menschliche Gedächtnis komplex …, vollständig“ zur Verfügung stünde, wie der Erzähler durch die Bekanntschaft mit Maykl Trutz erkennt. Einer solchen Vollständigkeit nähert sich ein Erzähler, wenn er zu bekannten Beschreibungen nach der „anderen“ Beschreibung suchte. Das legt der Titel „Trutz“ nahe, der nicht nur Familienname im Roman ist, sondern auch methodischer Hinweis für den Leser. Hein gibt solche präzisen Hinweise stets mit, damit der Leser auch übergreifende historische Zusammenhänge vergleichend einbeziehen kann.

Der Name „Trutz“ erinnert an Grimmelshausens simplizianischen Roman „Trutz Simplex oder Ausführliche und wunderseltsame Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage“. Darin wird die „andere Biografie“ der Courage erzählt, die dem Simplizissimus zum Trutz (Trotz) mitgeteilt wird, weil der ihre Lebensbeschreibung so geschrieben habe, dass sie einseitig und falsch geworden sei. Trutz ist also nicht nur Titel und Familienname, sondern kann als Hinweis auf die erzählerische Absicht verstanden werden: Es ist die andere Biografie eines vom Verbrechen geprägten Jahrhunderts wie Grimmelshausens Romane ein Weltbild des dreißigjährigen Krieges bieten, die chronikalische Literatur über Kriege und Verbrechen. Wahrheit ohne Beschönigungen und ohne ideologische Erklärungen oder Verdächtigungen sollen geschaffen werden.

Hein gestaltet nicht nur die Verbrechen Stalins, „Gewaltexzesse im Namen der Revolution“, und „deklarierten gesellschaftlichen Fortschritt“ in der DDR (Frank Quilitzsch in der „Thüringer Allgemeinen“), sondern einhundert Jahre deutsch-russische Beziehungen. Dabei handelt der 1. Teil des Romans bis zum Mai 1933 ausschließlich in Deutschland, folgt der alle Bereiche erfassenden faschistischen Entwicklung und beschreibt die beginnende Vernichtung der „als feindlich und dem Deutschtum zuwider“ bezeichneten Menschen. Mit Verbrechen in Größenordnungen und der Vertreibung des kritischen Geistes, auch der nur „schlicht und genau“ beschreibenden Autoren, schufen Deutsche die Voraussetzungen für andere Verbrechen des Jahrhunderts, die in dem Roman auch als Reaktion auf dieses deutsche Verhalten erscheinen und nicht verselbstständigt werden dürfen.

Die scheinbar nebensächliche Eröffnung des Romans weist auf eine wesentliche Mitteilung des Buches: Nichtwissen oder verkürztes Wissen wird zu falschem Wissen, in dessen Folge ein falsches Geschichtsbild entsteht. Der Erzähler kann am Ende seiner aufwendigen Recherchen, indem er statt frisierter Geschichte die Wahrheit ohne Fehler zu dokumentieren versucht, den Leser zu einem neuen anderen Geschichtsbild führen. Dazu dienen ihm die Schicksale der deutschen Familie Trutz – Maykl Trutz hat den Erzähler aus „Versehen“ auf das Thema gebracht – und der sowjetisch-russischen Familie deutscher Herkunft Gejm, verfolgt über einhundert Jahre. Die Wissenschaftlernamen des Romans sind einerseits authentisch – Geim ist eine ursprünglich russlanddeutsch-jüdische Wissenschaftlerfamilie, deren aktueller Vertreter Physiknobelpreisträger ist –, andererseits sind sie nicht identisch mit Protagonisten des Romans. Auf diese Weise entsteht ein historiografisch vielschichtiges Gebilde menschheitlichen Wissens von der Antike (die Mnemonik oder Mnemotechnik des Simonides von Keos) bis in die Gegenwart.

Die Vernichtungsfeldzüge des Faschismus sind eine Ursache der historischen Entwicklungen, der historischen Fehler, Kämpfe, Verbrechen, Verirrungen und des Kalten Krieges. Daran erinnert der Roman. Der 2. Teil handelt im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts. Er schildert Leben und Arbeit von Rainer und Gudrun Trutz in der Sowjetunion, die später während Stalins Säuberungen umkommen. Der Sohn Maykl wird am 28. Januar 1934 geboren – er stirbt 2007. Sie lernen Waldemar Gejm kennen, Mathematiker und Sprachwissenschaftler an der Moskauer Universität. Dessen Sohn Rem wird Maykls Freund. Sie beteiligen sich an wissenschaftlichen Forschungen zum vollständigen Erinnern, einer Gedächtniskunst, die in Sprachwissenschaft und Psychologie ihren Platz hat. Es geht darum, das „menschliche Gedächtnis komplex zu machen, vollständig“ und dadurch ein objektiv erinnertes Geschichtsbild zu sichern. Waldemar Gejm verunglückt in einem Arbeitslager tödlich.

Im 3. Teil kommt Maykl 1952 als ein Fremder in die DDR, legt ein deutsches Abitur zusätzlich zum Moskauer ab, studiert Geschichte, Englisch und Pädagogik, wechselt zur Archivwissenschaft, weil er politischen Wünschen nicht entsprechen kann und will. Auf einer Stelle im Deutschen Zentralarchiv in Potsdam hofft er seit 1958, sein geschultes komplexes Gedächtnis einsetzen zu können, auch um „Auffälligkeiten“ in den historischen Akten zu erklären. Als darunter ein Mitglied des ZK der SED ist, wird Maykl ins Goethe-und-Schiller-Archiv versetzt; nicht Folge eines Fehlverhaltens, sondern des Kalten Krieges, denn die Wahrheit wird in diesem Falle zur Waffe im Kampf politischer Gegner. Maykl heiratet, lebt sich in Weimar ein und führt dreißig Jahre ein erfülltes Leben, die befriedigendste und schönste Zeit seines Lebens. Verblüfft ist er, als er nach der Wende mit der Wiedergründung eines Archivs in Meiningen beauftragt wird, weil ihm „Wiedergutmachung“ für „widerliche Denunziationen“ zustehe, für die kein anderer als der neue Chef verantwortlich zeichnete, wie Maykl weiß. Als er ablehnt und eine neue „Auffälligkeit“, den alten Denunzianten und neuen Chef betreffend, aufzuklären versucht, wird er im geeinten Deutschland, der Bundesrepublik, gemaßregelt. Versetzung und Arbeitslosigkeit drohen, seine Ehe wird dadurch nach 28 Jahren geschieden. Grundsätzlich, so stellt er fest, ist seit der Verfolgung seines Vaters 1933 bis in die Gegenwart vieles vergleichbar und ähnlich geblieben.

Es gibt nach 48 Jahren ein Wiedersehen mit Rem in Wittenberge, wohin Maykl strafversetzt worden ist. Beide verabreden sich zu einem Treffen in Moskau, aber es findet nicht statt, weil Rem 2001 erschlagen wird. Alle Unterlagen aus sowjetischer Zeit wurden geraubt, Schuldige werden nicht gefunden. Die Zeit der Verbrechen, mit der der Roman begann, ist nicht zu Ende. Der hier andeutungsweise erschlossene Roman endet mit der Operettensentenz „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“ aus der „Fledermaus“, die die Schopenhauersche Ablehnung der Erkenntnis der Welt bedient. Maykl hauchte die Worte, „während ihm Tränen über die Wangen liefen“. Das erlebt er, aber es ist nicht seine Überzeugung: Es bleibt der Anspruch auf eine vollständig erinnerte Geschichte, es bleibt Heins Aufforderung (Interview mit der „Freien Presse“ vom 24. März 2017): „Das Erinnern war und bleibt aktuell, und es stört, denn das genau, nicht zu beeinflussende Gedächtnis war und bleibt ein Ärgernis.“

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Eine „andere“ Geschichte", UZ vom 16. Juni 2017



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