Zur strukturellen Diskriminierung von Frauen im Kapitalismus

Emanzipation in der Krise

Sieht man sich die neue Biden-Regierung an, so scheint alles bestens zu sein: Frauen und schwarze Menschen, wohin man schaut. 46 Prozent von Bidens Kabinett sind weiblich. 50 Prozent sind „nicht weiß“, 15 Prozent lateinamerikanischer Herkunft, 23 Prozent Afroamerikaner, 11 Prozent stammen aus dem asiatisch-pazifischen Raum und es gibt sogar einen Menschen, der indigene Vorfahren reklamiert. Und mit Pete Buttigieg weist Bidens neue Truppe obendrein den ersten offen schwulen Bundesminister auf. Die Biden-Regierung präsentiert sich als Sieg der LGBT-Bewegung und der Identitätspolitik – eine der ersten „Executive Orders“ des Präsidenten war das Verbot von „Gender-Diskriminierung“. Halleluja!

Doch was bedeuten Gleichberechtigung, Emanzipation, Frauenrechte in einer der schwersten Krisen des Kapitalismus? Wer sind die Opfer dieser Krise, wer die Nutznießer? Dorothea Langes ikonografisches Foto von Florence Owens Thompson aus dem Jahre 1936 macht das ganze Elend des Proletariats in der Krise deutlich. Owens Thompson war eine der bettelarmen Baumwollpflückerinnen in Kalifornien. Sie versuchte, was – zumeist proletarische – Frauen in den Krisen, den Katastrophen und gesellschaftlichen Zusammenbrüchen immer tun: zu retten, was zu retten ist. 16 Stunden zu arbeiten, Essen herbeizuschaffen, die Kinder irgendwie doch durchzubringen und schlicht zu überleben.

Die Vereinten Nationen gehen von einer krisenbedingten Zunahme der „extremen Armut“ (weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag) aus, die bis 2030 weltweit mehr als 200 Millionen Menschen betreffen wird. Die chinesischen Erfolge im Kampf gegen die Armut werden durch das profitgetriebene Krisenmanagement zumindest zum Teil konterkariert. Es gibt zig Millionen Florence Owens Thompsons – auch in den USA.

Global betrachtet verdienen Frauen 24 Prozent weniger als Männer. In „Entwicklungsländern“ arbeiten 75 Prozent der Frauen in der „informellen Ökonomie“, das heißt: Sie verdienen weniger, haben die schlechteren, weniger sicheren, prekären Jobs und sind gar nicht oder in nur geringem Maße medizinisch und sozial abgesichert. Diese Frauen haben trotz langer, teilweise extrem langer Arbeitszeit in der Regel keine Chance, der Armut zu entkommen. Eine junge Frau hat, global betrachtet, eine um vier Jahre längere berufliche Arbeitszeit vor sich als ihr gleichalteriger männlicher Kollege.

Dazu kommt die „selbstverständliche“, unbezahlte soziale Arbeit: die Aufzucht der Kinder, die Hausarbeit, die Kranken- und Altenbetreuung. Weltweit verrichten Frauen mehr als doppelt so viel an diesen Arbeiten als Männer. Der Wert dieser Arbeiten pro Jahr wird auf 10,8 Billionen US-Dollar geschätzt, rund 12 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts.

Aktuell sind über 40 Millionen Menschen Opfer der „modernen Sklaverei“. Frauen und Mädchen sind dabei mit 71 Prozent weit überrepräsentiert. Jede 130. Frau lebt in Sklaverei oder sklavereiähnlichen Verhältnissen. Dabei ist davon auszugehen, dass diese Zahlen noch deutlich zu niedrig gegriffen sind.

Gleichberechtigung, Emanzipation ist eine Klassenfrage. Das US-Establishment kann es sich natürlich leisten, 46 Prozent der Kabinettsposten mit Frauen zu besetzen und sogar eine schwarze Frau zur Vizepräsidentin zu machen – wenn das die Zustimmungswerte zu seiner profinanzkapitalistischen und proimperialistischen Politik nach oben treibt. Aber was nützt das den 12,9 Prozent der US-Bürgerinnen, die in Armut leben? Bei den Frauen, die allein, ohne Mann, eine Familie durchzubringen versuchen, sind satte 24,9 Prozent arm. 2018 lebten fast 40 Millionen US-Bürger in Armut. Durch die Krise ist diese Zahl so rasch gestiegen wie seit 60 Jahren nicht mehr. Auch hier waren es die Frauen, die zuerst ihre prekären Jobs verloren, die in die Arbeitslosigkeit und Armut rutschten und die als „frontline workers“ in den medizinischen und pflegerischen Diensten bei der Bekämpfung der Pandemie am meisten gefährdet und am meisten ausgebeutet wurden.

Armut, Unterdrückung, ja selbst die Sklaverei ist weiblich. Was nützen den proletarischen Frauen die hochtönenden Phrasen der Identitätspolitik der „liberalen“ Funktionselite? Was nützt die gegenderte Sprache, wenn sich an der bedrückenden Wirklichkeit des neoliberalen Kapitalismus nichts ändert? Wenn die Ultrareichen weiterhin ihre Milliarden und Billionen scheffeln und ein Viertel der US-Bürger – „working class people“, vor allem Frauen – weiterhin in Armut, von Essensmarken und Food-Bank-Unterstützung leben muss? Und wenn Millionen mitten in der Pandemie ihre Krankenversicherung verloren haben – zusätzlich zu jenen zig Millionen, die sie nie hatten? Emanzipation ist eine proletarische Klassenfrage. Es ist mal wieder an der Zeit, über die strukturelle Frauenfeindlichkeit des Kapitalismus nachzudenken.

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"Emanzipation in der Krise", UZ vom 5. März 2021



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