Zwei Wahlgänge hat es gebraucht, allerhand staatstragende Medienberichterstattung und viele besorgte Zwischenrufe – vor allem von den Grünen. „Kann alle nur warnen, sich über dieses Chaos zu freuen“, schrieb beispielsweise die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt auf der Plattform X, nachdem Friedrich Merz (CDU) als erster Kanzleranwärter in der Geschichte der Bundesrepublik durch den ersten Wahlgang gefallen war. Im gleichen Netzwerk meldete sich auch der Historiker und in bürgerlichen Kreisen gerne herumgereichte „DDR-Experte“ Ilko-Sascha Kowalczuk mit seiner fachlichen Einschätzung zu Wort: „Wer jetzt als Heckenschütze im Parlament agiert(,) ist an Koalitionen mit der AfD oder der radikalisierten Linkspartei interessiert, in jedem Fall aber ein Verbündeter des Kreml, der unsere Demokratie zerstören will.“
Merz oder der Russe oder die AfD, das war schon die Zwangsjacke, in die die SPD ihre Mitglieder gesteckt hatte, um sie zum Eintritt in die schwarz-rote Koalition zu bewegen. Nach dem gescheiterten ersten Anlauf am Dienstagmorgen verbreitete sich die damit verbundene Unruhe wie ein Lauffeuer. Kaum war der erste Schock überwunden, scharte die Union die „demokratischen“ Parteien im Bundestag um sich: SPD, Grüne und „Die Linke“. Ziel war es, eine Zweidrittelmehrheit für eine Fristverkürzung und damit für einen zweiten Wahlgang am selben Tag zusammenzubekommen. Am Nachmittag machten dann sowohl die Grünen als auch „Die Linke“ als auch die AfD den Weg frei. Der parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Christian Görke, begründete diesen Schritt damit, dass Chaos nur der AfD nützen würde: „Wir sind die Brandmauer gegen die gesichert rechtsextreme AfD.“ Damit sei jedoch keine Zustimmung zur Politik von Merz und Co. verbunden.
Die Brandmauer zeigte Wirkung. Die Angst vor einer rechten Machtübernahme verschwand in dem Moment, als ein Rechter die Macht übernahm.
Mit Friedrich Merz steht nun ein Mann an der Spitze der Bundesregierung, der wie eine von Kapitalismuskritikern erdachte Karikatur wirkt: ein reicher Finanzlobbyist, der gerne mal mit dem Privatflugzeug durch die Gegend fliegt, aber behauptet, dem „Mittelstand“ anzugehören. Jahrelang hatte er sich aus der Politik zurückgezogen, nachdem er seiner parteiinternen Widersacherin Angela Merkel unterlegen war. Die Zwischenzeit verbrachte er in Aufsichtsräten großer Unternehmen – zuletzt beim Deutschland-Ableger der weltweit größten Investmentgesellschaft BlackRock.
Lässt man ihn reden, hat er ein Talent dafür, Menschen aufzubringen. Zum Beispiel die Ostdeutschen, denen er vor einem Jahr in den „Tagesthemen“ einen Mangel an Verständnis bescheinigte: „Man muss im Osten mehr erklären als im Westen, das ist wahr, aber ich tu’s gern und ich fahr’ da richtig gern hin.“ Nach dem rassistischen Anschlag von Hanau handelte er sich im „Tagesspiegel“ die Schlagzeile „Merz adelt die Motive der Rechtsradikalen“ ein. Anstatt über den Rassismus des Täters, die ermordeten Opfer und das Versagen der Behörden zu sprechen, hatte er erklärt, dass nun mehr gegen „illegale Einwanderung“ unternommen werden müsse.
In Sachen Sozial- und Asylpolitik steht Merz kurz vor der Verwirklichung seiner verbalen Ausfälle. Gemeinsam mit der SPD und dem neuen Vizekanzler Lars Klingbeil will Merz eine „Neue Grundsicherung“ einführen und Arbeitslosen die Mittel komplett streichen, wenn sie „zumutbare“ Arbeit ablehnen. Zudem werden im Grunde alle Punkte des „Zustrombegrenzungsgesetzes“ auf den Weg gebracht, gegen das auch viele SPD-Mitglieder noch protestiert hatten, als Merz es zusammen mit der AfD durch den Bundestag bringen wollte. Auch in der Kriegspolitik scheint Merz zur weiteren Eskalation bereit: Während seiner Zeit in der Opposition hatte er wiederholt die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine gefordert.
Eine Brandmauer gegen diese rechte Politik, den Rüstungswahn und die Kriegstreiberei des neuen Kanzlers ist bisher noch nicht in Sicht.