Zum Freispruch des Nazi-Richters Hans-Joachim Rehse vor 55 Jahren – und dem Umgang mit Richtern der DDR nach der Konterrevolution

„Ergebnisorientierte Auslegung“

I.

Vor 55 Jahren, am 6. Dezember 1968 verkündete der Vorsitzende des Berliner Landgerichts, Ernst-Jürgen Oske, das Urteil: Freispruch für Nazi-Richter Hans-Joachim Rehse. „Höhnisches Gelächter beim Publikum, Pfeifen und Buhrufe. ‚Millionen wurden ermordet, und jetzt so ein Urteil‘, ruft ein Zuschauer, ‚Sie Mörder‘ ein anderer. Ein älterer Herr geht zu Rehse und verpasst dem einstigen Blutrichter eine Ohrfeige mit den Worten: ‚Schämen Sie sich!‘“, schrieb der „Spiegel“. Bis zu diesem Zeitpunkt war kein Richter oder Staatsanwalt des Volksgerichtshofs (VGH), der Kriegsgerichte oder der Sondergerichte für ihre über 35.000-fach verhängten Todesurteile von der westdeutschen Justiz zur Rechenschaft gezogen worden. Und nun dieser Freispruch.

Der VGH sprach in den elf Jahren seines Bestehens 5.243 Todesurteile aus, die durch Fallbeil oder Strang im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee oder im Zuchthaus Brandenburg-Görden vollstreckt wurden. Einer der 106 Berufsrichter am Blutgericht war Kammergerichtsrat Rehse. Im 1. Senat, dem Roland Freisler vorstand, fungierte Rehse, seit 1933 NSDAP-Mitglied, als Beisitzer. Er unterschrieb 231 Todesurteile wegen Hochverrat, Feindbegünstigung (Paragraf 91b RStGB) oder Zersetzung der Wehrkraft.

Urteile wie das gegen den Elektromeister Fritz Karl Steglich. Der starb am 17. Januar 1944 unter dem Fallbeil. Sein „Verbrechen“: Der beiläufig geäußerte Satz „Was Goebbels quatscht ist alles Lüge“.

Der Postschaffner Georg Jurkowski wurde am 14. Oktober 1943 zum Tode verurteilt. Denunziert für die Aussage: „Ich kann Ihnen nur sagen, der Duce ist verhaftet, mit Hitler wird es auch nicht anders gehen. Im Januar lebt er nicht mehr.“
Das Fallbeil auch für den Schauspieler Walther Bethke, am 12. November 1943 als „für immer ehrloser Zersetzungspropagandist“ verurteilt, weil „er den Krieg als bereits verloren bezeichnet“ hatte.

Der Priester Max Josef Metzger, am 14. Oktober 1943 von Freisler und Rehse auf das Schafott geschickt für ein Friedensmemorandum.

Bereits 1957 ermittelte die Staatsanwaltschaft Flensburg gegen Rehse, das Verfahren wurde eingestellt. Der 231-fache Mörder war seit 1956 als Richter in Schleswig-Holstein wieder in Amt und Würden. Ein zweiter Verfahrensanlauf im Jahr 1963 scheiterte am Oberlandesgericht München: Rehse habe ohne Vorsatz gehandelt und lediglich pflichtschuldig das damals geltende Recht angewendet. Erst 1967 glückte der nächste Versuch der Staatsanwaltschaft Berlin. Sie konzentrierte die Anklageschrift auf sieben Fälle. Das Landgericht Berlin sah lediglich eine Beihilfe und verurteilte Rehse am 3. Juli 1967 zu milden fünf Jahren. Das Verfahren ging in die Revision. Rehse hatte Erfolg. Der 5. Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) gab ihm Recht, die Verurteilung wurde am 30. April 1968 aufgehoben und an die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Berlin zurück verwiesen. Wie die entscheiden sollte, gab der BGH vor: Rehse sei als Richter des VGH nach dem „auch (!) damals geltenden Recht unabhängig, gleichberechtigt, nur dem Gesetz unterworfen und seinem Gewissen verantwortlich. Seine Pflicht forderte, allein der eigenen Rechtsüberzeugung zu folgen“. Gemeint war: Je fanatischer ein Richter glaubt, im Sinne des Gesetzes, gleich welchen Inhalt es hat, zu handeln, desto weniger kann er Vorsatz haben, Verbotenes zu tun. Nach dieser Diktion hätte auch Terrorrichter Freisler freigesprochen werden müssen. Das Kalkül Rehses, sich nicht etwa als willfähriger Büttel seines Vorsitzenden zu gerieren, sondern dreist sein blindes Vertrauen in die Gültigkeit der NS-Mordgesetze zur Schau zu stellen, hatte Erfolg. DDR-Anwalt Friedrich Karl Kaul (1906-1981), der 1956 die KPD im Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hatte und das Rehse-Verfahren beobachtete, beschrieb 1969 in einem Bericht für die DDR-Juristenzeitschrift „Neue Justiz“ das Prozessverhalten des Blutrichters: „Der clevere Jurist hatte die Chance erkannt, die ihm das Revisionsurteil des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs geschaffen hatte. In aufdringlicher Weise betonte er, dass er an den fraglichen Mord-Urteilen selbständig und ‚in der inneren Überzeugung ihrer unangreifbaren Gesetzlichkeit‘ mitgewirkt habe.“ Die Frage des Staatsanwaltes, weshalb er einfache Bemerkungen wie „Hitler muß weg“ als „Wehrkraftzersetzung“ beziehungsweise „Feindbegünstigung“ gewertet habe, konterte Rehse mit: „Die politische und militärische Situation um 1943 machte jede Äußerung gegen den Staat zur Zersetzung! (…) Die Todesurteile entsprachen (…) durchaus meiner Überzeugung“. So entkam der Überzeugungstäter in der Richterrobe der Verurteilung wegen Mord, Beihilfe zum Mord und auch dem Vorwurf der Rechtsbeugung (Paragraf 339 StGB).

Die Nachricht vom Freispruch Rehses löste in Deutschland und international Entsetzen und breite Proteste aus. Robert M. W. Kempner, einer der Ankläger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1945-1946, stellte resigniert fest: „Der Freispruch Rehses bedeutet auch einen Freispruch für den im Berliner Schwurgerichtssaal als Schatten anwesenden Roland Freisler. Juristisch und moralisch eine furchtbare Konsequenz.“ Die Zeitung „Der Bund“ (Bern) kommentierte am 10. Dezember 1968: „Wenn Richter einen 231-fachen Mörder in der Richterrobe auf freien Fuß setzen, weil seine Mordtaten zur Tatzeit der staatlichen Normalität entsprachen, dann sind sie in einem demokratischen Staat nicht tragbar“.

Die Springer-Presse hingegen feierte das Urteil. In der „Welt“ las man: „Die Kritik am Rehse-Urteil darf keinen deutschen Richter daran hindern, andere Angeklagte in anderen NS-Prozessen freizusprechen.“ Die Sorge war unberechtigt, denn nach 1968 gab es kein solches Verfahren mehr. Kollegiales Schulterklopfen für das Berliner Schwurgericht kam just von einem der BGH-Richter, die Rehse mit ihrer Entscheidung vom 30. April 1968 einen Freifahrtschein in die Hand gaben. Richter Börker gratulierte am 11. Dezember 1968 in einem Leserbrief an den Westberliner „Tagesspiegel“: „Das mutige Urteil des Schwurgerichts zeigt, dass die Gerichte zum Glück noch immer ohne Furcht vor Reaktionen der eigenen Überzeugung folgen“. Mutig, furchtlos, Denken und Zweifel ausgeschaltet der eigenen Überzeugung folgend – gepriesen sei das westdeutsche Richterideal.

II.

Für den Umgang, besser gesagt den „Nichtumgang“ der bundesdeutschen Justiz mit dem Nazi-Unrecht ihrer Berufskollegen ist der Fall Rehse symptomatisch. Grundlage der Entnazifizierung des Justizbereichs war das Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 20. Oktober 1945 und die Kontrollratsdirektive Nr. 24 vom 12. Januar 1946, die die „Entfernung von Nationalsozialisten und Personen, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstehen“ sowie ein Einstellungsverbot vorsahen. In der Direktive Nr. 24 benannten die Alliierten 36 juristische Institutionen, die zu säubern waren.

Der Militärverwaltung der Sowjetisch Besetzen Zone (SBZ) war bereits Ende Mai 1945 bekannt, dass sich im Osten Deutschlands 2.467 belastete Richter und Staatsanwälte sowie 13.800 Beamte des NS-Justizdienstes aufhielten. Vom belasteten Personenkreis, insgesamt: 16.267, wurden bis Ende 1945 10.457 ihrer Ämter enthoben. Mit ihrem Befehl Nr. 201 vom 16. August 1947 legte die Sowjetische Militäradministration (SMAD) die weitere Verfolgung der Kriegsverbrecher, Mitglieder verbrecherischer Organisationen und führender Naziaktivisten in die Hände der deutschen Justizorgane.

Bereits ab November 1947 waren 105 Richter und Staatsanwälte mit der weiteren Strafverfolgung befasst. Die personelle Lücke, die in der SBZ durch die Entlassung belasteter Juristen entstanden war, wurde nach und nach durch die Absolventen der 1946 errichteten Volksrichterschule geschlossen. In den Westzonen dagegen fluteten derweil Nazi-Juristen Gerichte, Staatsanwaltschaften, Polizei und Behörden. Nur ein paar Zahlen: In der Zeit von 1949 bis 1973 hatten 90 der 170 leitenden Juristen des Bundesjustizministeriums ein Mitgliedsbuch der NSDAP, 34 gehörten der SA an. Stand 1954 waren 74 Prozent der westdeutschen Amtsrichter, 68,3 Prozent der Richter am Landgericht, 88,3 der Richter an Oberlandesgerichten und 74,7 Prozent der Bundesrichter „Altgediente“. Der erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), Hermann Höpker-Aschoff, leitete von 1940 bis Kriegsende die „Haupttreuhandstelle Ost“, die im unterjochten Polen für die Beschlagnahme und Neuverteilung polnischen und jüdischen Eigentums zuständig war. Zum Personaltableau des Bundeskriminalamts (BKA) gehörten 1954 92 Beamte (von 247), die vor 1945 im Dienst der NS-Strafverfolgungsorgane standen.

Beim Bundesnachrichtendienst (BND), der vom vormaligen Leiter der Wehrmachtsabteilung „Fremde Heere Ost“ und Mitorganisator des Überfalls auf die Sowjetunion 1941, Reinhard Gehlen, gegründet worden war, reüssierte Mitte der 1950er Jahre sein Weggefährte Helmut Schreiber. Vor 1945 war Schneider Mitglied der Totenkopfstandarte im KZ Buchenwald, zählte zum Führungsstab der SS-Division „Das Reich“ und war beteiligt am Massaker von Oradour-sur-Glane, bei dem am 10. Juni 1944 ein ganzes Dorf ausgelöscht wurde. Er ging 1980 unbescholten in Rente.

III.

Im ersten Stock des BGH-Hauptgebäudes hängt bis heute eine Gedenktafel aus grauem Muschelkalk und goldenen Lettern. Sie gedenkt nicht etwa dem antifaschistischen Widerstand, sondern erinnert an 34 Reichsgerichtsrichter und Staatsanwälte, die kurz nach Kriegsende in Leipzig von der sowjetischen Besatzungsmacht festgenommen wurden. Drei überlebten die Internierung. Einer, Reichsgerichtsrat August Schäfer, wurde am 16. Januar 1950 entlassen und später Präsident des OLG Bamberg.

Zwei wurden in den Waldheimer Prozessen in der DDR 1950 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Im Januar des gleichen Jahres hatte die SMAD sämtliche Internierungslager für NS-Täter in der DDR aufgelöst. 10.000 gering Belastete kamen frei, etwa 10.500 durch sowjetische Militärtribunale Verurteilte übergab man der DDR-Staatsanwaltschaft zur Vollstreckung der Strafen. Gegen weitere 3.442 schwer Belastete, davon 130 Richter und Staatsanwälte, sollte im Frühsommer 1950 vor Strafgerichten der DDR verhandelt werden. 1.901 wurden zu Freiheitsstrafen zwischen 15 und 25 Jahren verurteilt, 146 Angeklagte erhielten lebenslänglich, fünf Strafen bis zu vier Jahren. Es ergingen 32 Todesurteile, von denen 24 vollstreckt wurden. In den Folgejahren begnadigten die DDR-Strafvollstreckungsbehörden zahlreiche Verurteilte, Ende 1956 befanden sich nur noch 30 in Haft.

Eine der Richterinnen in den Waldheim-Verfahren war Irmgard Jendretzky, Beisitzerin eines Revisionsgerichts. Das Landgericht Leipzig verurteilte sie am 28. November 1997 wegen Rechtsbeugung in 12 Fällen und Totschlag in fünf Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Vorgeworfen wurden ihr Entscheidungen, die sie 47 Jahre zuvor getroffen hatte. Es ging um Fälle wie den des Oberstabsrichters Walter Schmidt, der wegen Wehrkraftzersetzung in den besetzten Gebieten mindestens fünf Menschen in den Tod schickte, das Verfahren gegen den Nazi-Staatsanwalt Klaus Rosenmüller, der 15 Todesurteile zeichnete, die Sache gegen SS-Obersturmbannführer und Militärrichter Horst Rechenbach, verantwortlich für 30 Todesurteile, den Fall des SS-Kommandoführers Karl Steinberg, der als Aufseher im KZ Auschwitz an Hinrichtungen von Häftlingen beteiligt war und das Verfahren gegen Major Friedrich Heinicke, bekannt geworden als „Henker von Torgau“ – im Wehrmachtsgefängnis Torgau wurden über 1.000 Todesurteile gegen Soldaten vollstreckt. Der BGH wies die Revision von Irmgard Jendretzky ab. Sie habe „unter Anwendung von Besatzungsrecht und unter unkritischer Zugrundelegung der Richtigkeit sowjetischer Vernehmungsprotokolle gegen (…) sog. ‚Naziverbrecher‘ grobe Unrechtsurteile verhängt“. Die von ihr mitunterzeichneten Urteile verkörperten „einen krassen Missbrauch der Strafjustiz zur Durchsetzung machtpolitischer Ziele“. Auch die Verfassungsbeschwerde der Verurteilten blieb erfolglos. Sie habe das Recht gebeugt, da „allgemein anerkannte Menschenrechte der Betroffenen in schwerwiegender Weise missachtet wurden“, beschloss das BVerfG am 13. April 1999.

Unmittelbar nach dem 3. Oktober 1990 wurden gegen über 100.000 Bürger der DDR Strafverfahren wegen angeblich vor 1989 begangener Straftaten eingeleitet. Ganz anders als im Westdeutschland der 1950er Jahre, als es um die Verfolgung des Nazi-Unrechts ging, leitete man jetzt eilig und flächendeckend Strafverfahren ein. Wegen Rechtsbeugung waren 374 Verfahren gegen 618 Juristen anhängig, 181 Richter und Staatsanwälte der DDR wurden verurteilt.

Weshalb war nunmehr die Verfolgung von Richtern, die ihre Entscheidungen auf Gesetz und eigene Überzeugung stützten, durch die bundesdeutsche Justiz geschmeidig möglich, während die Todesurteile fanatischer Nazi-Richter über 50 Jahre ungeahndet blieben? Warum war die hundertfache Verurteilung zum Tode durch Blutrichter Rehse keine „schwerwiegende Missachtung anerkannter Menschenrechte“, die Aburteilung des „Henkers von Torgau“ dagegen schon? Das eine Mal „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“, das andere Mal Siegerjustiz? Oder doch nur ganz schlicht, wie es 2011 der Augsburger Strafrechtsprofessor Arnd Koch in einem Aufsatz zu den Wandlungen des BGH zusammenfasste: „Rechtsmethodisch handelte es sich um eine ergebnisorientierte Auslegung.“

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

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