Eine Zivilisationsaufgabe des 21. Jahrhunderts

Frauenrecht als Menschenrecht

Helga E. Hörz

Auch in diesem Jahr haben Frauen am 8. März weltweit ihre Menschenrechte eingeklagt. Sie forderten die Überwindung der noch existierenden Einengung ihres Selbstbestimmungsrechts. Eigentlich ist Selbstbestimmung ein zentrales Recht aller Menschen – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität oder Religion. Dennoch existieren unterschiedliche Formen der Einengung des Selbstbestimmungsrechts, vor allem für Frauen, in verschiedenen Ländern der Welt bis heute. So werden in einigen Staaten Mädchen vom Schulbesuch ausgeschlossen. 30 Millionen sollen es sein – die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. Oft werden diese Mädchen dann in jungen Jahren zwangsverheiratet.

Rechtlosigkeit in vielen Teilen der Welt

Für Frauen galt und gilt auch heute noch in vielen Teilen der Welt, dass der Vater oder Ehemann für die abhängige Tochter oder Frau alle Entscheidungen trifft. Bei Ehefrauen erhielt der Mann per Gesetz den Alleinvertretungsanspruch. Das betraf und betrifft dort, wo dieses Gesetz noch gilt, alle Angelegenheiten des Familien- und Ehelebens. Die Frauen konnten und können keinen Landbesitz erwerben, kein eigenes Konto führen, ohne Erlaubnis des Mannes keine bezahlte Arbeit annehmen. Es fehlt dort ein Familienrecht, das Zwangsehen verbietet, den Frauen gleiche Erziehungsrechte und gleiches Recht auf Ehescheidung zugesteht. Sie haben kein Recht auf Verhütungsmittel, kein Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Kein Strafrecht schützt Frauen vor Vergewaltigungen und anderer Gewaltanwendung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie. Wo es entsprechende Gesetze gibt, ist ihre Realisierung und Kontrolle damit noch lange nicht gewährleistet.

Eine entsprechende Auflistung der Verletzung von Frauenrechten als Menschenrechte nahm die 4. UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking vor. In der Millenniums-Erklärung der UN-Vollversammlung 2000 und der Agenda 2030 werden diese Fehlleistungen noch durch die Forderung ergänzt, den Hunger in der Welt, von dem auch besonders Frauen und Kinder betroffen sind, zu beseitigen. Über die spezifischen Strukturen und Organe der UN werden die Mitgliedstaaten in die Pflicht genommen, das Zivilisationsproblem der doppelten Unterdrückung der Frau, einschließlich des fehlenden Selbstbestimmungsrechts, zu überwinden.

Geteilte Macht und Verantwortung

Frauenrechte als Menschenrechte durchzusetzen und damit den Frauen zu ihrem Selbstbestimmungsrecht zu verhelfen ist also eine Zivilisationsaufgabe des 21. Jahrhunderts. Die derzeitige Situation veranlasste den Generalsekretär der UN, António Guterres, in diesem Jahr zu der Feststellung, dass eine echte Gleichstellung von Frauen und Männern noch „300 Jahre entfernt“ sei.

Die UN-Sonderberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen und Mädchen beklagte, dass Versuche von Frauen, den Internationalen Frauentag, der für Frieden, Gleichberechtigung und Entwicklung festgeschrieben wurde, zu begehen, auf Widerstand stießen. Dabei wird auch in den UN seit 1977 der Internationale Frauentag begangen. Es war ein Erfolg, für den lange auch in der 1946 gegründeten „Kommission für den Rechtsstatus der Frau“, in der ich als Staatenvertreterin der DDR ehrenamtlich 15 Jahre mitgearbeitet habe, gerungen wurde.

UN-Dokumente, die spezielle Strategien für die bessere Integration von Frauen in das gesellschaftliche Leben entwickeln, fordern, dass die Regierungen aller den UN angehörenden Staaten ihre Anstrengungen zu erhöhen haben, um an der Beseitigung von Hindernissen mitzuwirken, die der aktiven Teilhabe der Frauen in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens entgegenstehen. Die volle und gleichberechtigte Mitwirkung an den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entscheidungen muss sichergestellt werden. Dies bedeutet, dass in der Privatsphäre, am Arbeitsplatz und im gesamten sozialen Umfeld für Frauen und Männer der Grundsatz geteilter Macht und geteilter Verantwortung durchgesetzt werden soll. Das ist nur in einem langwierigen Prozess gesellschaftlicher und individueller Auseinandersetzungen möglich.

Unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen

Das muss auch bedacht werden, wenn über die Lage der Frauen in der ehemaligen DDR und der früheren und jetzigen BRD gesprochen wird. Es zeigt sich, wie unterschiedlich die Ausgangsvoraussetzungen beider deutscher Staaten bei der Umsetzung von UN-Recht waren. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Die „UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“, an deren Ausarbeitung ich beteiligt war, wurde 1980 von der DDR als zweitem Staat der Welt (der erste war Schweden) durch den Staatsrat ratifiziert. Die BRD ratifizierte sie erst 1985, kurz vor der 3. UN-Weltfrauenkonferenz. Inzwischen haben 189 Staaten die Konvention ratifiziert und müssen alle vier Jahre vor einem Ausschuss über die Umsetzung berichten.

Die schnelle Ratifizierung der Konvention in der DDR war ein Akt der Unterstützung für Frauen in der Welt, deren Menschenrechte verletzt wurden, und zugleich Ausdruck dafür, dass in der DDR Frauenrechte als allgemeine Menschenrechte verstanden wurden. Trotzdem traten bei der Realisierung manchmal staatliche, betriebliche und persönliche Hemmnisse auf.

Verfassungsmäßig garantierte soziale Rechte

In der früheren BRD wurden Staatsziele und politisch-soziale Maßnahmen in dieser Richtung – abgesehen von den allgemeinen Verfassungsgrundsätzen – vor allem durch Druck von unten erreicht. Dabei waren Menschenrechte, fortgesetzt im vereinigten Deutschland, selektiv gefasst. Die in der DDR verfassungsmäßig verankerten sozialen Rechte – das Recht auf Arbeit, gleiche Bildung, Wohnung, gleichen Lohn für gleiche Arbeit – wurden und werden vom bundesdeutschen Staat nicht garantiert.

Frauenrechte als allgemeine Menschenrechte umfassen – so kann man auf der Grundlage von UN-Dokumenten und im Ergebnis politisch-sozialer Erfahrungen und Kämpfe festhalten – die volle Verwirklichung der Bürgerrechte, der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte. Das bedeutet die rechtliche Garantie und die Maßnahmen zu ihrer Verwirklichung beim Recht auf Arbeit, auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, auf gleiche Bildung in allen Stufen des Bildungssystems von der Vorschule bis zur akademischen und Berufsausbildung sowie Weiterbildung, auf soziale Sicherheit, einschließlich Obdach. Allgemeine Menschenrechte und die in Verfassungen und staatlichen Gesetzen eines Landes festgeschriebenen Grundrechte stehen in Beziehung zueinander. Das galt für die DDR und die BRD und gilt nun für das heutige Deutschland. Sie sind unteilbar und müssen im staatlichen Recht ausgedrückt und durch flankierende Maßnahmen realisierbar sein und realisiert werden. Das erfordert öffentlichen Druck auf Politik und Wirtschaft.

Eigenverantwortung und Mitwirkung

Jeder demokratische Staat ist in seiner Entwicklung daran zu messen, welche Garantien er für die Gleichberechtigung der Frau gibt. Das nimmt der Frau und dem einzelnen Mann die Verantwortung für das eigene Verhalten nicht ab. Wer seine Eigenverantwortung wahrnahm, übernahm auch Verantwortung für andere. So haben Frauen, die schon 1946 in der damaligen SBZ aufgrund des SMAD-Befehls 253 gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhielten, in den 1950er Jahren an der Ausarbeitung von drei für die Gleichberechtigung wichtigen Gesetzen entscheidend mitgewirkt: erstens an der DDR-Verfassung von 1949, zweitens am Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau 1950, drittens am Entwurf eines Familiengesetzes, das 1965 in Kraft trat. Die mit einer Fraktion in der Volkskammer vertretene Frauenorganisation DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands) war daran maßgeblich beteiligt.

Gleiche Rechtsstellung in allen Bereichen

In der Verfassung der DDR war die Gleichberechtigung der Frau Bestandteil der Ablehnung jeglicher Diskriminierung einer Menschengruppe. Danach hatten Frau und Mann „die gleiche Rechtsstellung in allen Bereichen des gesellschaftlichen, staatlichen und persönlichen Lebens“. Die individuellen Menschenrechte wurden darum nicht als isolierte Männer-, Frauen- und Kinderrechte erfasst, sondern als politische, wirtschaftliche und soziale Rechte, die der Staat garantierte und jeder einzelne Bürger realisierte, wobei er bei seiner Kritik an nicht diesen Standards entsprechenden Zuständen staatliche Unterstützung fand. Dabei erfolgte die Gleichstellung der Geschlechter immer unter dem Einfluss dessen, was geschichtlich gewachsen und daher aufgearbeitet oder überwunden werden musste – das Erbe war älter als 2000 Jahre. Frauen haben lange um ihre Schul- und Berufsausbildung kämpfen müssen und damit um ihr Selbstbestimmungsrecht – die Geschichte liefert dafür viele Beispiele. Wer das berücksichtigt, kann den Fortschritt des Erreichten in der Geschlechtergleichstellung in der DDR ermessen und versteht Widersprüchliches als Ausdruck des Aufeinandertreffens von geschichtlich Gewordenem und Neuem.

Fortschritte und Hindernisse

Der generelle Fortschritt schloss Regression und Stagnation ein. 1949 hatten nur 5 Prozent der Frauen eine Berufsausbildung, 1957 waren noch 35 Prozent Hausfrauen. Gegen Ende der staatlichen Existenz der DDR, im Jahr 1988, verfügten 84 Prozent aller weiblichen Beschäftigten über eine abgeschlossene Ausbildung als Facharbeiterin, Meisterin, Hoch- oder Fachschulabsolventin. Seit Mitte der 1980er Jahre gab es keine statistisch wesentlichen Unterschiede mehr im formalen Qualifikationsniveau von Frauen und Männern – eine der wesentlichen Ursachen für das gewachsene geistig-kulturelle Anspruchsniveau von Frauen und Männern an die Gleichstellung auch in Ehe und Familie.

Das schloss Widersprüche und Konflikte, die aus der Belastung der Frauen mit Anforderungen der Berufstätigkeit, der beruflichen Weiterbildung und ihren Verpflichtungen als Ehefrau und Mutter erwuchsen, manchmal ein. Männer waren nicht immer den Anforderungen ihrer Frauen gewachsen, patriarchalische Haltungen verschwanden nicht automatisch. Auch die Mutterschaft führte zuweilen – trotz sehr guter Betreuung unter der Obhut der medizinisch und pädagogisch ausgebildeten Fachkräfte – zu Konflikten. So war die hohe Scheidungsquote zwar einerseits ein Indiz für unbewältigte Konflikte, andererseits jedoch auch Ausdruck gewachsenen Selbstbewusstseins von Frauen. Berufstätigkeit war für sie eine Selbstverständlichkeit. Sie arbeiteten nicht allein aus Gründen der materiellen Besserstellung der Familie, sondern holten sich Selbstachtung für ihre eigene Würde und lebten Fähigkeiten und Fertigkeiten als Persönlichkeit aus. Familie und Beruf brachten aber nicht nur Konflikte mit sich, sondern auch die Kraft, Probleme zu lösen. Trotz vieler juristischer und praktischer Voraussetzungen war der Weg der Frau dennoch oft schwerer als der des Mannes.

Schwierige Bedingungen

Diese Entwicklung der DDR bei der Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts aller ihrer Bürger erfolgte unter schwierigen Außenbedingungen. Es waren Reparationsleistungen an die Sowjetunion zu zahlen und Embargos, Sabotage und Angriffe auf Funktionäre zu verkraften. 1950 warnten die USA, Britannien und Frankreich auf ihrer Außenministerkonferenz alle Länder davor, diplomatische Beziehungen zur DDR herzustellen. Von der BRD wurde dies noch verschärft durch die Hallstein-Doktrin: Allen Staaten der Welt wurde mitgeteilt, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR von der BRD als „unfreundlicher Akt“ betrachtet würde. Das hat sicher dazu beigetragen, dass die DDR erst 1973 Mitglied der UN wurde. Diese Außenbedingungen hatten immer auch Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung der Menschen in der DDR. Das soll nicht weiter ausgeführt werden, sondern nur genannt, weil es zeigt, welche Umstände zu berücksichtigen sind, wenn man gesellschaftliche Entwicklungen und in unter solchen Lebensverhältnissen lebende Menschen verstehen will. Die Wiedervereinigung wäre für Deutschland eine historische Chance gewesen, mit Toleranz und humanistisch orientierten Konzepten zwei wirtschaftlich, sozial, politisch und kulturell unterschiedliche gesellschaftliche Systeme mit ihren Nach- und Vorteilen zum Nutzen des Ganzen zusammenzuführen. Eine sachliche Analyse des erreichten Standes bei der Gleichstellung der Geschlechter, die Anerkennung unterschiedlicher Biografien, die Umsetzung der Menschenrechte als Frauenrechte hätte die Wiedervereinigung bestimmen müssen. Damit wäre Deutschland beispielhaft gewesen, wie die Transformation vom Frühsozialismus zu einem System der sozialen Marktwirtschaft unter Achtung der Würde der Frauen und aller Bürger beider Staaten und unter Erhalt des schon Erreichten human verlaufen könnte. Lehren aus der eigenen Geschichte wären damit in Strategien umgesetzt worden, die dem Wohl der Menschen dienen und nicht zu ihrem Nachteil ausfallen. Diese Chance wurde vertan.

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"Frauenrecht als Menschenrecht", UZ vom 31. März 2023



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