Die Europastrategie des deutschen Kapitals

Alte Muster: eine Traditionslinie

Anfang des Monats wurde die neue Ausgabe der „Marxistischen Blätter“ ausgeliefert. Das Heft widmet sich den beiden Jahrestagen der Gründung der zwei deutschen Staaten nach 1945. Die Autorinnen und Autoren beleuchten die Kämpfe für einen antifaschistisch-demokratischen Neuanfang sowie die Spaltung Deutschlands mit der Restauration des Imperialismus in der BRD und dem sozialistischen Aufbau in der DDR. Wir drucken hier eine gekürzte und redaktionell geringfügig bearbeitete Version des Beitrags von Beate Landefeld ab.

Kapital muss expandieren, um in der Konkurrenz zu bestehen. Nationale Grenzen wurden dabei von Beginn an überschritten – Britanniens Rolle als Großmacht beruhte auf seinen Kolonien. Schon 1841, Jahrzehnte vor der Reichsgründung, beschäftigte sich Friedrich List, der erste bedeutende Ökonom des deutschen Bürgertums, mit der „Mitteleuropaidee“. Ausgehend von der geografischen Lage und Größe Deutschlands bildet sie bis heute den Kern der Europastrategien des deutschen Kapitals. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass Wirtschaftsgroßräume günstigere ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten bieten als kleine Länder.

Traditionen deutscher Europastrategie

Um den Abstand zum ökonomisch führenden Britannien zu verringern, empfahl List, die Niederlande mitsamt ihren Kolonien „zum Anschluss an den Zollverein zu zwingen“. Anzustreben sei eine „Continental-Allianz“, in der später auch Britannien vor der künftigen „amerikanischen Übermacht“ Schutz suchen könne.

1904 gründeten Volkswirte, Industrielle und Verbände den „Mitteleuropäischen Wirtschaftstag“ mit Filialen in Österreich und Ungarn. Neben diese eher „liberale“ Tradition bürgerlicher Europastrategien trat im Übergang zum Monopolkapitalismus eine reaktionäre, sozialdarwinistische, nach innen und außen aggressivere Linie, gefördert von Kreisen der Schwerindustrie und des Junkertums. Ihre Ideologen sammelten sich im Alldeutschen Verband (1891 bis 1939). Ziele waren deutsche Weltmachtgeltung, der Anschluss deutscher Teile Österreichs und der Schweiz ans Reich und Kolonialbesitz. Militarismus, Chauvinismus, Antisemitismus und Rassismus wurden gefördert.

Nach Beginn des Ersten Weltkriegs griffen Großeigentümer und Konzernvertreter beider Richtungen rege in die Kriegszieldiskussion ein – mit Denkschriften, deren Inhalte zum Teil in das „September-Programm“ des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg eingingen. Der Schwerindustrie ging es dabei primär um die Eroberung französischer Eisenerzgebiete in Lothringen. Die „Mitteleuropäer“ legten besonderen Wert auf die Südostexpansion. Einer von ihnen, Paul Rohrbach, empfahl, das Russische Reich in seine „natürlichen, geschichtlichen und ethnischen Bestandteile zu zerlegen“ („Orangentheorie“). Im Kriegsverlauf verschmolzen die Ziele beider Gruppen und harmonisierten umso mehr miteinander, „je größer die Siegesaussichten erschienen“.

Kriegsniederlage und Novemberrevolution führten im staatsmonopolistischen Machtkartell zur Dominanz der „liberalen“ Variante imperialistischer Politik. Ihre Träger waren die „neuen“ Industrien der Elektro- und Chemiebranche. Innenpolitisch setzten sie auf Einbeziehung der SPD in die Regierung.

Adolf Hitlers Machtübernahme billigten beide Gruppen. Im Machtkartell wurde nach 1933 die Gruppe der Schwerindustriellen und Großagrarier dominant. 1936 gewann – angesichts eines Roh- und Werkstoffmangels in der Rüstungsproduktion – die Gruppe der Chemieindustrie erneut die Oberhand. Nach Kriegsbeginn bedienten sich beide Kapitalgruppen im Zuge der „Arisierungen“ in annektierten und besetzten Ländern. Wie im Ersten Weltkrieg schmolzen ihre Kriegszieldifferenzen in Phasen militärischer Erfolge dahin. Zudem beschleunigte der Faschismus ihre Verflechtung untereinander. Die nunmehr forcierte „Großraumpolitik“ schloss – über die traditionelle Südostrichtung hinaus – die „Germanisierung“ von Gebieten und Versklavung von Völkern der Sowjetunion bis zum Ural ein.

Man sollte grundsätzlich nur von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und technischen Schwergewicht Deutschlands und seiner geografischen Lage.“ (Denkschrift der NSDAP, 1942)

Als sich 1944 die deutsche Kriegsniederlage abzeichnete, gingen Versuche, mit den Westmächten zu einem Separatfrieden zu kommen, noch einmal von den „neuen Industrien“ aus – im Vorgriff auf die dann die Nachkriegszeit prägenden Europastrategien der gesamten deutschen Monopolbourgeoisie. Sie setzte nach 1945 auf die gemeinsame Frontstellung mit den Eliten der Westmächte gegen die Sowjetunion. An die Idee des europäischen Wirtschaftsgroßraums ließ sich dabei nahezu nahtlos anknüpfen.

Westintegration und Restauration Hand in Hand

Die Niederlage Nazideutschlands veränderte die internationalen Kräfteverhältnisse tiefgehend. Die USA etablierten sich als stärkste Macht des Kapitalismus. Im Befreiungskampf der europäischen Völker, dessen Hauptlast die Sowjetunion trug, waren überall antifaschistische Kräfte und kommunistische Parteien erstarkt. Sie leiteten in vielen Ländern revolutionäre Umwälzungen ein.

1947 gingen die USA zur Politik des Kalten Krieges, der Eindämmung und des Rollback des Sozialismus über. Ab 1948 flossen auf Basis des European Recovery Program (Marshallplan) Gelder der USA an 16 westeuropäische Länder, die Türkei und die Westzonen Deutschlands. Die USA wollten mit dem Marshallplan einer Ausbreitung des Kommunismus in Europa vorbeugen. Zudem schuf er Nachfrage für Waren der USA und half, ihre Kriegswirtschaft auf Friedenswirtschaft umzustellen.

Im selben Jahr sorgte die separate Währungsreform in den Westzonen und Westberlin, die die Besitzer von Sachwerten begünstigte, für Umverteilung von unten nach oben und den Abbau von Preiskontrollen. Gegen Preiserhöhungen kam es Ende 1948 zu Massenaktionen der Gewerkschaften bis hin zum Generalstreik. Auf die illegale Einbeziehung Westberlins in die Währungsreform reagierte die Sowjetunion mit der sogenannten „Berlin-Blockade“. Das nutzten die bürgerlichen Medien im Westen, um hysterischen Antikommunismus zu entfesseln.

1949 bildeten Frankreich, Britannien, die USA und die Beneluxstaaten die „Internationale Ruhrbehörde“ zur Kontrolle der Produktion von Kohle und Stahl im Ruhrgebiet. Das auch von der SPD damals noch verfolgte Ziel der Sozialisierung der Schwerindustrie unter Mitbestimmung der Gewerkschaften war damit ausgehebelt. Stattdessen kam es zur kapitalistischen „Entflechtung“ durch Ausgliederungen sowie durch Tausch und Verkauf von Aktienpaketen. Auf ähnliche Weise wurde die Chemieindustrie „entflochten“.

Das Ruhrstatut wurde 1951 durch die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS – Montanunion) abgelöst, einem Kartell der Konzerne der Montanindustrie Frankreichs, der BRD, der Beneluxländer und Italiens. Frankreich erhoffte sich damit Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Schwerindustrie; die junge BRD wollte sich vom Besatzungsstatus lösen. Die EGKS war die Keimzelle von Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäischer Union (EU).

Spaltung und Kalter Krieg

Ökonomische Spaltungsschritte und Westintegration gingen der politischen Spaltung in Form der Gründung der BRD 1949 voraus. Die Spaltung war weder zwangsläufig noch alternativlos. Sie war von der deutschen Großbourgeoisie gewollt, die darin ihre Chance sah, einer Entwicklung zu entgehen, welche die bürgerliche Geschichtsschreibung als „Sowjetisierung“ bezeichnet: einer antifaschistisch-demokratischen Erneuerung, die – bei entsprechenden Kräfteverhältnissen – im Sozialismus münden kann. Diesem Risiko zog die deutsche Bourgeoisie die Option vor, ihre Macht unter den Fittichen der USA zu restaurieren sowie Akzeptanz und Wiederaufstieg im Schoß der Eliten des „freien Westens“ zu suchen. „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb“, beschrieb Bundeskanzler Konrad Adenauer die Entscheidung 1953.

Was mit dem Label „Sowjetisierung“ als erzwungene Fremdsteuerung dargestellt wird, waren demokratisch-antifaschistische Bestrebungen der Bevölkerung, die es nach 1945 in ganz Deutschland gab. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurden sie von der Besatzungsmacht gefördert, in den Westzonen behindert oder verboten. Die Kräfteverhältnisse im Klassenkampf führten zur Bildung des Separatstaats BRD und zur deutschen Spaltung. In diese Kräfteverhältnisse ging die Politik der Besatzungsmächte als eine Komponente mit ein.

Mit der Berlin-Krise verschwanden in den bürgerlichen Parteien die 1945 verbreiteten pazifistischen Bekenntnisse, an ihrer Stelle ertönten Rufe nach Wiederbewaffnung. 1949 entstand die NATO als US-geführtes Militärbündnis gegen den Sozialismus. Die Einbeziehung Westdeutschlands in den Militärpakt stand für die USA von vornherein fest und war für sie sogar ein Beweggrund für die Gründung der BRD. Wegen ihrer Gebietsansprüche im Osten und des Viermächte-Status Berlins eignete sich die BRD ideal als Spannungsherd und Rammbock gegen den Osten.

Gegen die Remilitarisierung gab es in der BRD eine starke Bewegung. Die KPD war ein Teil davon, sie umfasste aber auch Sozialdemokraten, Gewerkschafter und antimilitaristische Kreise des Bürgertums. Trotz aufgepeitschtem Antikommunismus, Verhaftungen und Verfolgung stimmten bis zum Verbot einer Volksbefragung zur Wiederbewaffnung fast zehn Millionen Menschen gegen die Remilitarisierung. 1955 kam es zum NATO-Beitritt und zur Bundeswehrgründung, 1956 zum KPD-Verbot.

Entspannungsphase und zweiter Kalter Krieg

Bis in die 1960er-Jahre schrieb man in der BRD den Namen des zweiten deutschen Staates, der DDR, in Gänsefüßchen. Im Rahmen der „Hallstein-Doktrin“ stufte die Bundesregierung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR durch Drittstaaten als „unfreundlichen Akt“ ein – im Fall Jugoslawiens und Kubas brach sie die Beziehungen ab. Doch im Zuge des Zusammenbruchs des Kolonialsystems entstanden immer mehr Länder, die die DDR anerkannten. Zudem gingen nach der Kuba-Krise 1962 US-Präsident John F. Kennedy und der Staatschef der UdSSR Nikita Chruschtschow zur Politik der Entspannung über. Die BRD lief Gefahr, sich international zu isolieren.

Im Bonner Bundestag begriff zuerst die SPD den Geist der neuen Zeit, während die CDU/CSU als Hauptpartei des Monopolkapitals an der Politik der Stärke festhielt. Erst 1972 passte sich – unter dem Druck der Friedensbewegung und nach heftigen Auseinandersetzungen bis hin zum Misstrauensantrag gegen die Brandt-Scheel-Regierung – der Bundestag den Realitäten an und es kam zur Anerkennung der Grenzen zu Polen und zur DDR. Die Entspannungspolitik hob die kapitalistische Expansionstendenz Richtung Osten nicht auf, unterzog sie aber einem Formwandel: An die Stelle der Rückeroberung trat der „Wandel durch Annäherung“ (Egon Bahr).

Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 und dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus sah sich der Westen als Sieger im Kalten Krieg – dies dauerte bis zur Krise 2008 und Folgejahre. Um die Krise zu bewältigen, musste China in die globale Regulierung einbezogen werden.

China hatte vor dem Hintergrund der Spaltung der kommunistischen Weltbewegung seit 1971 seine Beziehungen zu den USA verbessert und 1978 die „Politik der Öffnung und Reform“ eingeleitet, in deren Verlauf das Land zum begehrten Investitionsstandort der Großkonzerne der USA und anderer kapitalistischer Länder wurde. China bewahrte seine Wirtschaftssouveränität als Voraussetzung für die Organisierung eines Technologietransfers mittels des Aufstiegs von der Low-End- zur High-End-Produktion innerhalb der Wertschöpfungsketten internationaler Konzerne.

Der deutsche Imperialismus profitierte vom „unipolaren Moment“ besonders stark. Die Einverleibung der DDR stärkte seine Dominanz in der EU. Die Ostexpansion von EU und NATO ermöglichte eine weitgehende Realisierung alter Träume vom „europäischen Wirtschaftsgroßraum“. Die Ostexpansion erfolgte aus einer Position der Stärke, die es erlaubte, Russlands Sicherheitsinteressen zu ignorieren. Die Expansion verlief keineswegs nur „friedlich“. Sie schloss Konfrontationen, Kriege und Regime Changes ein – vom Jugoslawienkrieg über Belarus bis zur Ukraine.

Während des „unipolaren Moments“ überwog in der Politik des Westens gegenüber Russland und China zunächst eine Strategie der Integration in das US-geführte imperialistische Weltsystem. Russland war die Rolle eines Rohstofflieferanten und Absatzmarkts für westliche Waren zugedacht. Auf Chinas großem Markt mussten Kapitalisten präsent sein – sie setzten auf weitere „Liberalisierung“. Nach 2000 bremste Wladimir Putin den Ausverkauf russischer Ressourcen an westliches Finanzkapital. Putins Verteidigung der Souveränität der Russischen Föderation und Chinas Aufstieg bewirkten den Strategiewechsel der USA von einer Strategie der Integration zu einer erneuten Strategie der Eindämmung und des Rollback, zu einem neuen Kalten Krieg. Die politische Klasse der BRD zog 2013 mit der Studie „Neue Macht – neue Verantwortung“ des German Marshall Fund und der Stiftung Wissenschaft und Politik nach.

Der Ukraine-Krieg ab 2014 und erneut seit 2022 zielt seitens NATO und EU auf die Fortsetzung ungehinderter Ostexpansion. Mitte 2022, als man die ukrainische Bandera-Armee auf der Siegerstraße wähnte, kursierten in transatlantischen Außenpolitik-Magazinen und auf einer illustren Konferenz im EU-Gebäude in Brüssel erneut Pläne zur Aufteilung Russlands nach Putins Sturz – das Muster blieb Rohrbachs „Orangentheorie“ aus dem Ersten Weltkrieg. Ende 2023 zeichnet sich die Niederlage der NATO-Proxy-Armee in der Ukraine ab. Zwar reagiert EU-Chefin Ursula von der Leyen mit beschleunigten Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und einigen Balkanländern und kündigt Bundeskanzler Olaf Scholz die Verdoppelung der deutschen Militärhilfe in einem langen Krieg an, aber der Ukraine gehen die Soldaten und die Munition aus.

Russland scheint die Ostexpansion – wieder einmal – gestoppt zu haben.

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Über die Autorin

Beate Landefeld (Jahrgang 1944) ist Hotelfachfrau und Autorin.

Landefeld studierte ab 1968 Literaturwissenschaft und Soziologie an der Universität Hamburg, war Vorsitzende des Allgemeinen Studentenausschusses, Mitbegründerin des MSB Spartakus. 1971-1990 war sie im Parteivorstand der DKP, 1977-1979 Bundesvorsitzende des MSB Spartakus, später auf Bezirks- und Bundesebene Funktionärin der DKP.

Landefeld ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter. 2017 veröffentlichte sie bei PapyRossa in der Reihe Basiswissen das Buch „Revolution“.

Für die UZ schreibt Landefeld eine monatliche Kolumne.

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"Alte Muster: eine Traditionslinie", UZ vom 19. Januar 2024



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