Lebendige Erinnerungskultur in Oberhausen

Ernst Kircher, der „Zirkus Konzentrazani“ und die deutsche Revolution 1848

Klaus Oberschewen

Ernst Kircher wurde am 3. Februar 1909 in Oberhausen geboren. Er war Mitglied der KPD und bis 1933 Stadtverordneter. Nach der Machtübertragung an Adolf Hitler und die NSDAP lebte er illegal in Oberhausen und Umgebung, weil er aufgrund seiner Bekanntheit in der Stadt ständig mit der Verhaftung rechnen musste. Aber Ernst konnte nicht entkommen – am 6. Mai 1933 kam er mit vielen anderen Antifaschisten in „Schutzhaft“ in den Polizeigefängnissen von Oberhausen und Anrath. Im Sommer 1933 wurde er ins Emslandlager Börgermoor bei Papenburg überführt. In den zahlreichen Lagern dieser Gegend mussten die Inhaftierten Sklavenarbeit leisten, um die unfruchtbaren Moore urbar zu machen und Torf abzubauen. Hier trafen sich viele Antifaschisten aus dem Ruhrgebiet wieder, nahmen Kontakte unter den erschwerten Bedingungen auf und organisierten den Widerstand in den Lagern.

Kultur hinter Stacheldraht
Es galt, das Überleben zu sichern, aber auch die kulturelle Identität zu bewahren – so wurden etwa Bildungs- und Gesangsabende veranstaltet. Der Maler Hanns Kralik hielt viele Situationen im Lager in Bildern fest, die Jahre später Zeugnisse der Gewalt der faschistischen Machthaber wurden.

471201 Ernst Kircher - Ernst Kircher, der „Zirkus Konzentrazani“ und die deutsche Revolution 1848 - Antifaschismus, KPD, Widerstand - Kommunalpolitik

Ernst Kircher schloss sich einer Gruppe um den Regisseur Wolfgang Langhoff aus Düsseldorf an, die unter dem Namen „Zirkus Konzentrazani“ vor zahlreichen SA-Wächtern und rund 600 Gefangenen eine mit Akribie vorbereitete und geprobte Revue aufführte. Am 27. August 1933 fand die Uraufführung des dreistündigen Stücks statt mit Ernst als „Direktor Konzentrazani“, der mit subversivem Witz und spielerischer Eleganz die Sketche miteinander in Zusammenhang brachte. Die Zirkusaufführung selbst schilderte in Form einer intelligenten Persiflage die Sorgen und Nöte der Häftlinge in humorvoller, bisweilen frecher Manier. Das Programm bestand aus einer bunten, viele Interessen ansprechenden Mischung sportlich-artistischer und humoristischer Darbietungen, kabarettistischen Einlagen, kleinen Szenen und musikalischen Vorführungen. In ironischer Form kritisierte der „Zirkus Konzentrazani“ die Verhältnisse im Lager und verspottete indirekt die Primitivität der anwesenden Bewacher.

Nach der Entlassung am 23. Dezember 1933 berichtete Ernst seinem Genossen Hans Müller in Oberhausen zum einen von den unmenschlichen Haftbedingungen im Lager Börgermoor, aber auch vom kreativen Widerstand selbst unter diesen Bedingungen. Hans schrieb darüber: „Ernst hatte den Zirkusdirektor gespielt mit einem aus Karton gebastelten Zylinder und langer Peitsche. In Anspielung auf die Behandlungspraktiken der Bewachung führte er eine Raubtierdressur vor, wobei bräunlich angetönte Raubtiere ihren Opfern nachjagten und Panik erzeugten. Ein Clown lief ständig mit einem meterlangen Fernrohr durch die Manege und suchte nach dem verschwundenen Teil der immer kleiner werdenden Verpflegungsportionen. Als Schlussnummer kündigte Ernst den Gefangenenchor an, der zum ersten Mal das eindrucksvolle ‚Moorsoldatenlied‘ vortrug: Welturaufführung des Liedes, das Sinnbild für Widerstand und Solidarität bis zum heutigen Tag geblieben ist.“

Widerstand in Oberhausen
Schnell suchte Ernst Kircher wieder den Kontakt zu seinen Genossen im Widerstand in Alt-Oberhausen/Styrum und beteiligte sich an antifaschistischen Aktionen. Er wurde Mitglied der Widerstandsgruppe junger Kommunisten um Hans Müller und Robert Rentmeister, die im Keller des Josefs-Hospitals in Oberhausen antifaschistische Flugschriften herstellten und unter Lebensgefahr im Stadtgebiet verteilten. In vielen Schriften und Referaten hat Hans über diese politische Arbeit gegen die braune Diktatur berichtet. Er war später selbst Moorsoldat im Aschendorfer Moor und wurde danach für über vier Jahre ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt.

Nach der Verhaftung in Oberhausen wurde Ernst am 20. April 1935 wegen Vorbereitung zum Hochverrat vom OLG Hamm zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt; im Anschluss an die Haft verschleppten ihn die Faschisten ins Konzentrationslager Buchenwald. Am 23. April 1944 wurde er aus dem Konzentrationslager Flossenbürg nach Oberhausen entlassen und wohnte in der Lothringer Straße 132.

Nach der Befreiung
Nach der Befreiung gehörte Ernst Kircher als Abgeordneter der KPD dem ersten Stadtparlament der Stadt Oberhausen an. Dort und in seiner Partei übernahm er zahlreiche Aufgaben im Bereich der kulturellen Bildung und der Geschichte der Arbeiterbewegung. Gemeinsam mit dem ebenfalls im Widerstand aktiven Sozialdemokraten Heinrich Jochem aus Oberhausen-Lirich war er Sprecher eines Ausschusses zur Wiedererrichtung des Denkmals für die Gefallenen des Ruhrkampfes vom März 1920 auf dem Oberhausener Westfriedhof. Das Denkmal war nach 1933 von den Faschisten zerstört worden, blieb aber als Gedenkort und Treffpunkt für viele Einwohner der Stadt im Bewusstsein lebendig. Am 26. Mai 1946 wurde das neue Denkmal unter großer Beteiligung der Oberhausener Bevölkerung feierlich der Öffentlichkeit wieder übergeben. Ernst hielt dabei die beeindruckende Festrede, in der er auf die deutsche Geschichte verwies und forderte, daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen: „Heute gilt es zu vollenden, was 1848 nur schwach begonnen wurde.“

Für Ernst endete die 1848er-Bewegung trotz anfangs erfolgreicher Kämpfe für eine bürgerliche Demokratie mit einer Niederlage der radikalen Demokraten und der noch relativ unorganisierten Arbeiterklasse. Nach dem Sieg der reaktionären Kräfte und drei blutigen Kriegen, den sogenannten „Einigungskriegen“, wurde der preußische König 1871 im Schloss Versailles zum deutschen Kaiser Wilhelm I. ausgerufen. Der neue Kaiser hatte als „Kartätschenprinz“ maßgeblichen Anteil an der Niederschlagung der demokratischen Bewegung, der Ort der Feierlichkeiten war eine Provokation für Frankreich und barg den Keim der Revanche früh in sich. Das deutsche Kapital erlebte unter der halbfeudalen Regentschaft seine „Blütezeit“ (Eric Hobsbawm), unter anderem durch den Bau der Eisenbahn, die Industrialisierung des bisher überwiegend ländlichen Raums sowie gigantische Investitionen in die Kriegs- und Waffenproduktion. Militarismus, Chauvinismus und nationalistische Überheblichkeit, gepaart mit militantem Antisozialismus, waren von nun an vorherrschend in der Gesellschaft.

So kann es nicht verwundern, dass August Thyssen kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs gegenüber der politischen und militärischen Führung des Reiches imperialistische Forderungen und Ziele formulierte: „So bin ich der Meinung, daß Belgien, die Departements Nord- und Pas-de-Calais, das Department Meurthe und Moselle, die Departements Vosges und Haute-Saone dem Deutschen Land als Reichsland einverleibt werden müßten. Rußland muß uns die Ostseeprovinzen, Teile von Polen, das Dongebiet mit Odessa, die Krim und den Kaukasus abtreten, um auf dem Landwege Kleinasien und Persien zu erreichen.“

Lehren aus der Geschichte
Nach der militärischen Niederlage forderten die gleichen Kreise einen Rückzug mit „verbrannter Erde“ und die Zerstörung aller Industrieanlagen, um die Konkurrenz aus Frankreich und Belgien auszuschalten. Ernst Kircher waren durch die ausgezeichnete Bildungsarbeit der KPD in den 1920er-Jahren diese Zusammenhänge wohlbekannt. In seiner Rede 1946 auf dem Westfriedhof führte er weiter aus: „Es gilt heute, den Weg freizumachen für die demokratische Gestaltung unseres gesamten Lebens. Nach einer Zeit furchtbarster Reaktion unter Hitler kann es nun an den Gräbern der Freiheitskämpfer nur ein Bekenntnis und Gelöbnis geben: Den Zusammenschluss aller fortschrittlichen demokratischen Kräfte und eine geschlossene Arbeiterklasse, damit das deutsche Volk niemals wieder diesen Weg geht.“

Ernst schlug hier den historischen Bogen von der bürgerlichen Revolution von 1848 mit dem Kampf gegen die feudalen Strukturen in Preußen über die Forderungen nach Freiheit und Sozialismus der Kämpfer der Roten Ruhrarmee von 1920 zur Situation in Deutschland nach der militärischen Niederlage des Hitlerfaschismus 1945. Er bezog sich dabei auf das „Sieben-Punkte-Aktionsprogramm“ der Widerstandsgruppe „Die Friedenskämpfer“ um Wilhelm Knöchel und Willi Seng vom März 1942: „Zerschlagung der Monopole und Banken, Enteignung der Großgrundbesitzer und eine Volksdemokratie unter Beteiligung aller antifaschistisch-demokratischen Kräfte.“ Die KPD griff in ihrem Programm vom 11. Juni 1945 diese Forderungen auf und organisierte Volksabstimmungen über die Vergesellschaftung der Grundstoffindustrien. Trotz großer Mehrheiten in der Bevölkerung schoben die West­alliierten in ihren Besatzungszonen die Realisierung auf die lange Bank. Später, in den 1950er-Jahren, war im Kalten Krieg und angesichts des Antikommunismus als herrschender Ideologie kein breiter Raum mehr für sozialistische Positionen.

Der Kommunist Ernst Kircher führte sein Leben nach dem Motto von Peter Weiss: „Die Phantasie lebt, solange der Mensch lebt, der sich zur Wehr setzt.“ Als er sich nicht mehr zur Wehr setzen konnte, beendete er sein Leben durch Suizid am 28. Juli 1958 im Alter von 49 Jahren in Oberhausen.

Erinnerungskultur heute
In Oberhausen ist Ernst Kircher nicht in Vergessenheit geraten. Am 26. Februar 2021 wurde unter dem Motto „Ein Stein – ein Name – ein Mensch“ auf Antrag der VVN-BdA Oberhausen an seinem letzten frei gewählten Wohnsitz in der Stöckmannstraße 56 ein Stolperstein verlegt.

Die „WAZ“-Oberhausen vom 22. Januar 2021 berichtete ganzseitig unter der Überschrift „Zirkus gegen das Nazi-Regime“ über den von Ernst und den Moorsoldaten im Lager Börgermoor geleisteten mutigen und kreativen Widerstand. Anlass war der Gedenktag für die Opfer des Faschismus am 27. Januar. Auf dem Oberhausener Westfriedhof wurde im März des Vorjahres zum 100. Jahrestag des Ruhrkampfes das verwitterte Denkmal („denk-mal“) sorgfältig und stilgerecht restauriert. Dafür übernahmen Paroli – Verein für politische Kultur e. V. und die VVN-BdA Oberhausen die Patenschaft. Die Inschrift „Das Banner steht, wenn der Mann auch fällt“ ist wieder klar und deutlich zu lesen.

Die von einem breiten Bündnis geplanten Veranstaltungen mussten seinerzeit aufgrund des ersten Lockdowns wegen Covid-19 leider ausfallen. Zumindest mit der viel beachteten Ausstellung im DGB-Haus konnte die VVN-BdA aber Impulse für eine demokratische Erinnerungskultur setzen.

Bei der nachgeholten Veranstaltung am Mahnmal wies David Driever für die VVN-BdA auf das verpflichtende Gedenken an dieser Stelle hin, forderte Wachsamkeit gegen Geschichtsverdrehungen und verlangte klare Aktionen gegen neofaschistische Aktivitäten. Er erwähnte die 22 neu gepflanzten Lebensbäume am Denkmal, die an die 22 hier beigesetzten Kämpfer der Roten Ruhrarmee und ihren Freiheitskampf gemahnen.

David erinnerte daran, dass am 13. März 1920 Teile der Reichswehr und Freikorpssoldaten gegen die demokratisch gewählte Regierung der jungen Weimarer Republik putschten. Durch den größten Streik in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung wurde der Putsch niedergeschlagen. Allerdings wollten die Streikenden nicht zurück zu einer Demokratie, in der es rechtsradikalen Kräften möglich war, diese außer Kraft zu setzen. Im Kampf für Freiheit und Sozialismus war die Rote Ruhrarmee militärisch den Reichswehrformationen unterlegen, die Freikorps von Loewenfeld und Aulock nahmen blutige Rache. David erwähnte zahlreiche Orte in Oberhausen, die Schauplätze der Massaker wurden. Auch für die Opfer an diesen – heute vergessenen Stellen – sei dieses Denkmal 1921 geschaffen und 1946 mit guten Gründen wieder aufgebaut worden.

Heute ist es wieder Ort einer Gedenkkultur, die an demokratische Traditionen in der deutschen Geschichte erinnert und gleichzeitig auffordert, die eigene Gegenwart genauer in Augenschein zu.


Ein Thema linker und kommunistischer Kommunalpolitik ist die Aufarbeitung der lokalen Geschichte und die Erinnerung an die antifaschistischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfer vor Ort. Unser Autor Klaus Oberschewen veröffentlicht regelmäßig Beiträge zu diesem Thema im Magazin „Paroli“, das vom Paroli-Verein für politische Kultur in Oberhausen e.V. herausgegeben wird.


✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Ernst Kircher, der „Zirkus Konzentrazani“ und die deutsche Revolution 1848", UZ vom 26. November 2021



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Herz.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit