Zum vorläufigen Ende des Krieges im Kaukasus

Frieden, Flucht, Fraktionenkampf

Waffenstillstand – die Nachricht war für viele in der armenischen Hauptstadt Jerewan ein Schock. Der Krieg mit Aserbaidschan um die international nicht anerkannte Republik „Arzach“ wurde – unter russischer Vermittlung – per Räumungsvertrag zum Nachteil der christlichen 3,5-Millionen-Kleinstnation in der vergangenen Woche beendet.

Eine Fortsetzung der seit Anfang Oktober andauernden Kämpfe war angesichts einer aserbaidschanisch-dschihadistischen Übermacht, der Eroberung von Schuscha sowie der eklatanten waffentechnischen Überlegenheit – wie den aus der Türkei stammenden Drohnen – aussichtslos. Im christlich-nationalistischen Taumel strömten Tausende auf die Straßen, um ihren Unmut über den demütigenden „Schandfrieden“ kundzutun. Aufgerufen hatten politische Kräfte, die 2018 im Zuge der „samtenen Revolution“ zur Opposition degradiert wurden.

Der Tenor: Premier Nikol Paschinjan wurde als Vaterlandsverräter gebrandmarkt. Die Proteste sollen den Eindruck vermitteln, dass eine Mehrheit bereit ist, den Weg zur Schlachtbank des Krieges weiterzugehen. Der Gipfel der innenpolitischen Krise in Folge der faktischen Kapitulation war, dass der Geheimdienst NSS erklärte, einen vermeintlichen Anschlag auf den Premier in letzter Minute verhindert zu haben. Die Täter, darunter Ex-NSS-Chef Vanetsjan, seien festgenommen worden. Das kann in verschiedene Richtungen interpretiert werden: Die korrupte Elite der Bergbau-, Alkohol- und Industriemonopole, welche das Land bis 2018 fest im Griff hatten, versuchen, sich Paschinjans zu entledigen. Oder aber Paschinjan stellt damit einen Kontrahenten aus dem militärisch-geheimdienstlichen Komplex kalt. Auf letztere Option verweisen folgende Fakten: Artur Vanetsjan, der die rechtskonservative Partei „Heimat“ gründete, wurde beim russischen FSB ausgebildet, sympathisierte zunächst mit der „Revolution“ von 2018, um dann offen gegen die Politik von Paschinjan aufzutreten.

Klar ist, dass die Fraktionen der herrschenden Klasse mit harten Bandagen um den politischen Kurs kämpfen. Zurzeit sieht es so aus, als könne sich Paschinjan an der Macht halten. Damit dürfte der vom Waffenstillstand von 1994 zementierte Status Quo allerdings zugunsten der neuerlichen Vereinbarungen Schnee von gestern sein. Das unter dem Kreml vermittelte Abkommen, gesichert durch 2.000 russische Soldaten, sieht vor, dass jede Seite die aktuell kontrollierten Gebiete behalten darf – was für Armenien gewaltige Gebietsverluste bedeutet. Die entsprechenden Gebiete müssen bis zum 25. November geräumt werden, lediglich ein schmaler Verbindungskorridor bleibt bestehen. Die zangenartigen Angriffe der aserbaidschanischen Armee hatten weite Gebietsgewinne zur Folge – Aserbaidschan stellt somit seine völkerrechtlich verbriefte Herrschaft über diesen Streifen her.

Unwirkliche Szenen ereigneten sich in den von christlichen Karabach-Armeniern bewohnten Gebieten rund um Kalbadschar, Agdam oder Laschin, die bald an das sunnitisch-muslimische Aserbaidschan fallen werden. Fluchtartig verließen Zehntausende ihre Heimat, Häuser wurden niedergebrannt, Reliquien verbracht, Viehherden weggetrieben. Die Furcht vor den neuen Herren aus Baku ist – durch die historischen Erfahrungen, die Genozid und gegenseitige Vertreibung beinhalten – mit Händen zu greifen. Der Putschversuch, Flüchtlingstrecks in Zeiten einer Pandemie, die Achse Ankara-Baku – es ist ein fragiler Frieden.

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"Frieden, Flucht, Fraktionenkampf", UZ vom 20. November 2020



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