Widerspruch zu einem Nachruf in der UZ vom 4. August

Friedenspreisträger Walser und das zur Normalität schreitende Deutschland

In der UZ vom 4. August stand ein Nachruf von Rüdiger Bernhardt auf den Schriftsteller Martin Walser. Unsere Autorin Ursula Vogt hat sich bereits 1998 kritisch mit den Einschätzungen des Autors Rüdiger Bernhardt zu Walser und vor allem dessen Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels auseinandergesetzt. Sie war der Meinung, dass Bernhardt damals nicht erkannte, welche politische Ungeheuerlichkeit da in der Paulskirche abging. Laut den damaligen Zeitungsberichten wurde die Rede Walsers mit dem Titel „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ von den 1.200 Gästen aus Kultur, Wirtschaft und Politik fast ausnahmslos mit stehenden Ovationen begeistert aufgenommen. In der ersten Reihe saß Ignaz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden. Er blieb mit versteinertem Gesicht sitzen und bezeichnete kurz danach die Rede als „geistige Brandstiftung“. Wir dokumentieren an dieser Stelle den Artikel von Ursula Vogt von 1998:

Friedenspreisträger Walser und das zur Normalität schreitende Deutschland

Was tut man, wenn man den Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen bekommt und dann eine Rede halten soll, in der man eigentlich nur Schönes erzählen will, aber dann doch irgendwie selber weiß, dass das nicht geht, vor allem einen Freunde anrufen und mitteilen, man erwarte eine kritische Rede? Und gerade wenn man dereinst in den siebziger Jahren, wie Der Spiegel zu berichten weiß, „der DKP nahestand“?

Erst einmal teilt man seine diesbezügliche Seelenpein in der Rede mit und setzt am Ende der Rede kokett eines drauf: „Der Ehrgeiz des der Sprache vertrauenden Redners darf es sein, dass der Zuhörer oder die Zuhörerin den Redner am Ende der Rede nicht mehr so gut zu kennen glaubt wie davor.“

Der UZ war diese Rede nur ein Kästchen auf Seite 1 wert, in dem berichtet wurde, dass Martin Walser um die Freilassung von Rainer Rupp bittet. Wobei man sich ruhig seine Begründung ansehen sollte: „Der Autor“ hat noch zur Zeit der Teilung solch einen Fall „in einer Novelle dargestellt“. „Und man kann als Autor, wenn die Wirklichkeit die Literatur geradezu nachäfft, nicht so tun, als ginge es einen nichts mehr an.“

Brandheißer jedoch als diese Gnadenbitte für Rainer Rupp „um des lieben Friedens willen“ sind jedoch andere Passagen seiner Rede. Mag Rüdiger Bernhardt in den Marxistischen Blättern (6/98) als Quintessenz herausfinden: „Im Verwirrspiel verbarg sich die Frage“, nämlich die nach der Verantwortung des Dichters und Denkers für den Gewissenszustand der Nation, so sollte man doch untersuchen, wer die Antworten gibt.

„Dauerrepräsentation unserer Schande“

Aus Martin Walsers Rede: „Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muss ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei eine Routine des Beschuldigens entstanden. Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut. Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerrepräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Wenn ich merke, dass sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, dass öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung.“

Da Herr Walser ein Schriftsteller ist, muss er zeigen, wie er’s mit Worten kann. Bernhardt mag in dem bereits erwähnten Kommentar in den Marxistischen Blättern der Auffassung sein, dies sei ein Aufruf zur Toleranz und er mag in Walsers verquaster Rede die vielfältigen literarischen Anspielungen herausklauben. Diese Feinheiten bleiben mir verborgen, ich muss mit denen fertig werden, die mir diese Rede um die Ohren schlagen.

Zum Beispiel Regensburg: Die „notorischen Gutmenschen“

Als einzige bayrische Großstadt hielt die Stadt Regensburg mit ihrem CSU-Oberbürgermeister Hans Schaidinger es nicht für nötig, am 9. November 1998 des Jahrestages der Reichspogromnacht zu gedenken. Die Regensburger Initiative „Aufstehen für eine andere Politik“ kritisierte dies in einer geharnischten Presseerklärung und stellte fest, dass es sich hier um keinen Ausrutscher handle, sondern um einen „weiteren Meilenstein in der national-konservativen Politik“ des OB Schaidinger, wie sie sich auch zeigte in seiner Stellungnahme zur Wehrmachtsausstellung: „Ich habe mich in der Presse kundig gemacht, was diese Ausstellung betrifft. Das Bild, das da von der Wehrmacht gezeichnet wird, passt mir nicht. Mein Vater war Soldat, mein Schwiegervater auch. Das war der Anlass für mich. Ich geh da nicht hin.“ Die Reaktionen auf den Artikel in der Mittelbayerischen Zeitung waren bezeichnend. Da kam das Fußvolk zur Sprache, dem Walser aus der Seele gesprochen hatte: „Die Kritik an Oberbürgermeister Schaidinger zeigt, wie recht der Schriftsteller Martin Walser hatte, als er von einer Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens zur ewigen Disziplinierung der Deutschen warnte. Die notorischen Gutmenschen in unserer Mitte, die unaufhörlich über das ‚korrekte‘ Gedenken wachen, nehmen dabei gerne in Kauf, dass sie das Ansehen Deutschlands schädigen“, schreibt einer. Die Mitglieder der Initiative hätten „ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Land und Volk“. Ein anderer warnt vor der Ideologie dieser sogenannten Initiative, „die uns alle, nichts böses ahnenden Bürger, treffen kann“. Die Wehrmachtsausstellung sei ein Machwerk russischer Fälscherwerkstätten. Der Oberbürgermeister werde von „antideutschen Kreisen“ diskreditiert.

Der ganz „normale“ Wahnsinn

Ignaz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland nannte Walser einen „geistigen Brandstifter“. In einem Interview der Zeitschrift konkret (Nr. 12/98) konstatierte Michel Friedmann, ebenfalls Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland: „Doch Walsers Rede war deutlich interpretationsfähig – mit anderen Worten: Sie war deutlich. Wenn früher Otto Normalverbraucher loswerden wollte, dass er ‚von all dem‘ nichts mehr hören will, musste er sich auf Schönhuber berufen – jetzt kann er sich hinter Walser verstecken. … „Es gibt tatsächlich eine Inflation des Gestrigen – das ist aber nicht etwa das Ausufern des Erinnerns, wie Walser irrtümlich meint, sondern die Wiederkehr des alten Nazi-Ungeists. Die Brandstifter werden gewählt, sie sitzen in den Parlamenten, sie rufen zur Gewalt auf.“

Mit der von Martin Walser beklagten „Dauerrepräsentation unserer Schande“ scheint man bei der Bundeswehr schon fertig zu sein und lädt sich zum Vortrag an der Hochschule einen Faschisten namens Roeder. Und während Walser den Lehrerfinger gegen die „Routine des Beschuldigens“ in den Medien erhebt, sind die Herren Militärs schon bereit für die „neue Normalität“, wie es der Historiker Dr. Wolfram Wetto vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg beschreibt: „Tatsächlich gibt es Rechtsradikalismus bei einer Minderheit in der Bundeswehr seit jeher. Die Militärpolitik der weltweiten Kampfeinsätze, die der Öffentlichkeit als „neue Normalität“ verkauft wird, hat die Akzeptanz dieser Minderheit offenbar erhöht und manches freigesetzt, was früher tabu war.“ (antifa-rundschau der VVN-BdA Nr. 33/98)

„Die deutsche Sau wird rausgelassen“

formulierte der Schriftsteller Matthias Altenburg in einem Interview mit den Marxistischen Blättern (Nummer 6/97) seine Kritik an der „deutschen Intelligenzja“. Der Zeitgeist sei „heftig nach rechts ins Rutschen gekommen“. Er bezog sich auf Botho Strauß’ „Anschwellenden Bocksgesang“ und des Theatermanns Frank Castorf Sehnsucht nach neuerlichen Stahlgewittern. Im „Neuen Deutschland“ lief im Sommer dieses Jahres eine Debatte, in der Faschisten sich spaltenweise ausbreiten durften und der Kulturredakteur Hans-Dieter Schütt sich am Nationalismus rauf- und runterdachte und meinte, an Botho Strauß und überhaupt konservativem Gedankengut höchst Bemerkenswertes entdecken zu können. „Jeder scheinbar reaktionäre Gedanke ist ein Impuls gegen den gesellschaftlichen Status quo.“

Seit etlichen Jahren wird sich zu Wort gemeldet, um aller Welt zu verkünden, dass es jetzt genug sei. Der Historiker Michael Wolffsohn warnt davor, bei jeder noch so nichtigen Gelegenheit die „Auschwitzkeule“ zu schwingen. Die „Banalität des Guten“ haben vor Walser schon andere in die Debatte geworfen, vom „Antifaschismus als therapeutischem Theater“ schreibt Prof. Dr. Zimmermann (FAZ vom 9. September 1997).

Michel Friedmann in dem konkret-Interview: „In den letzten zehn Jahren hat sich das gesellschaftliche Klima in diesem Land wesentlich verschlechtert. Die gesellschaftlichen Diskurse haben eine rechtsnationale Prägung bekommen – rechtsnational ist nicht gleich rechtsradikal, aber es ist ein Grenzbereich. Nehmen Sie etwa die Äußerungen eines Zitzelmann oder eines Nolte, die das Moderne am Nationalsozialismus gerühmt haben. Solche Dinge sind in den letzten Jahren salonfähig geworden – an den Universitäten, in den Medien.“

Wie weit sich dieses Klima verschlechtert hat, kann man auch daran ablesen, wo unser neuer Bundeskanzler die „neue Mitte“ zu entdecken glaubt: In seiner Regierungserklärung fordert er für Deutschland „das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muss“. Der neue Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye erklärt, dass sich die europäischen Nachbarn daran gewöhnen sollten, „dass Deutschland sich nicht mehr mit dem schlechten Gewissen traktieren lässt“ (Der Spiegel 49/98). Und die Forderungen der polnischen Zwangsarbeiter nach dem seit über 50 Jahren ausstehenden Lohn bezeichnete er als „überzogene Forderungen“ und sprach vom „Schutz der deutschen Unternehmen und Arbeitnehmer“ (Tagesschau vom 5. November 1998). Auch entdeckte er in den USA geldgierige Rechtsanwälte, vor denen die deutschen Konzerne geschützt werden müssten. („Talk im Turm“ auf SAT1. Beides zitiert nach KAZ Nr. 290, November 1998)

Die Jungsozialisten in der SPD haben ein „Alternatives 100-Tage-Programm“ initiiert, in dem es unter anderem heißt: „Vor allem muss der politischen Auseinandersetzung mit faschistischem Gedankengut Priorität eingeräumt werden. Ignoranz, Gleichmacherei und populistische Anpassung an rechte Parolen werden wir mit unserer Arbeit entgegentreten.“ Das kann man nur unterschreiben. So können wir, ob in oder außerhalb der SPD, dafür sorgen, dass das politische Gefüge sich nach links verschiebt. So können wir gemeinsam denen entgegentreten, die gar nichts gegen Erinnerung haben, wenn es sich um Heldengedenktage handelt. Da steht das Fußvolk stramm und bekommt beim „Ich hatt´ einen Kameraden“ feuchte Augen und erhebt ansonsten das Wegschauen zur alten neuen Tugend. Endlich ist man wieder normal und will Schluss machen mit der „zynischen Einseitigkeit unserer Nationalmasochisten“ (Alfred Dregger, CDU, 1997). Damals hat man nichts gewusst und heute reicht es einem Regensburger Oberbürgermeister, dass der Vater und der Schwiegervater im Krieg waren und jetzt sieht man nicht hin, um dann später wieder nichts gewusst zu haben.

Wie man sieht statt stiert

Nachdem ich mir diese Rede von Martin Walser durchgelesen hatte, musste ich an Emil Carlebachs kämpferische Rede bei der Kundgebung der Überlebenden in Buchenwald im Jahre 1995 denken, wo er Anklage erhob gegen diesen Staat, in dem schon bald nach 1945 Kriegsverbrecher und Nazigrößen wieder in Amt und Würden waren. „Und die Giftgas-Verbrecher? Die Blutsäufer, die aus unserer Sklavenarbeit Millionen und Abermillionen scheffelten? Die IG Farben? Der Siemens-Konzern? Die Flick und Krupp, die Deutsche und die Dresdner Bank, und wie sie alle hießen und heißen? Sie sind reich und reicher geworden an unserer Sklavenarbeit!“

Es geht gar nicht darum, ob Herr Walser neunzehn oder zwanzigmal oder einundzwanzigmal wegschauen will. Es geht nicht um „die Instrumentalisierung unserer Schande“, sondern um die Darstellung historischer Zusammenhänge, politischer und ökonomischer Ursachen für Faschismus und Krieg. Es geht darum, dass der Schwur von Buchenwald nicht erfüllt ist, dass in diesem Land die Wurzeln des Nazismus nicht ausgerissen sind.

Aus der Erklärung des Bundesausschusses der VVN-BdA zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus:

„Wer des 27. Januar 1945 gedenkt, muss den 30. Januar 1933 mitdenken. Ursachen und Herkunft des Faschismus sind notwendige Bestandteile jeder Erinnerungsarbeit.

Auschwitz ist nicht nur ein Symbol für den Terror und die Massenvernichtung, es ist auch ein Symbol für die Beteiligung der deutschen Industrie, der IG Farben, an dieser Vernichtungspolitik.

Das Gedenken an die Opfer muss verbunden sein mit der Erinnerung daran, wer die Täter waren. Das heißt: Benennung der Schuldigen und der Nutznießer an der Errichtung der nazistischen Herrschaft in Deutschland und an der Entfesselung des Krieges.“

Wenn Martin Walser den Mangel solcher Geschichtsdarstellung beklagt hätte – da hätte er wahrlich nicht fürchten müssen, nur etwas Schönes zu sagen. Und wäre auch nicht der Gefahr ausgesetzt worden, den Rechten als Kronzeuge zu dienen.

„Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Daß keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“

B. Brecht

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