Libyen, Tunesien, Ägypten – Eine Bilanz des „Arabischen Frühlings“

Frühling der Petrodollar

Von Manfred Ziegler

•17. Dezember 2010 – Beginn der Proteste in Tunesien

•14. Januar 2011 – Ben Ali verlässt fluchtartig Tunesien

•25. Januar 2011 – Beginn der Proteste in Ägypten

•11. Februar 2011 – Rücktritt von Mubarak

•Februar 2011 – Proteste und Beginn bewaffneter Auseinandersetzungen in Libyen

•14. März 2011 – Beginn der Proteste in Daraa, Syrien

•14. März 2011 – Besetzung von Bahrain durch Truppen der Golfstaaten, d. h. im wesentlichen Saudi-Arabien, um die Demokratiebewegung niederzuschlagen.

•19. März 2011 – „Flugverbotszone“ und Angriffe vor allem Frankreichs und Großbritanniens auf die libyschen Streitkräfte

Es waren bewegende Bilder, als Zehntausende, Hunderttausende Demonstranten den zentralen Platz in Kairo besetzten. Die Sicherheitskräfte mit ihrer Ausrüstung, die von den USA und Europa geliefert war, konnten sie nicht vertreiben und auch die Armee nicht.

Blicken wir heute auf den „Arabischen Frühling“ zurück, sehen wir all die negativen Folgen. Libyen zerstört, die bewaffneten Islamisten gestärkt, Krieg gegen Syrien und Jemen und die ägyptischen Machthaber, die das Land wieder in alter Stärke beherrschen.

Nordafrika und der Nahe Osten leisten wichtige Beiträge zur Ölversorgung. Vor dem Arabischen Frühling hatten die USA und Europa hier Diktatoren unterstützt, die für „Ruhe und Ordnung“ sorgten – von Tunesien bis Saudi-Arabien. Und auch Europa vor Migranten abschotteten. Nicht die „Apathie der arabischen Bevölkerung“ oder der Islam waren die Ursache für Korruption und fehlende Entwicklung in den arabischen Ländern, sondern der Druck des Westens. Er hatte ja die Sicherheitskräfte ausgerüstet und trainiert, mit denen die überwiegend im Interesse des Westens agierenden Herrscher ihre Macht erhielten. Damit wurde jede positive gesellschaftliche Entwicklung verhindert.

Als im Dezember 2010 in Tunesien die Proteste gegen den damaligen Präsidenten Ben Ali begannen, konnte niemand ahnen, welche massive Erschütterung der Region folgen würde. Die Außenpolitik der USA und Europas schwankte zwischen Unterstützung für Ben Ali und Mubarak und der späteren Abkehr von den säkularen Diktatoren und der Zuwendung zu den Moslembrüdern als neuer Ordnungskraft. Der gordische Knoten, der zuvor ein unveränderlich erscheinendes labiles Gleichgewicht der Kräfte zusammengehalten hatte, wurde zerschlagen.

Linke waren zuvor jahrelang blind gegenüber den Entwicklungen in den arabischen Ländern und auf einmal geblendet vom Geschehen in Tunesien und Ägypten. Diese Blendung ließ viele nicht verstehen, dass in Tunesien, Ägypten und dem Jemen – und von Syrien ganz zu schweigen – trotz ähnlicher Ursachen ganz unterschiedliche Kräfte aus unterschiedlichen Gründen gegen die jeweiligen Herrscher kämpften: Von Teilen der Eliten bis hin zu Verlierern der Globalisierung.

Nach dem Sturz von Ben Ali, Mubarak und Gaddafi unterstützen die Golfstaaten gemeinsam mit den USA islamistische Fundamentalisten. Damit wurde dafür Sorge getragen, dass die konservativsten Kräfte in den arabischen Gesellschaften gestärkt wurden und nicht etwa der arabische Frühling zu einem unabhängigen demokratischen Experiment wurde.

Libyen

Am 17. Februar 2011 begann der Umsturz in Libyen. Gebannt von den Massendemonstrationen in Kairo erwartete man auch in Libyen ein schnelles Ende des Diktators im Tsunami eines Aufstands der „Generation Facebook“. Und manch einer träumte schon von einem Umsturz von Kairo bis Moskau und Peking – wobei die Revolution allerdings einen weiten Umweg um das Europa der EU machen würde. Doch nicht etwa „Säkulare Aktivisten“ führten die Aktionen gegen Muammar al-Gaddafi an, sondern eine regionale und religiöse Opposition. „Es gibt keinen Gott außer Allah, Muammar ist ein Feind Allahs“ waren Parolen, die auf Demonstrationen in verschiedenen Städten gerufen wurden.

Anders als in Ägypten oder Tunesien entwickelten sich diese Demonstrationen sehr schnell zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Und während die öffentliche Wahrnehmung von vornherein die „Verbrechen des Regimes“ in den Vordergrund stellte und u. a. von Flächenbombardierungen gegen Zivilisten die Rede war, galten die Gegner Gaddafis als säkulare und friedliche Vertreter der Zivilgesellschaft – obwohl man doch in den Fernsehnachrichten sah und hörte, wie sie mit dem Ruf „Allah ist groß „ ihre Kanonen abfeuerten.

In der Hauptstadt und einem großen Teil des Landes wurde das „Regime“ nach wie vor unterstützt. Ausländer, die aus Libyen evakuiert wurden, berichteten über die Hauptstadt, dass die Situation ruhig war, Geschäfte und Banken geöffnet hatten und die Medien maßlos übertrieben. Luftangriffe hätten wohl allenfalls Munitionslagern gegolten und sollten verhindern, dass sie in die Hände der Aufständischen fallen. Virtuelle Gräuel wie Flächenbombardements und Massenvergewaltigungen wurden Begründung für einen sehr realen Luftkrieg gegen Libyen. Die „Flugverbotszone zum Schutz von Zivilisten“ war in Wirklichkeit die Luftwaffe der Aufständischen. Oder vielmehr: Die Aufständischen waren die Bodentruppen der NATO. Ein halbes Jahr und 7600 Luftangriffe benötigte die NATO, um die Dschihadisten zum Sieg zu bomben.

In Libyen konnten die religiösen und konservativen Kräfte ihren Krieg führen und sich der Unterstützung durch die NATO gewiss sein.

Tunesien

Auslöser der Demonstrationen im Dezember 2010 war die Nachricht über die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid, einem kleinen Ort in Tunesien. Die Proteste und Demonstrationen weiteten sich schnell aus, befeuert von der Perspektivlosigkeit vieler junger Leute und der Korruption, die das Land von oben her durchdrang. Exilpolitiker der Opposition wandten sich mit Aufrufen und Erklärungen an die Bevölkerung – ohne aber wirklich Einfluss auf das Geschehen zu haben. Sie wirkten sehr weit vom realen Geschehen entfernt.

Zine el-Abidine Ben Ali, der seit 1987 Präsident von Tunesien war und in dieser Zeit versucht hatte, den Einfluss von Islamisten zu beschränken, wurde zunächst von Frankreich und den USA gestützt. Die Eliten – zunächst die Anwaltskammer – wandten sich ganz zu Beginn des Jahres 2011 von Ben Ali ab. Nachdem auch US-Außenministerin Hillary Clinton Ben Ali fallen ließ, musste er fluchtartig das Land verlassen. Seitdem lebt er unter dem Schutz des Königshauses in einer Luxussiedlung in der saudischen Stadt Dschidda.

Trotz eines verhältnismäßig geordneten Übergangs ist das Land heute tief gespalten. Tausende Tunesier kämpfen im Irak und in Syrien auf Seiten des IS und anderer dschihadistischer Organisationen.

Ägypten

In dem Roman „Der Jakubijan-Bau“ von Alaa al-Aswani sagt Buthaina, eine der Protagonistinnen: „Dies ist nicht unser Land. Dieses Land gehört den Leuten, die Kohle haben … Wenn Sie den ganzen Tag von einer Stelle zur anderen gehen um Arbeit zu suchen und keine finden … – dann wissen Sie, warum wir Ägypten hassen.“

Ägypten ist nach wie vor extrem gespalten: Millionen Menschen an oder unter der Armutsgrenze neben wenigen Superreichen. Bis zu 50 Prozent Analphabeten stehen mehr als 20 Millionen Internetnutzern gegenüber. Wohlhabende Mittelschichten in Kairo und anderen Städten auf der einen und bittere Armut auf der anderen Seite, die Familien dazu zwingt, ihre Kinder – d. h. ihre Töchter – zu verkaufen, um eine Esserin weniger am Tisch zu haben.

Die tiefe Spaltung zwischen Arm und Reich in Ägypten zeigt sich unmittelbar, zum Beispiel an Donnerstagabenden, zu Beginn des Wochenendes. Unzählige Luxusautos suchen dann einen Parkplatz an einer der mondänen Clubanlagen wie dem Schießklub in Dokki, einem der reichsten Viertel des Molochs Kairo. Und nicht weit davon entfernt gibt es Viertel, in denen selbst Ziegen mühsam ihre Nahrung suchen.

Vor dem arabischen Frühling war Ägypten in mancher Hinsicht ein modernes Land. An vielen Stellen blühte buchstäblich die Wüste, bewässerte Plantagen zwischen Kairo und dem Suezkanal boten ein überraschendes Bild. Es gab internationale Konzerne, Supermärkte, Autos, Pizzerien und Partys – für die Leute mit Kohle. Mubarak als Alleinherrscher war ein Relikt aus einer anderen Zeit. Seine Reputation hatte er im Oktoberkrieg (Jom-Kippur-Krieg) gewonnen. Dass er so lange an der Macht bleiben konnte, dankte er der Rolle Ägyptens im Nahen Osten. Für die USA war Ägypten ein Bollwerk der Stabilität – und das hieß damals noch ein Bollwerk gegen Islamisten und den politischen Islam.

Militärhilfe im Wert von 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr, eine weitere Milliarde zur Unterstützung des ägyptischen Staatshaushalts, Ausbildung und Flugtraining für ägyptische Militärs – die USA ließen sich ihren Einfluss auf Ägypten etwas kosten. Nur die Militärhilfe für Israel war höher als die für Ägypten. Im Gegenzug waren US-Truppen auf dem Sinai stationiert und hatten dort de facto Kontrolle über den Suez-Kanal. Mubarak baute darauf, dass seine Politik, die Islamisten einzudämmen, ihn an der Macht halten würde. Als die großen Demonstrationen bereits begonnen hatten, sprach der ägyptische Innenminister davon, es sei die Moslembruderschaft, die Unruhen schüre. Er tat das vor allem, um die Unterstützung durch die USA sicherzustellen und sie wurde der Regierung auch zugesichert: Hilary Clinton versicherte während einer Pressekonferenz: „Die ägyptische Regierung ist stabil.“

Der Schutz der USA für Mubarak war nicht von Dauer. Die USA hatten einen „Plan B“ – und vielleicht war das sogar der „Plan A“: Zusammenarbeit mit den Moslembrüdern als neuem Ordnungsfaktor. Für Mubarak bedeutete dies das Ende seiner Herrschaft.

Ein System, das vor Jahrzehnten in einer überwiegend dörflichen und analphabetischen Gesellschaft begründet war, wurde mit einer neuen Realität konfrontiert: einer in den Zentren wie Kairo und Alexandria gebildeten arabischen und international vernetzten Kultur, die sich gegen Korruption und die Allmacht Mubaraks wandte.

Sichtbare Träger dieser Realität waren diejenigen, die als gehobene Angestellte bei internationalen Konzernen oder in der staatlichen Verwaltung arbeiteten oder ein eigenes kleines Unternehmen führten. Sie waren gebildet, mussten nicht vergebens an der Bushaltestelle warten, wenn sie aus einer der Sattelitenstädte ins Zentrum wollten. Allenfalls mussten sie in ihrem Auto stundenlang im Stau warten. Dass die herrschende Nationalpartei als Sieger aus den Wahlen 2010 hervorgehen würde, stand bereits vorher fest. Auf diesem Hintergrund hatte es Vorschläge aus Oppositionsparteien (unter anderem durch Mohammed El-Baradei, den ehemaligen Chef der IAEA) gegeben, zu einem Boykott der Wahlen aufzurufen. Die Moslembruderschaft lehnte damals einen Wahlboykott ab. Die Strafe folgte auf dem Fuß: die Wahlfälschungen waren so massiv, dass die Moslembruderschaft im ersten Wahlgang nicht einen einzigen Kandidaten durchbrachte. Jetzt entschloss sie sich doch noch zu einem Wahlboykott im zweiten Wahlgang. Was folgte, machte den Wahlboykott obsolet.

Der Beginn der Massen-Proteste im Januar überraschte auch die Moslembrüder. Zunächst hielten sie sich – wie schon beim Wahlboykott – zurück. Doch mit Protesten in den Straßen von Kairo versuchten die Organisatoren, auch die Betenden aus den Moscheen zu holen und zum Protest auf die Straße zu bringen. Mit Erfolg. Eine der führenden Kräfte in den Demonstrationen, die zum Sturz Mubaraks führten, war die Bewegung des 6. April. Sie ist eine Organisation, die sich zur Unterstützung eines Textilarbeiterstreiks gebildet hatte und deren Gründer zuvor auch gegen den Irak-Krieg der USA aktiv waren. Die Bewegung hatte auch Proteste gegen Wahlfälschungen organisiert.

Diese Bewegung arbeitete eng mit den Moslembrüdern zusammen und es gibt gute Gründe anzunehmen, dass nur diese Zusammenarbeit den Sturz von Mubarak möglich gemacht hatte. So hatte ein großer Protest in der Stadt Alexandria seinen Ausgangspunkt in den Moscheen der Stadt. Damals waren die konservativen Kräfte in der Defensive. Die Moslembrüder spalteten sich und mussten den Vorrang von Gruppen wie der Bewegung des 6. April anerkennen. So hieß es damals in einer ihrer Erklärungen: „Wir schätzen die Rolle der jungen Leute, die die Revolution ausgelöst haben und den Funken zum Feuer werden ließen, bis das Volk sich um sie versammelt hat … und wir haben keinen Zweifel daran, dass sie Führung des Volkes sein werden“.

Das Machtsystem, für das Mubarak stand, wurde in seinen Grundfesten erschüttert: gewerkschaftliche Forderungen und Streiks der Arbeiter nahmen zu, die Bankangestellten streikten und sogar die Polizei ging für mehr Geld auf die Straße. Mitarbeiter der Suez-Kanal-Gesellschaft streikten ebenso wie die Angestellten der Azhar-Universität, eine religiöse Institution. Und dass die Armee mindestens geteilte Loyalitäten hatte, konnte man auf den Bildern deutlich sehen.

Die Erschütterung war tiefgreifend, und Mubarak musste gehen. Aber mit der Machtübernahme durch die Armee bzw. den Generalstab war eine Voraussetzung für den Erhalt der bestehenden Strukturen gegeben.

Robert Fisk hatte über den ägyptischen Sicherheitsapparat geschrieben, dass er „die Slums mit einem Netz von Geheimdiensten überzogen (hat), um sicherzustellen, dass keine ernsthafte Opposition im Schmutz und der Frömmigkeit von Kairo entstehen kann“. Es ist wirklich eine ironische Wendung, dass die Revolution in Ägypten nicht in Schmutz und Frömmigkeit der Slums entstand, sondern von den gebildeten Mittelschichten ausging.

Fehlende Perspektiven und Arbeitsplätze, die Vorherrschaft des militärisch-industriellen Komplexes mit der Armee als großem Unternehmen und die Korruption, die die ganze Gesellschaft durchzog und Entwicklung behinderte, forderten eine Modernisierung. Und dazu drohte die Verlängerung des Status Quo mit einer möglichen Kandidatur von Mubaraks Sohn als Staatspräsident.

Es waren drei Gruppierungen, die in Ägypten um die Macht kämpften: Das alte System aus Staatsverwaltung, Armee und ihren Seilschaften und Netzwerken; die Moslembrüder und Islamisten jeglicher Couleur – wenn man so will: gefühlte oder echte Verlierer der Globalisierung. Und die im weitesten Sinne bürgerlichen Kräfte aus neuen Mittelschichten, Wirtschaftsliberalen bis hin sogar zu gewerkschaftlich organisierten Gegnern des Systems und der Moslembrüder. Der Sturz von Mubarak erfolgte durch eine Koalition von Moslembrüdern und der genannten „bürgerlichen“ Schicht, wobei Letztere den Ton angab. Dies sollte sich schon bald ändern.

Der Sturz von Mubarak bot den Millionen Ägyptern, die unter der Armutsgrenze lebten, keine Perspektive. Geld aus Saudi-Arabien half dabei, dschihadistische Parteien aufzubauen. Und mit dem Angriff der NATO auf Libyen begann sich das Klima auch in Ägypten zu ändern.

In einer besonderen Situation hatte gewissermaßen ein Flashmob gereicht, Hunderttausende auf die Straße zu bringen. Doch es hatte nicht gereicht, eine glaubhafte Alternative zum bestehenden System aufzubauen. Wiederholte Aufrufe, sich auf dem Tahrir zu versammeln, „um die Revolution zu retten“, wirkten von Mal zu Mal hilfloser. Insbesondere in der Diskussion und Abstimmung um die Verfassungsänderung im Sommer 2011 zeigte sich eine Stärkung der konservativsten Gruppierungen und der gut organisierten Moslembrüder, die bis zur Wahl von Mursi zum Staatspräsidenten anhielt. Dabei entwickelte sich eine bedingte Kooperation zwischen der Armee und den Moslembrüdern. Die Herrschaft der Moslembrüder stand unter dem Motto: „Stabilität“ statt demokratischer Experimente; und die Armee hielt sich bereit, notfalls einzugreifen. Die bürgerlichen Kräfte traten völlig in den Hintergrund.

Aus dem arabischen Frühling wurde der Frühling der Petrodollar. Was blieb war der Mythos des „Arabischen Frühlings“.

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"Frühling der Petrodollar", UZ vom 27. Januar 2017



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