Zu „Tod eines Schriftstellers“, UZ vom 4. August

„Geistiger Brandstifter“

Ursula Vogt, Regensburg

Im Jahr 1998 erhielt Martin Walser den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In seiner Rede machte er sich gemein mit damals laufenden Diskussionen, in denen das Vergessen der faschistischen Verbrechen gefordert wurde. „Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muss ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei eine Routine des Beschuldigens entstanden. (…) Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerrepräsentation unserer Schande wehrt. (…) Wenn ich merke, dass sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, dass öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken.“

Laut den damaligen Zeitungsberichten wurde die Rede Walsers von den 1.200 Gästen aus Kultur, Wirtschaft und Politik fast ausnahmslos mit stehenden Ovationen begeistert aufgenommen. In der ersten Reihe saß Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden. Er blieb mit versteinertem Gesicht sitzen und bezeichnete kurz danach die Rede als „geistige Brandstiftung“. Michel Friedmann, ebenfalls Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland, in einem Interview mit der Zeitschrift konkret: „Es gibt tatsächlich eine Inflation des Gestrigen – das ist aber nicht etwa das Ausufern des Erinnerns, wie Walser irrtümlich meint, sondern die Wiederkehr des alten Nazi-Ungeists.“ Der damalige Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye trumpfte damit auf, dass sich die europäischen Nachbarn daran gewöhnen sollten, „dass Deutschland sich nicht mehr mit dem schlechten Gewissen traktieren lässt“ („Spiegel“ 49/98). Wer wollte, konnte die Zeichen damals erkennen: Siehe den damaligen Artikel in der UZ

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"„Geistiger Brandstifter“", UZ vom 11. August 2023



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