Erfahrungen mit einem Lesekreis zum Thema VR China

Gemeinsam lernen

Ein Vorschlag der Bildungskommission des PV zum „Nachdenken über China“ war das Studium des Büchleins von Marcel Kunzmann „Theorie, System & ­Praxis des Sozialismus in China“. Wir in Regensburg haben die Anregung der Zentralen Bildungskommission, ein Pilotprojekt vor Ort zu starten, aufgenommen. Wir haben die Form des Lesekreises ausprobiert und damit experimentiert. Lesekreis bedeutet: Der Text wird abschnittsweise gemeinsam gelesen, wobei eine oder einer (wenn gewünscht abwechselnd) vorliest. Unsere Erfahrungen möchten wir hier weitergeben.

Inhaltliche Gründe

Wir wollten unser Wissen und die Position, die wir uns in der Gruppe zur VR China erarbeitet hatten, vertiefen. Insbesondere ging es uns um die Frage, die auf der ersten Seite des Buchs entwickelt wird: „Doch die Politik der KP spaltet die Geister in der kommunistischen Bewegung. In den Augen mancher ist die Volksrepublik seit Ende der 1970er Jahre schrittweise ein kapitalistischer, für einige sogar imperialistischer Staat geworden.“ Kunzmann setzt sich an mehreren Stellen mit dieser Ansicht auseinander. Grundlage des Autors bildet dabei ein Debattenbeitrag von Thanasis Spanidis in der Zeitschrift „T&P“ aus dem Jahr 2016. Neben einem geschichtlichen Rückblick sowie Fakten zu Themen der Ökonomie, der Ökologie und der sozialen Entwicklung wird der besondere chinesische Weg dargestellt, ergänzt durch einen Exkurs zum Thema Ware, Wert und Wertgesetz; auch die Rolle der Partei wird behandelt. Zu berücksichtigen ist bei der Befassung mit Kunzmanns Buch, dass es aufgrund des rasanten Entwicklungsgeschehens in der Volksrepublik hinsichtlich der Fakten streckenweise überholt ist.

Die Form

Wir haben den Lesekreis wegen Corona-Auflagen als Videokonferenz begonnen und das auch beibehalten. Der Vorteil ist: Man muss nicht nochmal extra aus dem Haus. Dauer: 1,5 Stunden. Wichtig: Keine Org-Aufgaben nebenher schnell abarbeiten – die gehören auf den Gruppenabend.

Etliche hatten Bedenken wegen des gemeinsamen Lesens – das würde doch zu lange dauern. Vorteilhaft ist, dass niemand abgehängt wird, weil man ohne Vorbereitung teilnehmen kann. Auch die Schnellleser waren nach wenigen Sitzungen überzeugt. Wir hatten gute Diskussionen, an denen sich alle beteiligten. Und: Wir wurden zur Lektüre weiterführender Literatur angeregt.

Wir haben für die 111 Seiten fünf Monate gebraucht, während denen wir uns achtmal trafen. Das war es uns wert, darf aber durchaus als Erfahrungswert dafür genommen werden, dass gründliche Diskussionen, an denen sich alle beteiligen können, Zeit brauchen.

Ich habe mich immer besonders vorbereitet darauf, an welchen Textstellen man für die Klärung von Fremdwörtern und eine tiefergehende Diskussion unterbricht. Fragen, die sich aus dem Text und der Diskussion ergaben und die wir nicht direkt klären konnten, haben wir festgehalten und später bearbeitet. Wenn das in der Gruppe nicht gelingt, muss man die Klärung organisieren, zum Beispiel durch Nachfragen bei der Zentralen Bildungskommission.

Verlauf und Ergebnis

Beim letzten Treffen haben wir gemeinsam ausgewertet. Zur Form des Lesekreises habe ich oben schon ausgeführt, dass wir sie alle gut finden. Wir werden weitermachen und als Nächstes das Interview mit Prof. Cheng Enfu „Fünfhundert Jahre Sozialismus aus chinesischer Sicht“ (Beilage in den Marxistischen Blättern 4/2021, als Sonderdruck erhältlich) behandeln. Hierzu haben wir unser Vorgehen präzisiert: Von den vorderen Teilen werden Zusammenfassungen durch einzelne Genossen gegeben; gemeinsam lesen werden wir ab da, wo es um die Bewertung J. W. Stalins, den Zerfall der Sowjetunion und Mao Zedong geht. Die Genossinnen und Genossen, die das Interview schon vorab gelesen hatten, haben es empfohlen, weil es die historische und dialektische Herangehensweise der KP Chinas verdeutlicht.

Wir haben mehrfach andere Texte hinzugezogen. Für eine differenziertere Bewertung der Leistungen der KP Chinas in der Zeit Mao Zedongs nutzten wir Auszüge aus dem Interview mit Prof. Cheng Enfu, der Rede von Xi Jinping zum 100. Jahrestag der Gründung der KP Chinas und die Publikation von Uwe Behrens „Feindbild China“. Zur Geschichte der Volksrepublik haben wir uns mit der Betrachtungsweise von Domenico Losurdo beschäftigt, der die Arroganz und Ignoranz des „westlichen Marxismus“ kritisiert und uns die Bedeutung der Rolle der langen kolonialen Unterdrückung Chinas nahegebracht hat (siehe den Artikel „Philosophieren statt prophezeien“ in der UZ vom 7. Mai 2021).

Unser Wissen im Bereich der Politischen Ökonomie mussten wir auffrischen: Was sind Produktivkräfte? Was Produktionsverhältnisse? Ware, Wert, Wertgesetz, Neue Ökonomische Politik (NÖP)? Unser Verständnis des Verhältnisses von Basis und Überbau konnten wir vertiefen. Die Bildungskommission hat bei den „Notizblöcken“ zur Diskussion des Referats von Patrik Köbele hierzu Anregungen von uns aufgegriffen.

Kurzinfos haben wir uns besorgt zu allen möglichen Themen und Begriffen, etwa: Was ist Kommodifizierung? Was waren die Volkskommunen? Warum hat China eine Börse? Was ist das Social Credit System?

Einige Schlaglichter aus dem Feedback der Genossinnen und Genossen:

  • Insgesamt fanden wir das Buch hilfreich, weil es auf wenigen Seiten einen Einstieg gibt.
  • Derjenige von uns, der am längsten in der DKP ist („Alte Garde“), sieht die VR China jetzt mit anderen Augen. Den Fehler einer weitgehend unkritischen Haltung, die die DKP zur UdSSR und DDR hatte, sollten wir aber auch gegenüber der Volksrepublik nicht wiederholen. Insofern ist das Buch in der Betrachtungsweise zu schwarz-weiß.
  • Zu kurz kommt im Buch die Bedeutung der Politik: Revolution als Voraussetzung, Rolle des Klassenkampfs, des Kampfs um die Macht im Staat. Hier auch die bedeutsame Rolle Mao Zedongs.
  • Wir sehen den Aufbau des Sozialismus jetzt differenzierter, haben ein besseres Verständnis von den mannigfaltigen Aufgaben in der (langen) Zeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus.
  • Jedes Land ist anders, hat eine andere Geschichte, eine andere Kultur, andere politische und ökonomische Voraussetzungen. Genau hinsehen, Wissen aneignen, hinterfragen, überprüfen, lernen. Gegen Schematismus und Besserwisserei. Wir sind neugieriger auf die VR China als vorher.
  • Für die Auseinandersetzung außerhalb der Partei sind andere Fragen wichtig. Da steht die Befassung mit der Propaganda gegen die VR China im Mittelpunkt: Wie greift die Bourgeoisie an – wirtschaftlich, ideologisch, militärisch?

Ob wir das Buch den Parteigruppen empfehlen? Dieser Artikel soll helfen, dass jede Gruppe das für sich entscheiden kann. Für Nachfragen stehen wir zur Verfügung. Für uns hat sich gezeigt, dass sich die Beschäftigung mit dem Buch in Form eines Lesekreises gelohnt hat. Voraussetzung war die gemeinsame Entscheidung, uns auf dieses Experiment einzulassen und uns die nötige Zeit dafür zu nehmen. Auch braucht es jemanden, der sich auf die Texte vorbereitet, Fremdwörter und schwierige Passagen sowie Diskussionswürdiges benennt.

Unsere zentrale Erkenntnis ist – ob dieses Thema oder ein anderes: Nicht nur ein Referat konsumieren, sondern eigene Beschäftigung mit dem Thema, Fragen stellen, Antworten suchen.

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"Gemeinsam lernen", UZ vom 19. November 2021



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