Klassiker neu gelesen: Lenins „Sozialismus und Krieg“ – Teil 1

Gerechte Kriege?!

Die Sozialisten haben die Kriege unter den Völkern stets als eine barbarische und bestialische Sache verurteilt.“

Mit diesem Satz beginnt Wladimir Iljitsch Lenins Broschüre „Sozialismus und Krieg“. Lenin schrieb sie im Sommer 1915, kurz bevor sich in Zimmerwald in der Schweiz die sozialdemokratische Opposition traf.

Die Zuspitzung der Kämpfe um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Imperialisten wurde im Juli 1914 zum Weltkrieg eskaliert. Die Sozialdemokratischen Parteien hatten auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart im August 1907 beschlossen, bei Ausbruch eines Krieges „für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen“. Allen voran die deutsche Sozialdemokratie verriet sieben Jahre später die Mehrheit der Zweiten Internationale, den Frieden und die Interessen der Arbeiterklasse und ging mit wehenden Fahnen über ins Lager der jeweiligen Imperialisten. Nur wenige sozialdemokratische Parteien und einzelne Genossinnen und Genossen blieben ihrer Sache treu. Ihre Aufgabe war, die entstandene Situation zu analysieren und die revolutionären Klassen unter dem Banner des Marxismus international erneut zu einen.

„Aber unsere Stellung zum Krieg ist eine grundsätzlich andere als die der bürgerlichen Pazifisten (der Friedensfreunde und Friedensprediger) und der Anarchisten. Von den ersteren unterscheiden wir uns durch unsere Einsicht in den unabänderlichen Zusammenhang der Kriege mit dem Kampf der Klassen im Innern eines Landes, durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit, die Kriege abzuschaffen, ohne die Klassen abzuschaffen und den Sozialismus aufzubauen, ferner auch dadurch, dass wir die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen, das heißt von Kriegen der unterdrückten Klasse gegen die unterdrückende Klasse, der Sklaven gegen die Sklavenhalter, der leibeigenen Bauern gegen die Gutsbesitzer, der Lohnarbeiter gegen die Bourgeoisie.“

Lenin unterschied im Friedenslager unterschiedliche Kräfte, die es auch heute noch gibt. Da wären die ehrlichen Pazifisten, die jede kriegerische Handlung und Gewalt ablehnen. Sie urteilen moralisch – entgegen den moralinsauren Bellizisten sind sie gegen jegliche Form von Gewalt, auch die von wertebasierten Raketen.

„Von den Pazifisten wie von den Anarchisten unterscheiden wir Marxisten uns weiter dadurch, dass wir es für notwendig halten, einen jeden Krieg in seiner Besonderheit historisch (vom Standpunkt des Marxschen dialektischen Materialismus) zu analysieren. Es hat in der Geschichte manche Kriege gegeben, die trotz aller Gräuel, Bestialitäten, Leiden und Qualen, die mit jedem Krieg unvermeidlich verknüpft sind, fortschrittlich waren, das heißt der Entwicklung der Menschheit Nutzen brachten, da sie halfen, besonders schädliche und reaktionäre Einrichtungen (zum Beispiel den Absolutismus oder die Leibeigenschaft) und die barbarischsten Despotien Europas (die türkische und die russische) zu untergraben. Wir müssen daher die historischen Besonderheiten eben des jetzigen Krieges untersuchen.“

Heute finden sich in der radikalen Linken, den „Anarchisten“, viele Bündniskräfte, die gegen den Krieg sind, Befreiungskriege berechtigt finden, aber keine gründliche Analyse betreiben. Moralisch setzen sich die Kommunisten gegen den Krieg ein, da jeder Krieg Zerstörung und Tod bedeutet. Es gibt allerdings Situationen, in denen ein Krieg unvermeidbar ist – hinsichtlich der Frage, ob gerecht oder nicht, ist das Entscheidungskriterium, inwieweit er dem gesellschaftlichen Fortschritt dient. Bei der Bewertung des Krieges in der Ukraine muss daher im Mittelpunkt stehen, wie sich diese militärische Auseinandersetzung auf den gesellschaftlichen Fortschritt auswirkt. Wird damit die Unterdrückung von Nationalitäten beschränkt? Welche Auswirkungen hat er auf die internationalen Kräfteverhältnisse? Ergeben sich durch ihn Möglichkeiten auf dem Weg zum Sozialismus?

„Die große Französische Revolution eröffnete eine neue Epoche in der Geschichte der Menschheit. Von dieser Zeit bis zur Pariser Kommune, von 1789 bis 1871, stellten die bürgerlich-fortschrittlichen nationalen Befreiungskriege einen besonderen Typus von Kriegen dar. Mit anderen Worten: Der Hauptinhalt und die historische Bedeutung dieser Kriege waren die Beseitigung des Absolutismus und des Feudalismus, ihre Untergrabung, die Abwerfung eines national fremden Jochs. Sie waren daher fortschrittliche Kriege, und alle aufrechten, revolutionären Demokraten, ebenso wie alle Sozialisten, wünschten bei solchen Kriegen stets den Sieg desjenigen Landes (das heißt derjenigen Bourgeoisie), das zur Beseitigung oder Untergrabung der gefährlichsten Stützpfeiler des Feudalismus, des Absolutismus und der Unterdrückung fremder Völker beitrug. Die Revolutionskriege Frankreichs zum Beispiel enthielten ein Element der Ausplünderung und der Eroberung fremder Territorien durch die Franzosen, aber das ändert durchaus nichts an der grundlegenden historischen Bedeutung dieser Kriege, die den Feudalismus und Absolutismus in dem ganzen alten, in die Fesseln der Leibeigenschaft geschlagenen Europa zerstörten oder doch erschütterten.“

Für die revolutionäre Aufstiegsepoche des Kapitalismus stellte Lenin fest, dass Kriege kapitalistischer Staaten dem gesellschaftlichen Fortschritt dienten, wenn sie sich gegen die alte Gesellschaftsordnung richteten beziehungsweise zur Befreiung von anderen Völkern beitrugen – selbst dann, wenn diese Kriege durchaus widersprüchliche Aspekte aufwiesen.

„Der Imperialismus stellt die erst im 20. Jahrhundert erreichte höchste Entwicklungsstufe des Kapitalismus dar. Dem Kapitalismus ist es zu eng geworden in den alten Nationalstaaten, ohne deren Bildung er den Feudalismus nicht stürzen konnte. Der Kapitalismus hat die Konzentration bis zu einem solchen Grade entwickelt, dass ganze Industriezweige von Syndikaten, Trusts, Verbänden kapitalistischer Milliardäre in Besitz genommen sind und dass nahezu der ganze Erdball unter diese ‚Kapitalgewaltigen‘ aufgeteilt ist, sei es in der Form von Kolonien, sei es durch die Umstrickung fremder Länder mit den tausendfachen Fäden finanzieller Ausbeutung. Der Freihandel und die freie Konkurrenz sind ersetzt durch das Streben nach Monopolen, nach Eroberung von Gebieten für Kapitalanlagen, als Rohstoffquellen und so weiter. Aus einem Befreier der Nationen, der er in der Zeit des Ringens mit dem Feudalismus war, ist der Kapitalismus in der imperialistischen Epoche zum größten Unterdrücker der Nationen geworden. Früher fortschrittlich, ist der Kapitalismus jetzt reaktionär geworden, er hat die Produktivkräfte so weit entwickelt, dass der Menschheit entweder der Übergang zum Sozialismus oder aber ein jahre-, ja sogar jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der ‚Groß‘mächte um die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung bevorsteht.“

Vor mehr als 100 Jahren, am Beginn der Epoche vom Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, hielt Lenin fest, dass der Imperialismus nicht friedensfähig ist. Die Herausbildung der Monopole führt zu einer Situation, in der nicht mehr die Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung ausgenutzt werden, sondern stattdessen wirtschaftliche Macht und in deren Folge Gewalt bestimmend werden für die gesellschaftliche Entwicklung. Die Monopolkapitalisten plündern nicht mehr nur ihre eigenen Länder aus, sondern sind darauf angewiesen, ihre Macht auszuweiten, um auch andere Staaten und Völker ausplündern zu können. Ist die Welt aufgeteilt, beginnt aufgrund des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung der imperialistischen Länder der Kampf um die Neuaufteilung – zunächst mittels ökonomischer Gewalt. Die Ausplünderung der Kolonien und die Unterdrückung der Völker werden zu einem Wesensmerkmal der imperialistischen Staaten – auch wenn sich dessen Erscheinungsform im Laufe der Jahre und von Staat zu Staat unterscheidet.
Mit dem Übergang des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium mussten die Sozialisten ihre Einschätzung überarbeiten. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs gab es viele Diskussionen um die Begriffe „Angriffs-“ und „Verteidigungskrieg“ – vergleichbar mit der heutigen Debatte um die völkerrechtliche Einordnung des Kriegs in der Ukraine.

„Die Sozialisten verstanden unter einem ‚Verteidigungskrieg‘ stets einen in diesem Sinne ‚gerechten‘ Krieg (wie sich Wilhelm Liebknecht einmal ausdrückte). Nur in diesem Sinne erkannten und erkennen jetzt noch die Sozialisten die Berechtigung, den fortschrittlichen und gerechten Charakter der ‚Vaterlandsverteidigung‘ oder des ‚Verteidigungskrieges‘ an. Wenn zum Beispiel morgen Marokko an Frankreich, Indien an England, Persien oder China an Russland und so weiter den Krieg erklärten, so wären das ‚gerechte‘ Kriege, ‚Verteidigungs‘kriege, unabhängig davon, wer als erster angegriffen hat, und jeder Sozialist würde mit dem Sieg der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Staaten über die Unterdrücker, die Sklavenhalter, die Räuber – über die ‚Großmächte‘ – sympathisieren.“

Wenn die Frage der nationalen Unterdrückung oder der kolonialen Ausplünderung klar auf der Hand liegt, ist die Einschätzung nicht schwierig. Den Sturz der US-Marionette Fulgencio Batista durch Fidel Castro und Che Guevara wird kein Sozialist heute als ungerechten Krieg werten – obwohl der dreijährige Guerillakrieg auch viel Leid und Tod gebracht hat. Schwieriger wird es schon, wenn es um Staaten wie Syrien geht. Klar ist, dass der Bürgerkrieg dort von den Imperialisten ausgenutzt werden sollte, um das Land abhängig zu machen und die Ressourcen plündern zu können. Es fallen scheinbar die Interessen der Imperialisten mit denen von Teilen der Bevölkerung nach mehr Demokratie oder sozialen Verbesserungen zusammen – aber eben auch nur scheinbar. Sollte es dem Imperialismus gelingen, Syrien in die koloniale Abhängigkeit zurückzuzwingen, wird es für den Großteil der Menschen dort weder demokratische noch soziale Rechte geben.

Lenin machte also einen klaren Unterschied zwischen kolonialer Unterdrückung und kapitalistischen Reproduktionsverhältnissen. Die imperialistischen Staaten verglich er mit Sklavenhaltern:

„Aber stellen wir uns einmal vor, ein Sklavenhalter, Besitzer von 100 Sklaven, läge im Krieg mit einem anderen Sklavenhalter, Besitzer von 200 Sklaven, um die ‚gerechtere‘ Neuaufteilung der Sklaven. Es ist klar, dass die Anwendung der Begriffe ‚Verteidigungskrieg‘ oder ‚Vaterlandsverteidigung‘ auf einen solchen Fall historisch verlogen und praktisch ein glatter Betrug wäre, begangen von gerissenen Sklavenhaltern am einfachen Volk, an den Kleinbürgern, an der unaufgeklärten Masse. Ganz genauso werden im gegenwärtigen Krieg, den die Sklavenhalter führen, um die Sklaverei aufrechtzuerhalten und zu verstärken, die Völker von der heutigen imperialistischen Bourgeoisie mittels der ‚nationalen‘ Ideologie und des Begriffs der Vaterlandsverteidigung betrogen.“

Für den Ersten Weltkrieg hielt Lenin fest, dass dieser ein Krieg zwischen den Imperialisten war, geführt zum Zwecke der Aufrechterhaltung und Ausweitung des imperialistischen Systems und der damit einhergehenden kolonialen Unterdrückung. Es sollten nur innerhalb des Systems Änderungen herbeigeführt werden.

„Es ist nicht Sache der Sozialisten, dem jüngeren und kräftigeren Räuber (Deutschland) zu helfen, die älteren, sattgefressenen Räuber auszuplündern. Die Sozialisten haben den Kampf zwischen den Räubern auszunutzen, um sie allesamt zu beseitigen.“

Hinsichtlich der Beendigung des imperialistischen Völkermordens bestand die Pflicht der revolutionären Sozialisten in der Umwandlung des Krieges in den Bürgerkrieg gegen die herrschenden Klassen der kriegführenden Staaten. Diese Aufgabe erfüllten als erste die Bolschewiki mit der Oktoberrevolution. Die deutschen und ungarischen Proleten folgten ihren russischen Klassenbrüdern, konnten ihre Mission aber nicht vollenden.

In der kommenden UZ-Ausgabe wird untersucht, welche Kriterien Lenin für einen innerimperialistischen Krieg aufstellte. Darüber hinaus geht es um das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“.

Der Text „Sozialismus und Krieg“ ist veröffentlicht in:
Lenin Werke, Band 21, ab Seite 295
Lenin, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 2, ab Seite 565

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Über den Autor

Björn Blach, geboren 1976, ist als freier Mitarbeiter seit 2019 für die Rubrik Theorie und Geschichte zuständig. Er gehörte 1997 zu den Absolventen der ersten, zwei-wöchigen Grundlagenschulung der DKP nach der Konterrevolution. In der Bundesgeschäftsführung der SDAJ leitete er die Bildungsarbeit. 2015 wurde er zum Bezirksvorsitzenden der DKP in Baden-Württemberg gewählt.

Hauptberuflich arbeitet er als Sozialpädagoge in der stationären Jugendhilfe.

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"Gerechte Kriege?!", UZ vom 22. Juli 2022



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