Vor 175 Jahren traten die „Grundrechte des Deutschen Volkes“ in Kraft

Kardinalfrage der Revolution

Im Frühherbst 2023 hatte einer der prominentesten Hofhistoriker der BRD, Heinrich August Winkler, mal wieder eine kolossale Fehlwahrnehmung. Am 14. September behauptete er in der „Zeit“: „In zahllosen Büchern und Zeitungsartikeln wird zurzeit über das 175. Jubiläum der Deutschen Revolution von 1848 nachgedacht.“ Wo diese „zahllosen“ Veröffentlichungen erschienen sein sollen, ist das Geheimnis des Staatsteleologen, der maßgeblich den Mythos schuf, Gründung und Entwicklung der Bundesrepublik seien immanentes Ziel der deutschen Geschichte und deren Gipfelpunkt. Mag sein, dass der publizistische Ertrag zu diesem Jubiläum ungezählt blieb, was nicht nur Winkler mit „zahllos“ verwechselt. Vor allem war er überschaubar. Vielleicht meinte das SPD-Mitglied auch ausschließlich den eigenen kaum zählbaren Ausstoß an Texten in allen Großmedien wie FAZ, „Spiegel“, „Neue Zürcher Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „Welt“ und „Deutschlandfunk“ – darüber hinaus hat er noch ein Buch geschrieben. Gemeinsam ist seinen Ergüssen die Leier von den angeblichen Schwierigkeiten, die „Deutsche“ mit der liberalen Demokratie gehabt hätten. Die ist in Winklers Vorstellung identisch mit der in den USA, Frankreich oder Großbritannien und wurde nach ihm zunächst nach 1945 nur den Westdeutschen zuteil. Nun aber ist es fast vollbracht: „Seit der Wiedervereinigung sind die beiden großen Ziele der Revolution von 1848, Freiheit und Einheit, in ganz Deutschland verwirklicht.“ Seitdem dürfen die Deutschen bekanntlich wieder gemeinsam in die hemmungslosen Eroberungs- und Annexionskriege des Westens ziehen.

Gebremstes Gedenken

Wer aber mittendrin in Krise, Krieg und reaktionär-militaristischem Staatsumbau steckt, verschwendet nicht Aufmerksamkeit oder gar Staatsgeld für Revolutionsjubiläen. So blieb es regierungsseitig bei einem Bürgerfest in Frankfurt am Main im Mai, bei dem das Staatsoberhaupt leutselig dem Volk winkte – das war’s an offiziellem Bekenntnis zur Nationalversammlung in der Paulskirche.

An eine ähnliche Posse erinnerte „Neues Deutschland“ am 22. Dezember: In Berlin erhielt 1998, zum 150. Jahrestag, ein unansehnliches Gelände zwischen Hauptgebäude der Humboldt-Universität und Maxim-Gorki-Theater amtlich den Namen „Platz der Märzrevolution“. Das Merkwürdige: Bis heute steht dort kein Namensschild. Das Bezirksamt Berlin-Mitte gibt Auskunft: „Schilder können dort nicht aufgestellt werden, da der ursprünglich vorgesehene ‚Platz der Märzrevolution‘ am Maxim-Gorki-Theater offiziell nicht vorhanden ist.“ Der Name sei aus dem Liegenschaftskataster gestrichen worden, weil die Herstellung des Platzes aufgegeben wurde, als der Platz vor dem Brandenburger Tor zum „Platz des 18. März“ umbenannt wurde. Das wiederum geschah, weil der damalige CDU/SPD-Senat 1998 keine Erinnerung an 1848 wünschte. Der „Platz des 18. März“ kam zustande, weil das nicht nur das Datum der Barrikadenkämpfe von damals ist, sondern auch das der Volkskammerwahl 1990 in der DDR. Die Streichung der Jahreszahl 1848 hatte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) vorgeschlagen.

Solch elegante Kombination von Revolution und Konterrevolution nannte sich damals „postmodern“ – eine vom Imperialismus erfundene Mode, nach der alles plural ist, vor allem Wahrheit.

Klassenfragen

Winkler nutzt das Verfahren heute noch. Seinen „Zeit“-Artikel stellte er unter die Überschrift „Das Land der ungewollten Revolutionen“ – „ein Begriff, den der Historiker Wolfgang Schieder im Hinblick auf das Verhältnis der Liberalen zur Revolution von 1848 geprägt“ habe. So lässt sich die Feigheit des deutschen Bürgertums vor der feudal-monarchischen Obrigkeit andeuten und zugleich schönfärben. Denn auf das Verhältnis der Klassenkräfte geht einer wie Winkler nicht ein, das wäre zu wissenschaftlich und der Realität verpflichtet. Dasselbe betrifft den britischen Hohenzollernversteher Christopher Clark, der einen Band mit fast 1.200 Seiten zu 1848 in Europa vorlegte.

Weiter hilft da zum Beispiel Band 4 der „Deutschen Geschichte“, der 1984 im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften erschien. Seine Autoren nennen „die Stellung der Bourgeoisie zum Volk“ die „Kardinalfrage der Revolution“. Die liegt außerhalb des Horizonts solcher Kapazitäten wie Winkler oder Clark. Politik reduziert sich bei ihnen auf parlamentarisches Getöse und Intrigen. Ihre Geschichtsschreibung besteht darin, die Zustände, die zum Beispiel im Reichstagsgebäude herrschen, in die Vergangenheit zu projizieren. Da wird dann wie bei Clark sogar das Anzetteln des Ersten Weltkriegs zu politischem Schlafwandel. Das lässt heutige Kriege als wach, weil regelbasiert aussehen. Denn sie werden für Menschenrechte oder die früher von „den“ Deutschen verschmähte Demokratie geführt.

Nicht mit dem Volk

Als am 18. Mai 1848 die 330 in Frankfurt am Main anwesenden Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung in die Paulskirche einzogen, hatte sich die deutsche Bourgeoisie klassenmäßig bereits entschieden: Auf keinen Fall Volkssouveränität. Also kein radikaler Demokratismus unter Beteiligung niederer Volksschichten und sogar Frauen, wie Demokraten und Linke forderten. Das spiegelte die Zusammensetzung des Parlaments wieder: Rund 100 Demokraten standen einer Mehrheit von Liberalen und einigen wenigen Reaktionären gegenüber. Alle liberalen Fraktionen sahen in der Nationalversammlung lediglich ein Gremium, das eine Verfassung auszuarbeiten hatte, die wiederum mit den Fürsten und Königen vereinbart werden sollte. Das Parlament verstand sich nie als Machtorgan der Revolution, als „revolutionär-aktive Versammlung“ (Friedrich Engels), sondern als Provisorium, das bei Beschlüssen nur bei Fürsten und Königen, nicht bei der Bevölkerung anfragt. Herauskommen sollte ein einheitlicher bürgerlicher Nationalstaat in Gestalt eines konstitutionell-monarchischen Bundesstaates. Das wäre fürs feudal zerschlissene Deutschland ein Fortschritt, der Kompromiss enthielt aber bereits die Kapitulation vor den existierenden Mächten, insbesondere vor Preußen und Österreich. Es dauerte nur wenige Wochen, bis die Konterrevolution – allen voran Großgrundbesitzer und Militärs – im Sommer 1848 zum Gegenangriff antrat. Sie beendeten zum Beispiel in Preußen Gesetzesverfahren der Liberalen zur Aufhebung der Grundsteuerbefreiung von Junkerland und zur Aufhebung einiger bäuerlicher Lasten. So kam es dazu – und das ist das prägendste Erbe von 1848 –, dass der wichtigste Bestandteil einer wirklichen bürgerlichen Revolution, die Enteignung der Großgrundbesitzer und eine Bodenreform, erst nach 1945 und nur in der Sowjetisch Besetzten Zone stattfand. Soviel zur Demokratie in Deutschland.

An der Seite des Adels

Das deutsche Bürgertum fürchtete Enteignung schon damals als Terror, also veränderte sich mit der Niederschlagung des revolutionären Aufstands in Wien Ende Oktober und Anfang November 1848 das Kräfteverhältnis zwischen Revolution und Konterrevolution in Deutschland endgültig zugunsten Letzterer. In Preußen löste die Kamarilla um König Friedrich Wilhelm IV. einen Staatsstreich aus und setzte einen reaktionären Monarchenspross und Militär als Ministerpräsidenten ein – ohne die konstituierende preußische Versammlung noch zu fragen. Die sprach zwar diesem Friedrich Wilhelm von Brandenburg das Misstrauen aus, ergriff aber keine Maßnahmen, sondern schickte eine Protestabordnung zum König. Der hörte sie nicht mal bis zu Ende an, sondern verließ vorzeitig den Raum.

Die Frankfurter Nationalversammlung zeichnete sich in diesen Auseinandersetzungen dadurch aus, dass sie ein Zusammengehen mit jeder Volksbewegung strikt ablehnte. Gegen den Putsch in Berlin erhob sie kaum Protest. Sie entsandte Abgeordnete, die zwischen Krone und Bürgertum Kompromisse aushandeln sollten. Das Ansinnen, vom an die Macht zurückgekehrten Adel außerdem die Zustimmung zum Frankfurter Verfassungswerk zu erhalten, war so grotesk, dass man rasch Abstand nahm.

Grundrechte-Versuch

Parallel zur Verfassungsdiskussion hatte die Nationalversammlung seit dem Sommer einen Katalog von bürgerlichen „Grundrechten des deutschen Volkes“ beraten. Im 4. Band der „Deutschen Geschichte“ heißt es dazu: „Die Debatte darüber wurde auf Drängen der Linken beschleunigt, die dafür eintraten, die zum Verfassungswerk gehörenden Grundrechte, das Wahlgesetz und die Verfassung selbst nach demokratischen Prinzipien zu gestalten. Viele ihrer Anträge wurden abgelehnt. Doch hatten sie, insbesondere die äußersten Linken, die Fraktion ‚Donnersberg‘, großen Anteil daran, dass in das Gesetz über die Grundrechte wie in die Reichsverfassung überhaupt fortschrittlichere Bestimmungen einflossen, als sie die meisten Verfassungen der Einzelstaaten enthielten.“ Am 21. Dezember 1848 beschloss die Nationalversammlung die „Grundrechte“, am 27. Dezember wurden sie vom Reichsverweser bekanntgegeben und traten am 28. Dezember in Kraft. Sie sollten Norm für die Einzelstaaten sein, dass heißt, deren Gesetzgebung sollte sie weder aufheben noch beschränken können. Die Autoren der „Deutschen Geschichte“ fassen ihren Inhalt so zusammen: „Das Gesetz über die Grundrechte fixierte, wie später auch die Reichsverfassung, bürgerliche Ansprüche in einem bis dahin in den deutschen Staaten ungekannten Maße. Der Entwurf des Verfassungsausschusses hatte Forderungen des Volkes teilweise berücksichtigt. Einzelne grundlegende Momente waren schon in den ersten Monaten der Revolution formuliert worden und schienen nun äußerst fortschrittlich.

Mit dem Gesetz über die Grundrechte wurde ein deutsches Reichsbürgerrecht proklamiert, des Weiteren die Abschaffung des Adels und aller Standesunterschiede, Gleichheit aller vor dem Gesetz, gleiche Wehrpflicht, Unverletzlichkeit der Freiheit der Person, Abschaffung der Todesstrafe, Unverletzlichkeit der Wohnung, Gewährleistung des Briefgeheimnisses, Presse-, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Wissenschaft, bürgerliche Eheschließung, Trennung des Unterrichts- und Erziehungswesens von den Kirchen, Schulgeldfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsrecht.

Der Grundbesitz sollte überall aus feudalem in frei verkäufliches Eigentum umgewandelt werden. Die Untertänigkeits- und Hörigkeitsverhältnisse sollten aufhören. Für entschädigungslos aufgehoben erklärt wurden die Patrimonialgerichtsbarkeit und grundherrliche Polizei, alle aus den gutsherrlichen Verhältnissen entspringenden Abgaben und Leistungen. Die auf Grund und Boden haftenden Abgaben, insbesondere die Zehnten, sollten entsprechend der einzelstaatlichen Gesetzgebung ablösbar sein, die Jagdberechtigung auf fremdem Boden ohne Entschädigung fortfallen, die adligen Fideikommisse (außer denen der regierenden fürstlichen Häuser), aller Lehnverband und alle Bevorzugungen bei der Besteuerung aufgehoben werden.

Das Gesetz über die Grundrechte verkündete die alleinige staatliche Gerichtsbarkeit, Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter. Die Gerichtsverfahren sollten öffentlich und mündlich sein. In Strafsachen war der Anklageprozess vorgesehen; Schwurgerichte sollten bei schwereren politischen Vergehen urteilen, Verwaltung und Rechtspflege getrennt sein.“

Nur teilweise verwirklicht

Die Nationalversammlung erklärte zwar die Grundrechte als im ganzen Reich eingeführt, die rechte Mehrheit setzte aber durch, dass wichtige Paragraphen nur unter Vorbehalt galten, dass Änderungen durch Ländergesetze möglich seien. Dennoch waren die Beschlüsse so weitgehend, dass Preußen, Österreich, Bayern und Hannover die Anerkennung und sogar die Publikation des Gesetzes über die Grundrechte ablehnten.

So fortschrittlich sich vieles in den „Grundrechten“ liest und Eingang in Gesetzgebung und deutsche Verfassungen bis hin zur DDR und zum Grundgesetz der BRD fand, so wenig wurden besonders Bestimmungen, die sich gegen Großgrundbesitz und generell gegen adlige Privilegien richteten, bis heute in der BRD verwirklicht. Im Gegenteil: Mit den deutschen Beschlüssen zum sogenannten Asylkompromiss im November 2023 und den EU-Beschlüssen vom 20. Dezember wurde das Recht auf individuelles Asyl faktisch beseitigt und so pünktlich zum 175. Jubiläum der „Grundrechte“ auch die Unverletzlichkeit der Freiheit der Person. Das erinnert daran, dass in vergangenen Jahren die „Schutzhaft“ aus Kaiserzeiten, die von den Nazis wiederbelebt wurde, in die Polizeigesetze der Bundesländer eingefügt wurde. Präventive Inhaftierung ist nun für bis zu 30 Tage möglich – nur ein Symptom für die Rückkehr zu formal gesetzlichen, faktisch außergesetzlichen Repressionsakten eines Obrigkeitsstaates.

Andere Bestimmungen harren immer noch ihrer Erfüllung, angefangen bei der endgültigen Trennung von Schule und christlichen Kirchen. Grotesk bleibt der Umgang mit dem Adel. „Wikipedia“ ist zum Beispiel zu entnehmen, dass die Auflösung der Fideikommisse (unveräußerlicher Immobilienbesitz von Adelsfamilien) erst durch ein Gesetz von 1938 in Angriff genommen wurde und bis heute nicht beendet ist: „Zum 23. November 2007 wurde das Gesetz zur Aufhebung von Fideikommiss-Auflösungsrecht erlassen, welches den Auflösungsprozess abschließen soll.“ Der Spuk hält an.

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"Kardinalfrage der Revolution", UZ vom 12. Januar 2024



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