Ärztin warnt eindringlich vor Militarisierung des Gesundheitswesens

Krieg ist nicht handhabbar!

Elisabeth Heyn

Am 20. September protestierten rund 250 Friedensaktivisten im bayerischen Grafenwöhr gegen die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland. Der Truppenübungsplatz Grafenwöhr in der Oberpfalz gilt als möglicher Standort für die neuen US-Hyperschallraketen. Unterstützt wurde die erste Kundgebung dieser Art in der Region von einem Trägerkreis, dem unter anderem DFG-VK, IPPNW, GEW sowie DKP und SDAJ Bayern angehören. Neben Rainer Braun, Mitinitiator des Berliner Appells gegen die Stationierung neuer US-Raketen, und Thomas Rödl (DFG-VK Bayern) sprach dort die Ärztin Elisabeth Heyn aus Nürnberg für die Internationalen Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW). Wir veröffentlichen im Folgenden Auszüge aus ihrer Rede zur Militarisierung des Gesundheitswesens:

(…) Lassen Sie mich in wenigen Worten skizzieren, was es mit der sogenannten Militarisierung des Gesundheitswesens auf sich hat. Unter dem Schlagwort „Stärkung der Zivilschutzfähigkeit“ wird die Vorbereitung unserer Gesellschaft auf kriegerische Auseinandersetzungen verstanden. Erst vor ein paar Tagen erhielt ich als Mitglied der Bergwacht Bayern einen Link zu einem sogenannten „Microlearning für die Organisationen zur Härtung der Zivilschutzfähigkeit der Hilfsorganisationen in Bayern“. In diesem Kursus wird bedrohlich ein Angriffsszenario aus dem Osten an die Wand gemalt. Die Hilfsorganisationen sollen darauf eingestimmt werden, im Ernstfall Katastrophen-Notfallpläne abrufbar zu haben, die dann zum Einsatz kommen sollen. Was für eine Augenwischerei!

Wir müssen uns hüten vor diesem Märchen, das uns erzählt wird: Das Fitmachen unseres Gesundheitswesens für menschengemachte Katastrophenszenarien kann uns leider nicht, aber auch gar nicht vor den Auswirkungen von Tod und Verwüstung durch Krieg schützen.

Als Ärztin kenne ich die Auswirkungen von Geschossen im Körper und könnte sie Ihnen in aller Ausführlichkeit schildern. Haben Sie schon einmal einen Menschen gesehen, dessen Gesicht von einem Sprengkörper halb weggerissen wurde? Die Person, an die ich denke, starb jämmerlich auf einer exzellent ausgestatteten Intensivstation – und sie war glücklicherweise dort der einzige Kranke mit einer solchen Verletzung. Krieg bedeutet, dass es abertausende von ähnlichen Patientinnen und Patienten geben wird – Soldatinnen und Soldaten, aber auch Zivilisten.

Gesundheitswesen würde kollabieren

Dieses im Kriegsfall sehr reale Szenario würde unser schon jetzt an der Kapazitätsgrenze ächzendes Gesundheitssystem vollständig kollabieren lassen. Ich möchte mir nicht vorstellen, dass Raketen, ähnlich denen, die hier stationiert werden sollen, in die Körper von unschuldigen Menschen dringen und dort explodieren, in die Leiber von Erwachsenen, Alten und Kindern, sie verletzten, zerfetzen, verstümmeln und töten – und dass das nächste Krankenhaus, gänzlich überlastet, zuerst die verwundeten Soldatinnen und Soldaten behandelt und die notleidende Bevölkerung wird, wenn überhaupt, an zweiter Stelle behandelt werden dürfen.

Im Kriegsfall würde nämlich eine sogenannte „Reverse Triage“ gelten, in der die Kampffähigkeit des Soldaten und seine Wiederherstellung oberstes Ziel ist – die Verletzungen und Erkrankungen von zivilen Bevölkerungsgruppen wird nachrangig behandelt werden. Die Bundeswehr rechnet mit bis zu 1.000 schwerverletzten Soldatinnen und Soldaten täglich, über Jahre hinweg. Zudem wird in solchen Szenarien eine massive Flüchtlingswelle von verletzten Zivilistinnen und Zivilisten erwartet. Dem stehen bundesweit fünf Bundeswehrkrankenhäuser mit insgesamt 1.800 Betten gegenüber – eine Kapazität, die in zwei Tagen erschöpft wäre. Das zivile Gesundheitssystem müsste einen erheblichen Teil seiner räumlichen und personellen Ressourcen dem Militär zur Verfügung stellen. Ganz konkret kann das zum Beispiel heißen, dass dringend notwendige Operationen von Zivilpersonen verschoben werden müssten, weil Soldatinnen und Soldaten die vorhandenen Operationskapazitäten ausschöpfen – und dass damit eine Krankheitsverschlimmerung oder sogar der Tod der Wartenden billigend in Kauf genommen wird.

Wie ginge es Ihnen damit, wenn Sie oder einer Ihrer Angehörigen der Kranke wären, dessen Tumor dann ungebremst weiter wuchern oder dessen Magendurchbruch nicht versorgt werden könnte?

Eben dieses Krankenhaus, das eigentlich der Versorgung von Zivilistinnen und Zivilisten dienen sollte, geriete noch dazu in Gefahr, durch Beschuss verwüstet zu werden. Im Gaza-Streifen sehen wir heute schon, dass es keinerlei Hemmungen mehr gibt, auch sogenannte geschützte Bereiche als Kriegsschauplätze zu missbrauchen. Wollen wir das?

Ich als Ärztin möchte es nicht. Und mein Protest richtet sich nicht nur gegen die Waffen, die zu diesen Zerstörungen und Verletzungen führen werden, sondern auch gegen das Trainieren von Gesundheitsberuflern für einen imaginierten kriegerischen Ernstfall. Dieser würde, sollte er eintreten, alle Übungsszenarien in Nullkommanix sprengen. Uns soll weisgemacht werden, dass ein Krieg „handhabbar“ sei – aber er ist es nicht. Er bedeutet das pure Chaos für alle Betroffenen.

Hiroshima und Nagasaki mahnen

Eine weitere Steigerung dieser Schreckensszenarien droht bei dem Einsatz von Atomwaffen. Die sogenannte Modernisierung von atomaren Waffensystemen leugnet ganz bewusst deren unkalkulierbare und massenvernichtende Wirkung. Als Ärztinnen und Ärzte der IPPNW sagen wir ganz klar, dass der Einsatz von Atomwaffen, aber auch die Bombardierung von Atomanlagen menschengemachte Katastrophenszenarien Realität werden lassen, denen wir als Ärztinnen und Ärzte völlig ohnmächtig hilflos gegenüberstehen.

Hiroshima und Nagasaki haben uns das unbeschreibliche Leid gezeigt, das daraus resultiert, wenn willentlich atomare Kräfte gegen Mensch und Natur entfesselt werden. Jedwede Ausarbeitung von Katastrophenplänen wird an den gigantischen Dimensionen der dann eintretenden Vernichtung scheitern, ganz abgesehen von den zerstörerischen Spätfolgen für die Umwelt und den Menschen, die den zeitlichen Rahmen einer menschlichen Lebensspanne weit überschreiten werden.

So zu tun, als könne man Atomwaffen „beherrschen“, bedeutet, die Bevölkerung in einer heuchlerischen und trügerischen Sicherheit zu wiegen, die im Ernstfall sich in Nichts auflösen und in unbeschreiblichem, unvorstellbaren Leid, Chaos und Schrecken enden wird. „Wir werden Euch nicht helfen können“, so lautete schon vor Jahren die nüchterne Bilanz und die eindringliche Mahnung der Ärzteschaft, um Atombomben und, so müssen wir heute sagen, Angriffe auf Atomanlagen sowie den Einsatz von uranhaltiger Munition ein für alle Mal zu ächten. (…)

Gegen die Verrohung der Bevölkerung

Bislang haben wir nur auf die physischen Folgen geblickt – die psychischen Traumatisierungen, die durch Krieg und Flucht in die Seelen der Betroffenen gebrannt werden, hinterlassen jedoch Wunden, die in der gesamten Bevölkerung über Generationen weitergegeben werden. Noch heute berichtet mein Vater, mittlerweile 88-jährig, davon, dass er nachts aufwacht, weil die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs, die er in Duisburg miterleben musste, ihn immer wieder in fürchterliche Alpträume stürzen. Militär und Gewalt sind siamesische Zwillinge – Deutschland kriegsfähig zu machen, heißt nicht zuletzt eine Verrohung der Bevölkerung und ein Verlust an humanitären Werten in unserer eigenen Gesellschaft – Werte, die wir eigentlich verteidigen wollen. (…)

Deshalb meine dringliche Bitte: Liebe uns Regierende: Besinnt Euch auf die uns einenden Werte von Mitmenschlichkeit und Solidarität! Sorgt in demokratischem Auftrag für Euer Volk, indem ihr Euch dafür stark macht, dass der Weg zum Frieden auf jeder Straße dieses Landes gegangen wird – und zwar nicht in Militärstiefeln, sondern durch Verhandlungen, Hand in Hand mit denen, die sich dafür einsetzen, Gesundheit zu erhalten und Krankheit zu bekämpfen.

Als Ärztinnen und Ärzte für den Frieden fordern wir: Keine Stationierung von Raketen hier in Grafenwöhr oder anderswo! Kein heuchlerisches „Fitmachen“ unserer zivilen Strukturen und unserer Krankenversorgung für einen herbeigeredeten Krieg, sondern sinnvolle Investitionen der Gelder in ein solidarisches Gesundheitssystem, das unsere Gesellschaft stärkt, indem es die Schwachen darin schützt.

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