Der bedeutende kenianische Autor Ngũgĩ wa Thiong’o starb am 28. Mai. Mit ihm hat die Weltliteratur einen ihrer bedeutendsten Vertreter verloren.
Ngũgĩ, 1938 in eine Landarbeiterfamilie im kolonialen Kenia geboren, erlebte den Mau-Mau-Unabhängigkeitskrieg, der sein Denken und Werk prägte. Schon früh erlebte Ngũgĩ wa Thiong’o die brutale Gewalt des Kolonialregimes am eigenen Leib. Während der antikolonialen Kämpfe in Kenia, die die Briten erbittert zu zerschlagen versuchten, wurde sein Bruder Gitogo von einem britischen Soldaten erschossen, als er einen Befehl nicht hören konnte. Der Offizier hatte ihm zugerufen, stehenzubleiben – doch Gitogo, der die Worte nicht vernehmen konnte, lief weiter. Die Kugel traf ihn von hinten. Diese erschütternde Geschichte verarbeitete Ngũgĩ später in seinem frühen Roman „A Grain of Wheat“ (1967, deutsch: „Preis der Wahrheit“, 1971). Sein Heimatdorf Limuru wurde von kolonialen Truppen dem Erdboden gleichgemacht, seine Mutter für drei Monate in Einzelhaft gesteckt. Diese unmittelbaren Erfahrungen – der Mord an seinem Bruder, die Zerstörung seiner Gemeinschaft, die Folterung seiner Mutter – prägten Ngũgĩs tiefen Hass auf den Kolonialismus. Es war kein abstrakter Widerstand, sondern ein Schmerz, der sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Aus dieser Wunde erwuchs sein lebenslanger Kampf: gegen Unterdrückung, für die Befreiung Afrikas.
Ngũgĩ hat ein umfangreiches Werk verfasst. Sein wohl bekanntestes Sachbuch ist „Decolonising the Mind” (1986, deutsch: „Dekolonisierung des Denkens“, 2017), das die konstruktive Rolle der Sprache für nationale Kultur, Geschichte und Identität thematisiert. Die Rückgewinnung afrikanischer Sprachen als Träger von Erinnerung und afrikanischer Geschichte wurde zum zentralen Bestandteil von Ngũgĩs postkolonialem Kampf.
Ngũgĩs epischer satirischer Roman „Wizard of the Crow“ (2006, deutsch: „Herr der Krähen“, 2011), angesiedelt in der fiktiven afrikanischen Freien Republik Aburĩria, entlarvt schonungslos die Korruption, Brutalität und Selbstverleugnung neokolonialer afrikanischer Diktaturen. Der Roman zeichnet die Geschichte des afrikanischen Kontinents im 20. und 21. Jahrhundert nach – von der Versklavung seiner Bevölkerung über das koloniale Erbe bis hin zur neokolonialen Gegenwart: „Der Aufstieg des Herrschers zur Macht hatte etwas mit seiner Allianz mit der Kolonialmacht und den weißen Kräften dahinter zu tun. (…) denn Aburĩria war für sie von strategischer Bedeutung, um eine weltweite Vorherrschaft der Sowjets einzudämmen. (…) Es wird berichtet, er habe in nur einem Monat eine Million aburĩrischer Kommunisten niedermetzeln lassen. Das brachte ihm im Westen höchsten Respekt ein.“
Die Anführerin des Widerstands im Untergrund ist eine Frau, Nyawĩra, die den Klassencharakter einer Gesellschaft begreift und aufzeigt, dass Veränderung möglich und notwendig ist. Diese mutige Frau findet in Kamĩtĩ einen Partner, dessen Widerstand gegen das Regime wächst, je mehr er sie kennen- und lieben lernt. Kamĩtĩ bringt in die Beziehung eine große Portion Humor mit, die Fähigkeit, sich zu verstecken und zu heilen, sowie die Gabe, durch die Rolle eines Medizinmanns das Regime und seine Unterstützer zu verspotten. Außerdem verfügt er über ein umfangreiches Wissen über die heilenden Eigenschaften afrikanischer Pflanzen. Gemeinsam verkörpern sie die wichtigste positive, Hoffnung spendende Kraft des Romans. Unterstützt werden sie von weiteren mutigen Menschen in der Gemeinschaft, darunter einige, die in ihre Rolle hineinwachsen, einige, die die Seiten wechseln, und solche, die nicht verraten. Die heldenhaftesten unter ihnen sind Frauen. Tatsächlich wird im Rahmen der Bewegung „Stimme des Volkes“ ein Frauen-Gericht eingerichtet, um Täter häuslicher Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Ngũgĩ selbst wurde in jüngerer Zeit von seinem Sohn solcher häuslicher Gewalt gegen seine erste Frau angeklagt. Es ist denkbar, dass er mit diesem Roman mit sich selbst ins Gericht ging.
Nyawĩra formuliert ihre Auffassungen so: „Wer für das Volk kämpfen will, daheim und weltweit, muss für die Einigkeit und die Rechte der Arbeiterklasse in seinem eigenen Land kämpfen; gegen alle Diskriminierungen auftreten, die auf Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Hautfarbe und Glaubensrichtung beruhen; muss gegen alle geschlechterbedingten Ungleichheiten kämpfen und daher für die Rechte der Frauen zu Hause, in der Familie, in der Nation und in der Welt …“
Durchgehend macht dieser satirische Roman auch auf die Verstrickung des Westens mit korrupten afrikanischen Regimen aufmerksam – insbesondere auf die Rolle der Globalen Bank, von der sich das Regime einen riesigen Kredit erhofft, was wiederum zu massiver Austeritätspolitik führen würde. Letztlich verhindert die politische Instabilität des Landes dies jedoch. Als das autokratische System ins Wanken gerät, plant der Westen einen Militärputsch.
Ngũgĩ lehnt das bevorzugte Afrika-Bild westlicher Journalisten entschieden ab: „Weil sie überzeugt waren, Nachrichten aus Afrika wären ohne Bilder von Menschen, die an schrecklicher Armut, Hungersnot oder ethnischen Konflikten zugrunde gingen, für ihr Publikum zu Hause kaum interessant.“
Er hebt die Humanität der Menschen hervor. Die Fähigkeit von Nyawĩra und Kamĩtĩ, gemeinsam über die Absurdität des Regimes zu lachen, ist Ausdruck ihrer Stärke. Indem Ngũgĩ das stereotype Afrika-Bild westlicher Medien zurückweist, ermöglicht er es dem Leser, Parallelen zu anderen Diktaturen weltweit zu ziehen – am Ende des Buches nennt er etwa die Regimes von Marcos, Pinochet und das Apartheid-Regime in Südafrika.
Einer der denkwürdigsten Momente des Romans ist, als eine Figur der Regierung weiß werden will. Kamĩtĩ, in der Rolle des Zauberers der Krähe, „heilt“ ihn, indem dieser seinen Namen und seine Sprache aufgibt – eine ironische, selbstauferlegte Wiederholung des Schicksals der Versklavten.
Obwohl die Regierungsvertreter korrupt, abergläubisch und paranoid sind und willens, für persönlichen Gewinn zu töten, erkennen sie letztlich, wohin das alles führen wird: „Die Global Bank und das Global Ministry of Finance sind eindeutig darauf aus, Länder, Nationen und Staaten zu privatisieren. (…) Die Welt wird zu einem Globus verschmelzen, der in die Inkorporierenden und die Inkorporierten unterteilt ist. Wir sollten anbieten, dass Aburĩria als erstes Land vollständig vom Privatkapital geführt wird, um die erste freiwillig inkorporierte Kolonie zu werden, eine Korporonie, die erste in der neuen Weltordnung.“
Was hier verdichtet ist, ist tief in die Struktur des Romans eingewoben, prägt sich in die Vorstellungskraft der Lesenden ein – und wird damit zu etwas Größerem. Der Text ist bereichert durch afrikanische Erzähltraditionen und Humor. Und eines ist klar: Es gibt keine Magie. „Herr der Krähen“ ist eine urkomische, fesselnde und brillante Lektüre.
Ngũgĩ wa Thiong’os Werk ist heute wichtiger denn je. Kenias Bevölkerung erleidet – wie viele andere Völker – soziale Ungleichheit, Polizeigewalt und Repression. Ngũgĩs Werke zeigen: Veränderung ist möglich, wenn Menschen gemeinsam Widerstand leisten.
Dieser Artikel basiert auf einem ausführlicheren Kapitel zu Ngu˜gi˜ aus Jenny Farrells neuem Essayband „Kunst und Befreiung“, der im Herbst beim Verlag Neue Impulse erscheint.