Bei der Rechtsprechung zur Frage der Palästina-Solidarität ging es in der Woche vom 21. bis 27. November drunter und drüber. Das Oberverwaltungsgericht NRW gab mit seiner Entscheidung den Auftakt. Die Verfechter der Staatsräson dürften ihren Augen nicht getraut haben angesichts der Passagen in der Urteilsbegründung. „Ein Bestreiten des Existenzrechts des Staates Israel für sich genommen“ sei nicht strafbar. „Derartige Verlautbarungen richten sich zunächst gegen den Staat Israel als Institution, wodurch nicht zwingend zugleich auch das Existenzrecht der auf dem Staatsgebiet lebenden Jüdinnen und Juden (oder Einwohner nichtjüdischen Glaubens) verneint wird.“ Vielmehr sei das eine „nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Meinungsäußerung“.
Nicht anders urteilte fünf Tage später das Verwaltungsgericht Berlin, das Auflösung und Verbot des Palästina-Kongresses im April 2024 kurzerhand für rechtswidrig erklärte. Damals hatte die Polizei nach Beginn einer Videobotschaft den Veranstaltern den Strom abgedreht, die Versammlung aufgelöst und deren Fortsetzung verboten.
Quer zum Ganzen entschied aber die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Bremen unter Vorsitz der Gerichtspräsidentin Jörgensen am 27. November: Verschiedene Versammlungen waren vom 2. Mai bis 13. Juni 2024 verboten worden, da Gefahr bestanden habe, dass in der Öffentlichkeit durch Parolen die Existenz des Staates Israel in Misskredit hätte geraten können. Von Meinungsfreiheit ist in Bremen jetzt nicht mehr die Rede, denn „das Verwenden der Parole ‚From the river to the sea‘ stellt eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar” und außerdem seien diese Worte strafbar als verbotenes Symbol.
Wie ist es möglich, dass eine Parole in Berlin und Düsseldorf Ausdruck der Meinungsfreiheit ist, in Bremen aber verboten und strafbar? Der Zwiespalt zieht sich bundesweit sowohl durch Beschlüsse der Verwaltungsgerichte wie auch durch die Freisprüche und Bestrafungen der Amtsgerichte.
Seit 70 Jahren lernen Juristen in ihren Anfangssemestern, wie sie ihr Rechtsgefühl, ein Begriff sei so oder so zu verstehen, mit einer Begründung absichern können. Ihr Werkzeug ist ein Kanon von vier klassischen Auslegungsmethoden, nämlich die grammatikalische (Wortlaut), die systematische (Kontext benachbarter Normen), die historische (Entstehungsgeschichte) und die teleologische (Sinn und Zweck) Auslegung. Naturgemäß erfreut sich die letzte besonderer Beliebtheit, und zwar insbesondere dann, wenn es um politisch aufgeladenes Strafrecht oder Versammlungsrecht geht. Einfach deshalb, weil der Entscheider hier das hineinpackt, was später herauskommen soll.
Im Alltagsstrafrecht hingegen greift man eher auf die ersten drei Auslegungsarten zurück, hier ist nur selten Anlass für Gedankenpirouetten. Wie zum Beispiel bei der Urkunde: Für den Laien ist das ein Papier, für Juristen kann auch das zugelassene Fahrzeug zuweilen eine Urkunde sein, die sich folgerichtig fälschen lässt.
Hinter den diametral voneinander abweichenden Entscheidungen im Bereich der Verfahren zur Palästina-Solidarität steckt letztlich keine Zufälligkeit, sondern jeweils ein politisch den Betroffenen oder Beschuldigten zu- oder abgeneigtes Richterpersonal. Jedem Entscheider steht es – abgesehen von seiner nicht leicht abzustreifenden Einbindung in den Sanktionsapparat der herrschenden Klasse – frei, ob er die Meinungsfreiheit des Artikels 5 Grundgesetz zum Klingen bringt oder beamtentreu der Staatsräson folgt. Für Richter, die sich einen kritischen Geist bewahrt haben, sind solche Urteile wie die des Oberverwaltungsgerichts NRW vom 21. November 2025 oder jenes des Verwaltungsgerichts Berlin vom 26. November 2025 allein schon deshalb von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da sie im feindlichen juristischen Umfeld der Mainstream-Kollegen den Rücken stärken und den noch Zweifelnden eine argumentative Vorlage liefern. Das kritische Potential an deutschen Verwaltungsgerichten wird daher angesichts der Bremer Entscheidung vom 27. November nicht wie das Kaninchen vor der Schlange in Schockstarre verfallen.
Der Schlüssel für das, was kommt, steht im letzten Satz der Bremer Urteilsgründe: Die „Beteiligten haben bereits schriftsätzlich ihr Einverständnis mit der Einlegung einer Sprungrevision erklärt“, was dafür spricht, dass die Instanz des Oberverwaltungsgerichts übersprungen werden soll und das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die Sache auf den Tisch bekommt. Wenn die Leipziger Richter entschieden haben werden, ist es mit der gegenwärtig widersprüchlichen Lesart der Verwaltungsgerichte (Meinungsfreiheit contra Staatsräson) vorbei, denn der Leipziger Spruch wird alle unteren Instanzen binden. Eine Wette auf die Richtung der Entscheidung sollte man nicht eingehen, letztlich ist hier weniger das juristische Selbstverständnis gefragt, sondern die politische Sozialisation der Mitglieder des Senats.



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