Keine 60 Stunden nach unserer Landung in Peking drängelt sich unser Bus wieder Richtung Flughafen. Es geht 1.500 Kilometer nach Südwesten. Wir landen im Inland der Volksrepublik in Chongqing, dort, wo Jangtse und Jialing zusammenfließen. Waren wir von der Hauptstadt schon überwältigt, kommt jetzt eins drauf. In Chongqing ist einfach alles größer. Hinzu kommen die Hügellandschaft und die zwei breiten Flüsse mitten im Stadtgebiet. Hier gibt es Staus auf Brücken in vier Etagen und Hochhäuser, so weit das Auge reicht.
Als wir im Hotel ankommen, dämmert es bereits. Nebenan begeistert eine chinesische Künstlerin 60.000 Menschen im Stadion. Zahlreiche weitere nutzen die erhöhte Straße, um als Zaungäste dabei zu sein. Straßenhändler bieten Nudeln und Getränke an. In den Parkbuchten haben es sich Familien in ihren SUVs bequem gemacht, die Kleinen räkeln sich in Schlafsäcken im Kofferraum.
Wir wohnen im Jiulongpo-Bezirk. Hier leben über 1,5 Millionen Menschen auf etwa 430 Quadratkilometern. Unser Hotel liegt am Rand eines Wohngebiets. Neben der vierspurigen Straße laden breite Gehwege zum Bummeln ein. Ein Garagenladen reiht sich an den anderen. Es gibt Haushaltswaren aus Plastik, nebenan liegen in allerlei Plastiktüten Wurzeln, Samen und Gewürze aus. Neben dem Stand lässt sich eine Frau von der uralten Ladenbesitzerin schröpfen. Ein paar Meter weiter schweißt ein Handwerker vor seiner Garage. Im Erdgeschoss eines Neubaus gibt es Katzenbabys, daneben so etwas wie ein Hipster-Café. Im Innenhof der Hochhäuser haben Restaurants Plastikstühle aufgestellt.

Mit dem Bus sind wir über eine halbe Stunde unterwegs und haben den Stadtbezirk nicht verlassen. Wir sind in der Minzhucun-Gemeinde. Als erstes werden wir in einen großen, hellen Bürocontainer geführt. Direkt gegenüber vom Eingang befindet sich eine Reihe von Spinden. Rechts stehen zwei Schreibtische und Regale mit vielen Broschüren. Links stehen ein großer Tisch mit Stühlen und ein Sofa. Hier können die Lieferfahrer, die mit ihren E-Rollern Essen und Pakete verteilen, ihre Pause machen oder zur Toilette gehen. Sie bekommen aber auch Beratung. Könnten wir Chinesisch, hätten wir lesen können, dass die vielen Plakate die Arbeiter über ihre Rechte informieren.
Wir stehen auf dem zentralen Platz der Minzhucun-Gemeinde. Zu unserer Rechten befindet sich die neu gebaute Gemeindeklinik. Ähnlich dem kubanischen Familienarztsystem gibt es hier die gesundheitliche Basisversorgung durch Hausärzte und einen Zahnarzt. Links daneben befindet sich die Verwaltung, wo wieder alle Anliegen an einem Ort bedient werden. Hier im Haus sitzt auch das Parteikomitee. Auf einer großen Stelltafel auf dem Platz präsentieren sich die verantwortlichen Genossinnen und Genossen – mit Bild und Telefonnummer, immer erreichbar für die Menschen aus dem Viertel. Etwas abseits, an einer Straßenecke, sehen wir einen offenen, überdachten Raum. Hier arbeiten ein Schuhmacher und ein Schlosser. Die Gemeinde stellt den lokalen Handwerkern diese Werkstatt kostenlos zur Verfügung. Auch das gehört zum Programm, ebenso wie die Einrichtung, die wir entdecken, als wir uns umdrehen – das Gemeindezentrum mit Bibliothek. Jetzt um die Mittagszeit wird es von den Freiwilligen, die sich auch hier um die Menschen im Viertel kümmern, als Pausenraum genutzt. Einige schlafen auf den Bänken. In der Kantine wird gerade geputzt. Für die Bewohner gibt es hier kostengünstiges Mittagessen. Es kann täglich zwischen mehreren Gerichten gewählt werden. Rentner bekommen einen zusätzlichen Rabatt, ab 80 Jahren ist das Essen kostenlos. An einem Terminal, natürlich mit Touchscreen, kann man sich informieren und Verwaltungsangelegenheiten erledigen. An einem anderen Terminal mit allerlei merkwürdigen Apparaturen kann man seinen Blutdruck messen oder sein Gewicht kontrollieren. Im Gebäude werden auch Kinder betreut.
Hier wurde 2020 ein Modellprojekt gestartet. Mit dem „15-Minuten-Lebensumkreis“ soll die Lebensqualität für die Menschen verbessert werden. Ziel ist, wichtige Anlaufpunkte im Quartier in 15 Minuten zu Fuß erreichen zu können.
Zum Projekt gehört die Verbesserung des Wohnraums. Ähnlich wie in Peking wurden die Bewohner im Vorfeld befragt. Über 400 Eingaben wurden gemacht und bei der Umsetzung berücksichtigt. In Chongqing will die Stadtregierung bis Ende des Jahres in allen Gemeinden den „15-Minuten-Lebensumkreis“ verwirklichen, in der ganzen Volksrepublik dauert es noch etwas länger. Dass die Chinesinnen und Chinesen mit der Politik ihrer Kommunistischen Partei – der KPCh – zufrieden sind, wundert uns nicht mehr.
Die nächste Etappe unserer Reise ist die Stadt Zhuhai am Perlflussdelta. Von hier aus verbindet die über 30 Kilometer lange Hongkong-Zhuhai-Macau-Brücke die Sonderverwaltungszonen mit dem chinesischen Festland. Der Flughafen liegt direkt am Südchinesischen Meer. Zum Hotel fahren wir an langen Sandstränden vorbei, am Straßenrand wachsen Palmen. Die „Stadt der 100 Inseln“ lädt zum Urlaub machen ein. Immer mehr der 1,4 Milliarden Menschen in China können sich den Urlaub inzwischen leisten, deshalb liegt der Schwerpunkt in der Region auf Binnentourismus. Dennoch ist in Zhuhai der westliche Einfluss deutlicher spürbar als in Peking oder Chongqing. Gerade die jungen Menschen kleiden sich auffälliger westlich.
Im Xiangwan-Distrikt besuchen wir die Vertreter des lokalen Volkskongresses. Sie führen uns ihr neu errichtetes Gebäude vor, dessen Bau von der Bevölkerung beschlossen wurde. Hier informiert der Volkskongress über seine Arbeit. Dafür steht neben Broschüren und Informationsterminals ein Studio für Livestreams zur Verfügung. In der zweiten Etage gibt es Multifunktionsräume und einen großen Saal. Dort wird Tischtennis gespielt. Nebenan läuft ein Fitnesskurs. Im Saal erwarten uns die Mitglieder der Seniorentanzgruppe. Sie tragen historische Trachten und fordern uns zum gemeinsamen Tanz auf. Einen Raum weiter gibt die Musikgruppe des Hauses ein kleines Konzert mit traditionellen Instrumenten für uns. Im Anschluss an die Besichtigung berichtet der Vorsitzende des Volkskongresses über die Arbeit. Er ist Mitglied der KPCh, seine Stellvertreterin ist Mitglied der Kuomintang, der Partei von Sun Yat-sen, der 1912 die Republik China gründete. Neben diesen beiden Parteien gibt es sieben weitere in China. Die Kommunalpolitiker stehen im engen Kontakt mit den Bürgern des Viertels. Sie vermitteln die Politik der Regierung und holen Rückmeldungen ein. Die Menschen würden sich vor allem für die Probleme vor Ort interessieren. Für diese arbeite der Volkskongress gemeinsam mit den Betroffenen Lösungen aus. Weil die Mittel begrenzt seien, würde per Abstimmung über die Projekte und die Reihenfolge der Umsetzung entschieden. Leider fehlt die Zeit, um auf den Umgang mit Interessenkonflikten einzugehen oder auf die Frage, wie die Beteiligung bei Entscheidungen der höheren Ebenen realisiert wird.

In nur neun Tagen haben wir vier chinesische Städte besucht, in denen mehr Menschen wohnen als in Deutschland. Ein winziger Ausschnitt eines Riesenlands mit einer noch riesigeren Mission. Die Widersprüche sind an allen Ecken sichtbar. Wir haben eine Kommunistische Partei erlebt, die die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen ernst nimmt. Die Aktivität von den Stadtvierteln bis ins Zentralkomitee ist von der Idee geleitet, dem Volk zu dienen. Dabei macht die KPCh keinen naiven Eindruck, obwohl das ideologische Niveau sehr unterschiedlich zu sein scheint. Sie ist sich auch der Gefahren ihres Kurses offenbar sehr bewusst.
Darauf machten uns die Genossen Li Yi und Zhu Lingjun an der zentralen Parteihochschule in Peking zu Beginn unseres Trips aufmerksam. Die KPCh regiert in einigen Gebieten seit fast 100 Jahren. So eine lange Regierungszeit kann zu Erstarrung und Bürokratisierung führen. Das maoistische Prinzip, dass die Partei durch das Volk kontrolliert werden müsse, sei deshalb von Präsident Xi Jinping um das Konzept der Selbstrevolution erweitert worden. Darunter wird die ständige Verbesserung der Parteiarbeit in der praktischen Tätigkeit verstanden. Man dürfe keine Angst haben, dabei Fehler zu machen, es sei nur wichtig, sich rechtzeitig zu korrigieren. Verbunden sei dieses Konzept mit strengen Anforderungen und Regelungen für die Parteimitglieder. Für Kader gebe es Vorgaben zur Bürogröße, aber auch für die Nutzung von Autos. Zentrales Element sei die Kritik und Selbstkritik, die jedes Parteimitglied mindestens jährlich in seiner Grundorganisation leisten müsse.
Der Aufbau des Sozialismus in China steht und fällt mit der Kommunistischen Partei. Ihre zentrale Rolle bei der unabhängigen Entwicklung der Volksrepublik wird nirgendwo infrage gestellt. Überall entdeckt man einige der 99 Millionen Mitglieder, wie sie dem Volk dienen. Egal, ob in der Autofabrik, im Elektronikkonzern oder in der Softwareschmiede: Die Genossinnen und Genossen der Betriebskomitees haben sich stolz präsentiert. Sie haben teilweise mehrere 1.000 Mitglieder in zahlreichen Gruppen. Leider war die Zeit zu kurz, hier genauer einzusteigen: Sind die Bandarbeiter mit dem Vorstandsvorsitzenden in einer Gliederung? Da wäre ich zumindest gerne mal bei einer Mitgliederversammlung dabei. Aber wir werden ja sicher noch einmal eingeladen.
Teil 1 erschien in UZ vom 30. Mai 2025.
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