Rom, Schengen, Dublin, Kiefersfelden – die Europäische Union hat Großes und Kleines zu bieten. Da wären schöne Verträge, die 1957 die Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf den Weg brachten; da wäre die vielgepriesene Freizügigkeit ohne Kontrollen der Binnengrenzen, die dieser Tage vierzig Jahre alt wurde; da wäre die genau fünf Jahre später nachgereichte Klarstellung, dass diese Freizügigkeit selbstverständlich nicht für Menschen außerhalb der Union gilt; und da wäre die gelebte Praxis, die der Schengener Realität die Kiefersfeldener, Aachener oder Zittauer Wirklichkeit spiegelt.
Von Hegel wissen wir, dass sich die Wirklichkeit von der Realität dadurch unterscheidet, dass ihr Kern das Agierende, das Wirkende ist, während die Realität unabhängig von unserem Blick darauf einfach da ist. So ist das Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985 eine Realität, wonach Bürger aus den Unterzeichnerstaaten „die gemeinsamen Binnengrenzen der EU-Mitgliedstaaten an jeder Stelle ohne Personenkontrolle überschreiten“ können, wie das Auswärtige Amt auf seiner Homepage schreibt. Mit mutmaßlich falscher Auslegung des Dublin-Abkommens vom 15. Juni 1990 und seiner beiden Nachfolgeabkommen haben elf Vertragspartner, allen voran Deutschland, Grenzkontrollen wieder eingeführt – und somit der Schengener Realität eine Schengener Wirklichkeit entgegengesetzt, die sich an langen Staus an diesem (und jedem anderen) Grenzübergang nach Deutschland ablesen lässt. Denn so einfach wie die Jäger beim Abschießen der Rehe den Wald absperren können, ist es bei der Jagd auf Geflüchtete und Vertriebene nicht. Betroffen vom faktischen Entzug der Freizügigkeit sind gewiss die Pendler – vor allem aber alle Geflüchteten, für die es nicht nur um einen längeren Nachhauseweg geht. Sondern um ihr Menschenrecht auf Schutz.
Aber die EU-Staaten fahren auf Kosten anderer nicht nur untereinander die Ellenbogen aus. Für ihre komplette Unterordnung unter NATO-Interessen investieren sie 800 Milliarden Euro für Aufrüstung – unter Umgehung der Schuldenregeln, deren Übertretung in der Praxis sowieso nur dann sanktioniert wird, wenn es sich nicht um Deutschland oder Frankreich handelt.
Die angebliche „Union“ hat in vieler Hinsicht längst ihre Wirklichkeit offenbart. Und will uns immer noch ein E für ein U vormachen.