Die DDR sorgte für Hochwasserschutz, das Land Sachsen-Anhalt lässt ihn verkommen. Warum der Staudamm nicht mehr half, als die Helme über die Ufer trat

Von wegen Naturkatastrophe

Ralf Cüppers

In den letzten Wochen war das Hochwasser in Sachsen-Anhalt der Dauerbrenner in den öffentlich-rechtlichen Medien. Der Fluss Helme, zuvor nur wenigen Menschen aus dem Geographieunterrecht im Gedächtnis geblieben, erlangte plötzlich deutschlandweite Bekanntheit. Die Botschaft lautete: Es gab eine Rekordniederschlagsmenge, die zu einem „Land unter“ führte, und die Bundeswehr hat die Menschen vor der Katastrophe gerettet.

Wer zum richtigen Zeitpunkt vor Ort war, erfuhr ganz anderes. Es ist richtig, dass der Fluss Helme zwischen Südharz und Kyffhäusergebirge bei Starkregen oder Schneeschmelze immer wieder über die Ufer getreten ist. Aber dank sozialistischer Planung und Leitung hatte die Deutsche Demokratische Republik zwischen 1962 und 1964 am Westrand der Stadt Kelbra einen Staudamm gebaut, der als Pufferspeicher dient und sechzig Jahre lang, auch über das Ende der DDR hinaus, die Menschen zuverlässig vor Überflutungen schützte.

Die Wirkweise des Stausees als Pufferspeicher ist einfach zu verstehen: Wenn es wenig regnet, wird der Stausee dosiert in den Fluss Helme abgelassen, ohne dass das Wasser über die Ufer tritt. Wenn mehr Wasser ankommt, als durch die Helme abfließen lassen kann, füllt sich der Stausee wieder auf. Nebenbei kann das Wasser des Stausees genutzt werden, um in Trockenzeiten die landwirtschaftliche Nutzfläche zu bewässern. Dort leben viele Fische für Kraniche und Angler. Nicht zuletzt ist der Stausee ein Naherholungsgebiet für Einheimische und Touristen, Schwimmer und Segler.

Nach dem Ende der DDR übernahm die Landesregierung von Sachsen-Anhalt die Zuständigkeit für den Stausee. Das regelmäßige Ausbaggern des Sees unterblieb. Durch die Sedimente, die in den Stausee eingetragen wurden, nahm das Volumen des Pufferspeichers ab. Dabei wäre es nicht besonders teuer gewesen, die Sedimente herauszuholen. Zudem hätte das Material gleich vor Ort dazu verwendet werden können, den Staudamm zu verstärken, neue Deiche zu bauen oder vorhandene zu erhöhen.

Im Jahr 2022 wurde der Stausee zu früh und zu weit abgelassen. Zu früh im September, bevor die Kraniche sich für den Flug an Fischen satt fressen und die Angler den See abfischen konnten. Zu weit, so dass etwa 8.000 Fische auf dem trockenen Seegrund verendeten. Der Angelverein reichte eine Schadenersatzklage gegen die Landesregierung ein.

Im Jahr 2023 wurde der Stausee deutlich zu spät und zu langsam abgelassen. Dabei konnten die Arbeiter am Stausee schon Mitte Dezember feststellen, dass der Wasserspiegel im Stausee stetig stieg. Sie machten Meldung an ihren Vorgesetzten, doch die übergeordnete Landesregierung unternahm keine Anstalten, ein kontrolliertes Ablassen zu genehmigen. Zu Weihnachten war der Stausee randvoll. Der Starkregen ließ ihn schließlich bis über die Obergrenze ansteigen und gelangte dann direkt durch den Überlauf in die Helme, so als wenn es gar keinen Pufferspeicher gäbe. Die Hochwassersituation war so wie in den Regenzeiten vor dem Bau des Stausees 1964. Wenn die Arbeiter des Stausees in einem Akt des zivilen Ungehorsams die Schleusen dosiert geöffnet hätten, wären sie die Helden dieses Hochwassers geworden.

Eine Katastrophe war es dennoch nicht. In der am tiefsten liegenden Ortschaft Thürungen stieg das Wasser so weit, dass das Grundwasser in die Keller drückte. In Kelbra wurden Gärten der am tiefsten liegenden Riethstraße überflutet, nicht jedoch die Häuser. In Martinsrieth und Oberröblingen überflutete das Wasser die Uferwanderwege. Ehrenamtliche Helfer sicherten die gefährdeten Stellen mit Sandsäcken. Bauern, Bauunternehmen und Fuhrunternehmen stellten dafür die Fahrzeuge. Nachbarschaften organisierten sich und wollten gefährdete Häuser absichern, erhielten von den Behörden jedoch die Antwort, sie bekämen kein Material, das gehe nur an die Hilfsorganisationen. Über die Freiwillige Feuerwehr konnten sie sich dann doch noch Sandsäcke organisieren.

Als die Arbeit schon fast erledigt war, kamen Politiker und baten die Bundeswehr um Hilfe. Vor Ort waren die Fahrzeuge der Bundeswehr zu sehen, aber kein einziger Bundeswehrsoldat bei sinnvoller Arbeit. Olaf Scholz (SPD) kam in Gummistiefeln. Die Helfer der Freiwilligen Feuerwehr wollten ihn jedoch nicht hören und schalteten während seiner Rede die Sirenen ihrer Fahrzeuge ein.

Das Helme-Hochwasser war keine Naturgewalt, sondern die Folge einer Reihe von Fehlleistungen einer Landesregierung, die im realen Kapitalismus keinerlei Verantwortung für den vorbeugenden Hochwasserschutz übernimmt. Für das regelmäßige Ausbaggern wie für das dosierte Ablassen des Stausees wurde kein Aufwand betrieben. Umso wichtiger ist die Erinnerung an die Regierung und die Arbeiter der sozialistischen DDR, die in den Jahren 1962 bis 1964 dem Hochwasserschutz große Bedeutung zumaßen und den Staudamm errichteten.

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"Von wegen Naturkatastrophe", UZ vom 19. Januar 2024



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