Das neue Buch von Uwe Timm ist eine Enttäuschung

Wunschort Utopia

Uwe Timm feierte Ende März seinen 80.Geburtstag und machte sich und seinen Leserinnen und Lesern ein Buchgeschenk. Sein letzter Roman „Ikarien“ erschien 2017, irgendwas Neues musste – sicherlich auch auf Drängen des Verlages – jetzt erscheinen. Diesmal kein Roman, sondern eine Zusammenstellung von bereits veröffentlichen Texten, angereichert mit Tagebuchnotizen aus früheren Jahrzehnten. Der Titel „Der Verrückte in den Dünen“ schafft Aufmerksamkeit und mit dem Untertitel „Über Utopie und Literatur“ gibt es eine Richtungsanzeige.

Uwe Timm hat sich schon mehrmals in Romanen und Essays mit dem literarischen Topos der Utopie beschäftigt, es scheint ihm in der letzten Zeit sein vordringliches Motiv zu sein. Im Roman „Ikarien“ verpackt er in eine etwas mühselige Rahmenhandlung die Darstellung der Personen, die für die Entwicklung der – vornehm verpackt – Eugenik verantwortlich sind, die im 19. Jahrhundert ihren verhängnisvollen Start hatte und in der Rassenvernichtungspolitik der Faschisten ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Dieser „negativen Utopie“, wie Timm das krude Theoriegebräu nennt, wollte Timm nun in seinem neuesten Buch Vorstellungen von utopischen Entwürfen und Realisationen entgegenstellen. Er beginnt mit der Erzählung der Geschichte des Carlos Gesell, eines Verwandten des eher bekannten Silvio Gesell. Dieser Carlos wanderte aus Europa nach Argentinien aus, wollte in einer sandigen, windigen Gegend südlich von Buenos Aires eine blühende Gartenstadt aufbauen. „Ein weltliches Jerusalem“, wie Timm formuliert, und orientiert an den Theorien des Silvio Gesell, der hauptsächlich in der Schweiz versuchte, seine Ideen zu realisieren. Von ihm stammt das Buch „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“, Carlos wiederum wollte in der argentinischen Pampa all das umsetzen, was sich so schön las: Das Horten von Geld und der Zins sei der Grund für Krisen und ungleiche Verteilung, um das zu verhindern, müsse Geld „rosten“, soll meinen, wenn es nicht wieder investiert wird, müsse es kontinuierlich entwertet werden. Grund und Boden müssten vergesellschaftet werden, einen Kredit darauf dürfe es nicht geben. Unser Carlos scheitert großartig und Uwe Timms Erklärung bleibt in psychologischen und individuellen Zügen der Protagonisten hängen.

Allen Ernstes will Timm die drei folgenden Erzählungen, die auf Tagebucheinträgen von Reisen nach Paraguay 1984 und 2010 basieren, dazu nutzen, um die Entwicklung dieses lateinamerikanischen Landes als konkrete Utopie zu beschreiben. Dass der historische Rodríguez de Francia, der erster Präsident des Staates wurde, eine gepflegte Diktatur realisierte, ist Timm weniger wichtig als die gescheiterten Versuche einer Landreform und ebenfalls nur in Ansätzen gemachten Alphabetisierungskampagnen. Timm meint tatsächlich, der im 18. Jahrhundert existierende „Jesuitenstaat“ im Hinterland sei für den Diktator, dem viele weitere folgten, das Vorbild gewesen. Die abgeschlossene Siedlung der Mönche, das so typische und wohl auch notwendige „Inselmotiv“, wird zum Vorbild genommen – und eben nicht nur von Diktatoren, sondern auch von Uwe Timm.

Erinnert sei an die frühe Bewegung zum Ende des 18. Jahrhunderts, die sogenannten „Frühsozialisten“ wie Charles Fourier, Pierre Joseph Proudhon und Étienne Cabet, die im Gegensatz zu Marx und Engels Ideen propagierten, die später als „utopischer Sozialismus“ subsumiert wurden. Seit sich, um mit Friedrich Engels zu sprechen, der „Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ entwickelt hat, ist die oft mit eschatologischen Erwartungen verbundene Debatte um positive Utopien auf ihren Kern als Zustand bürgerlichen Denkens zurückgewiesen worden. Robert Steigerwald warf Ernst Bloch „bürgerlichen Antimarxismus“ vor und bemerkte treffend, dass mit dem Utopischen als Philosophie die „offene oder verdeckte Ablehnung des Sozialismus“ einhergeht. Wohin das führt, wird deutlich in den Worten Uwe Timms: „Zum moralisch verantwortlichen Handeln gehört auch der planende Verlauf in eine erwartbare Zukunft. Die utopischen Konzepte von Thomas Morus über Étienne Cabet bis hin zu den Vorgaben des Gosplans im Sozialismus sind zumeist mit einer Genauigkeit ausformuliert, dass sie, wie Kant sagen würde, nicht das Erwartbare, sondern nur das Erstrebte betreffen. Die normativen Entwürfe werden dann zu Zwangsjacken der Gesellschaftsplanung.“

Der einzige Text in diesem Buch, der meiner Meinung nach tatsächlich das gründliche Lesen lohnt, ist die Festrede, die Uwe Timm 2018 zum 40. Jahrestag der Gründung des Europäischen Übersetzer-Kollegiums Straelen gehalten hat. Für diese Einrichtung gehört sich der Dank an die Landesregierung NRW und die Stadt Straelen. Hier kann in Ruhe, gründlich und im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen die schwierige Arbeit des Über-Setzens geleistet werden. Uwe Timm bemüht das mythologische Bild vom Turmbau zu Babel, die große Sprachverwirrung unter den Völkern, die den geplanten Riesenbau deshalb aufgeben und sich „über die ganze Erde verstreuen“. Uwe Timm spricht vom humanen Anspruch, dass alle Menschen gleich seien, und dieser utopische Zustand könne nur erreicht werden, wenn sich alle verstehen. Die Sprachen sind ausgebildet und auf eine Art und Weise differenziert, dass nur die Arbeit des Übersetzens überhaupt die Möglichkeit bietet, einander zu verstehen. Leider geht Uwe Timm nicht weiter ein auf Erkenntnisse der Kognitions- und Verstehenswissenschaften, die uns die handwerklichen Fähigkeiten vermitteln können, zu diesem geglückten Zustand zu kommen. Stichworte wie Aufmerksamkeit, Zuhörenwollen und -können, Lernsituationen schaffen, die eigenständiges Erfassung und Verarbeiten erlauben, gesellschaftliche Verhältnisse erkämpfen, die konkrete Annäherungen an den utopischen Zustand erlauben – all dies fehlt leider bei Uwe Timm. Er ist dann wieder in seinem gewohnten Metier und spricht lieber vom Schreiben als mühevolle Annäherung und zitiert Kleist: „Wie soll ich es möglich machen, in einem Brief etwas so Zartes, als ein Gedanke ist, auszuprägen? Ja, wenn man Tränen schreiben könnte – doch so – –“. Und weiter: „Kleist hat am Ende dieses Satzes zwei Gedankenstriche gesetzt, die ins Sprachlose führen.“

Und auch damit wird deutlich, wo Uwe Timm die Utopie verortet: Als Nicht-Ort. Aber dies will er nicht dulden, lieber beschwört er das „Nicht“ und wünscht sich, „dass der Geist keine Leere duldet, wie nach Aristoteles die Natur keine Leere kennt.“

Wir können nicht beurteilen, ob Uwe Timm dieses Buch sich selbst gewünscht hat oder ob die Marketing-Abteilung des Verlages meinte, irgendwas muss her und in den Schubladen des Schriftstellers finde sich schon was. Ein überflüssiges, weil schwaches Werk.

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Über den Autor

Herbert Becker (Jahrgang 1949) hat sein ganzes Berufsleben in der Buchwirtschaft verbracht. Seit 2016 schreibt er für die UZ, seit 2017 ist es Redakteur für das Kulturressort.

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"Wunschort Utopia", UZ vom 7. August 2020



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