Die Regierung „verschiebt die Revolution auf das Geleise einer bürgerlichen Revolution“ (Rosa Luxemburg)

100 Jahre Widerstreit um die Novemberrevolution

Von Walter Bauer

Die Novemberrevolution 1918/19

Ergebnis. Deutung. Bedeutung

Hrsg.: Marx-Engels-Stiftung, Gerrit Brüning, Kurt Baumann

Neue Impulse Verlag

Essen 2018, 19,80 Euro

ISBN 978–3-96170–061-5

Dass ein 100-jähriges Jubiläum einer deutschen Revolution auch heute eine Schlacht um die Deutungshoheit ist, ist keine Überraschung. Auch bei den Linken und Kommunisten stand die Deutung und Bedeutung der Novemberrevolution in den vergangenen hundert Jahren zur Diskussion. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, später die Kommunistische Internationale, auch Ernst Thälmann mussten, aufbauend auf ihrer Einschätzung der Novemberrevolution, ihre Strategie für ihre Zeit entwickeln. Jede Generation der Kommunisten bezog sich auf die Novemberrevolution. Auch wir sehen uns in ihrer Tradition. Die Ideen, Theorie und Praxis, die mit den zwei Namen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und den zwei Organisationen, dem Spartakusbund und der an der Jahreswende 1918/19 gegründete KPD, verbunden sind, sind Wurzeln der heutigen DKP. Ich stimme Jürgen Kuczynski (1983) zu: „Die Novemberrevolution war die erste der deutschen Arbeiterklasse gegen den deutschen Imperialismus und Militarismus, für die Lösung der nationalen und sozialen Lebensfragen des deutschen Volkes. Sie war die größte antiimperialistische revolutionäre Massenbewegung in Europa nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und hatte auch große internationale Auswirkungen.“

Im kürzlich im Neue Impulse Verlag erschienen Buch „Novemberrevolution 1918/19. Ereignisse. Deutung. Bedeutung“ geht es wohltuend nicht nur um die „Verräterrolle“ der Sozialdemokratie und die fehlende Kommunistische Partei als „Führende der Revolution“. Die von den Herausgebern (Gerrit Brüning, Kurt Baumann und die Marx-Engels-Stiftung) zusammengestellten Texte bewegen sich bewusst zwischen „Ereignis“ und dem „Deuten“ und „Bedeuten“ der Revolution. Ihnen geht es um die Vielschichtigkeit der Ereignisse und deren Interpretation als Geschichte der kämpfenden Arbeiterbewegung.

Neun Beiträge wurden in das Buch aufgenommen. Die Herausgeber begründen ihr Projekt wie folgt: „Aufgrund des 100. Jubiläums der Novemberrevolution steht zu erwarten (und zum Teil bereits geschehen), dass die deutsche Bourgeoisie alle ihre zur Verfügung stehenden Mittel der Meinungsmanipulation nutzen wird, um, neben dem Herunterspielen ihrer eigenen Verbrechen, die Geschichte der Novemberrevolution im eigenen Sinne umzuschreiben oder die damaligen Revolutionäre zu diffamieren. Das tut sie nicht nur, um ihre eigene Geschichte reinzuwaschen, sondern vor allem um den Blick auf reale Alternativen zum Kapitalismus zu versperren und sich ideologisch den Weg für einen neuerlichen Anlauf zur Weltmacht zu bereiten. Wir müssen unsere Geschichte selber schreiben – zum Zweck der Würdigung der erbrachten Leistungen der Arbeiterbewegung, zum Lernen aus ihren Erfolgen und ihren Fehlern, aber vor allem in unserem eigenen Interesse.“

Drei der Autoren beschäftigen sich mit dem Thema „Deutung und Bedeutung der Novemberrevolution“: Sie diskutieren den Platz der Revolution 1918/19 im „heutigen Geschichtsbild der Deutschen“ (Gerhard Engel), ihren Platz in der „marxistischen Historiographie der DDR“ (Ralf Riedl) und in der „bürgerlichen und sozialdemokratischen Politik- und Geschichtswissenschaft“ (Ludwig Elm). Die Autoren machen auf Probleme und den Wandel der Einordnung der Novemberrevolution deutlich. Letzteres spiegelt die unterschiedlichen Bemühungen um die historische Begründung/Legitimierung der historischen Entwicklung Deutschlands nach der Novemberrevolution wider. Dies gilt besonders für die bürgerlichen Historiker – auch sie können diese deutsche Revolution, trotz aller Bemühungen, sie als Sieg der parlamentarischen Demokratie zu verkaufen, nicht so leicht in ihr Geschichtsbild einordnen. Eine andere Wertung der Novemberrevolution ist für die historische Begründung und das Erbe der DDR entscheidend.

Gerhard Engel weist in seinem Beitrag (Heutiges Geschichtsbild der Deutschen) darauf hin, dass der „nötige kritische Vergleich zwischen den Forderungen der Revolutionäre von 1918 und dem Ist seitheriger Geschichte“ ausbleibt. „Also gehört wissenschaftlicher und geschichtspolitischer Streit und unsere Hoffnung zusammen, dass die geschichtswissenschaftlichen und publizistischen Aktivitäten des Jahres 2018 dem tatsächlichen Gewicht der Revolution vor 100 Jahren gerecht werden. Es mögen alle Reden von einer ‚überflüssigen’, ‚verlorenen’ oder ‚vergessenen’ Revolution verstummen, so dass die Revolution als großes Ereignis der deutschen Demokratie- und Sozialgeschichte endlich einen dauerhaften Platz im Geschichtsbild und in einem demokratischen Geschichtsbewusstsein der Deutschen einnehmen kann.“

Konkrete historische Ereignisse werden in Gerrit Brünings Beitrag „Novemberrevolution und Räterepublik in Bremen“ und Kurt Baumanns Artikel „Erziehung der Arbeiterjugend zum Klassenbewusstsein. Die Hamburger Arbeiterjugendbewegung in Weltkrieg und Novemberrevolution“ geschildert. Die Ereignisse machen deutlich, das im Konkreten, in den Räterepubliken, vieles gefordert und manchmal verwirklicht wurde, was „über den bürgerlich-demokratischen Charakter der Novemberrevolution hinausgeht“.

Die vergleichende Darstellung von österreichischer und deutscher Revolution (Hans Hautmann), macht auf regionale Bedingungen für den Klassenkampf aufmerksam. „Die Gründung der KPD und ihre Wirkung“ (Heinz Karl) und „Die Deutsche Revolution von 1918/19. Revolutionäres Erbe und Strategieentwicklung in der Politik der KPD“ (Raimund Ernst) beschäftigen sich mit dem Fehlen des entscheidenden Faktors einer sozialistischen Revolution, der fehlende marxistischen Organisation.

Trotz des Scheiterns der sozialistischen Revolution konnte sich die extreme Konterrevolution erst ab 1919 wieder offensiv durchsetzen. Die Herrschenden sahen sich zu Kompromissen gezwungen. Dessen nimmt sich Reiner Zilkenat in seinem Beitrag „Konterrevolution und ‚Antibolschewismus’. Eduard Stadler und das konterrevolutionäre Netzwerk 1918/19 an.

Die Herausgeber nennen noch zwei weitere Begründungen für ihr Projekt: „Auch wenn dieses Buch aus Anlass des 100. Jubiläums der Novemberrevolution erscheint, würde dieser Anlass allein nicht als Berechtigung genügen.“ Diese ergebe „sich aus zweierlei Faktoren: Einerseits ist nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus in den Ländern Osteuropas die marxistische Geschichtswissenschaft in eine tiefe Krise geraten, die u. a. dazu führte, dass die an bundesdeutschen Universitäten ohnehin wenig zu vernehmenden Stimmen dieser Tradition nahezu vollständig verstummt sind. Dies ist besonders hinsichtlich der Geschichte der Arbeiterbewegung ein schmerzlicher Verlust, da für diese Arbeiterbewegung, die zugleich auch eine Friedensbewegung war, kaum noch Partei genommen wird.“

Im vorliegenden Buch wird bewusst auf einen einheitlichen Standpunkt zu allen Fragen verzichtet. Die Autoren kommen aus verschiedenen linken politischen Parteien und Organisationen. Die Herausgeber sehen ihr Ziel für dieses Projekt in der „Orientierung, die Geschichte unserer Kämpfe als handlungsanleitende Größe mit an die Hand zu geben, und die Bereitschaft, sich über diese Positionen auch wissenschaftlich und politisch auseinanderzusetzen“. Dies ist zu begrüßen, denn marxistische Geschichtsarbeit findet heute meist individuell in kleinen Zirkeln statt. Dieses Buch sehe ich als eine Aufforderung an, die übriggebliebenen marxistischen Historiker. „Kritisch im positiven Sinne“ die bisherige Geschichte aufzunehmen und weiterzuentwickeln ist hier gelungen.

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"100 Jahre Widerstreit um die Novemberrevolution", UZ vom 16. November 2018



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