Friedensdebatte auf dem ver.di-Bundeskongress

Abgebrochen

Am vergangenen Freitag endete der 6. ver.di-Bundeskongress in Berlin. Sechs Tage lang berieten knapp 1.000 Delegierte und wählten einen neuen Bundesvorstand. Ohne Gegenkandidaten und mit großer Mehrheit wurden Frank Werneke zum Vorsitzenden sowie Andrea Kocsis und Christine Behle zu seinen Vertreterinnen gewählt. Lediglich der für Finanzen zuständige Christoph Meister musste sich bei seiner Kandidatur der Konkurrenz stellen. Er setzte sich mit 638 zu 201 Stimmen gegen Orhan Akman durch (UZ vom 22. September).

Werneke zog eine überaus positive Bilanz seit dem letzten Bundeskongress 2019. Es seien durch Pandemie und Krieg bedingt zwar schwierige Jahre gewesen und die hohe Inflation habe „eine harte soziale Schieflage“ hervorgerufen, doch seine Gewerkschaft sieht er im Aufwind. Die Kolleginnen und Kollegen hätten ein „neues Selbstbewusstsein“ entwickelt und ver.di Mitglieder gewinnen können. Dieses neue Selbstbewusstsein zeige sich in den Tarifkämpfen, so Werneke, die ver.di in den letzten Jahren erfolgreich geführt habe.

Der Diskussionsbedarf der Delegierten war hoch, wie sich gleich zu Beginn des Bundeskongresses bei der Aussprache im Anschluss an den Geschäftsbericht zeigte. Immer wieder kritisiert wurden die „Konzertierte Aktion“, also gemeinsame Absprachen von Regierung, Kapitalverbänden und Gewerkschaften, und die „Inflationsausgleichsprämie“ als Bestandteil jüngster Tarifergebnisse. Die Selbstzufriedenheit des Bundesvorstandes stieß bei einigen Delegierten auf Unverständnis, schließlich habe ver.di selbst bei den durch massive Warnstreiks begleiteten Tarifrunden bei der Deutschen Post und im Öffentlichen Dienst unterhalb der Inflationsrate abgeschlossen und somit einen Reallohnverlust hinnehmen müssen. Auch dass Bundeskanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck, Arbeitsminister Hubertus Heil und anderen Spitzenpolitikern auf dem ver.di-Bundeskongress großzügig Redezeit eingeräumt wurde, stieß einigen bitter auf, zumal die Zeit bei der Antragsdebatte fehlte.

Die in zehn Sachgebiete aufgeteilten Anträge umfassten Themenbereiche wie Tarifpolitik, Digitalisierung in der Arbeitswelt, Bildungspolitik, Organisationsentwicklung sowie Gewerkschafts- und Gesellschaftspolitik. Zu Letztem gehörte der Leitantrag „Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch“, in dem der ver.di-Bundesvorstand eine positive Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine formuliert hatte.

Zu diesem Leitantrag lagen zahlreiche Änderungsanträge vor, die zum Teil mit dem Ziel gestellt worden waren, die vom Bundesvorstand angestrebte Neuausrichtung in der Friedenspolitik zu verhindern. Weitere Anträge versuchten, den Leitantrag in Teilbereichen zu qualifizieren. Gleich der erste Änderungsantrag richtete sich zum Beispiel gegen die Sanktionspolitik der Bundesregierung. Andere wollten eine differenzierte Beschreibung der Ursachen des Krieges in der Ukraine als Formulierung in den Leitantrag einfügen und verwiesen auf die Verantwortung der NATO.

Doch die Debatte zu diesen Änderungsanträgen sollte nicht stattfinden. Schon in der Debatte zum ersten Änderungsantrag zum Thema Sanktionen meldeten sich zahlreiche Befürworterinnen und Befürworter von Waffenlieferungen an die Ukraine zu Wort und polemisierten gegen die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Per Antrag zur Geschäftsordnung wurde zudem ein Ende der Debatte und Blockabstimmung zu allen Änderungsanträgen mit einfacher Mehrheit beschlossen.

Sachfragen gerieten dadurch in den Hintergrund. Auf Seiten der Befürworter von Waffenlieferungen an die Ukraine wurde sehr allgemein und moralisch argumentiert. Delegierte, die sich als Sprecher der ver.di-Jugend vorstellten, sprachen vom „Monster Russland“, das mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Andere verwiesen etwas hilflos darauf, dass man doch „nicht nichts tun“ könne angesichts des „Überfalls Russlands“. Zudem gelte es in der Ukraine, „Werte“ gegen „Diktatoren“ wie Putin zu verteidigen und den Durchmarsch der russischen Armee nach Westen bis nach Berlin zu verhindern.

Zu den positiven Aspekten der vorzeitig abgebrochenen Debatte gehört, dass eine Reihe von Delegierten sehr sachlich für Friedenspositionen warb und auf die Folgen der Konfrontations- und Hochrüstungspolitik der Bundesregierung verwies. Da eine Abstimmung und Debatte über einzelne Aspekte des Leitantrags trotz entsprechender Änderungsanträge nicht möglich war, stimmte ein knappes Viertel der Delegierten gegen den Leitantrag als Ganzes – in geheimer Abstimmung wohlgemerkt.

Ein Versuch, einen Kompromiss zu finden, der auch diejenigen berücksichtigt, die sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen haben, wurde nicht unternommen. ver.di-Vorsitzender Werneke betonte das Recht von angegriffenen Völkern auf Selbstverteidigung. Frieden und Freiheit seien nicht zu trennen. Und die Kongressleitung wies angesichts der in der Debatte geäußerten gegensätzlichen Positionen darauf hin, dass alle für den Frieden seien, nur über den Weg sei man sich eben uneins.

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Über den Autor

Lars Mörking (Jahrgang 1977) ist Politikwissenschaftler. Er arbeitete nach seinem Studium in Peking und war dort Mitarbeiter der Zeitschrift „China heute“.

Mörking arbeitet seit 2011 bei der UZ, zunächst als Redakteur für „Wirtschaft & Soziales“, anschließend als Verantwortlicher für „Internationale Politik“ und zuletzt – bis Anfang 2020 – als Chefredakteur.

 

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"Abgebrochen", UZ vom 29. September 2023



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