Gewalt gegen Frauen gehört in Deutschland zum Alltag

Aktive Gefährdung

Bella Gruber

Wie jedes Jahr häuften sich rund um den 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, die Lippenbekenntnisse. Politiker posteten Copy-Paste-Statements auf „X“, die Abgeordneten des Grünen-Parteitages posierten mit hübsch gestalteten Schildern mit dem Schriftzug „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“, Bibliotheken und Universitäten erstrahlten in orangefarbenem Licht. Höhepunkt im Wettbewerb der Symbolpolitiken bildete in diesem Jahr die Stadt Dortmund. Sie verteilte 150.000 Brötchentüten an lokale Bäckereien mit der Aufschrift „Gewalt kommt uns nicht in die Tüte“.

Sonst ist von der Unterdrückung der Frau nur selten die Rede. Gewalt an Frauen spielt meist nur eine Rolle, wenn sie in anderen Ländern stattfindet. Oder wenn sie für rassistische Hetze genutzt werden kann. Berichte über steigende Zahlen häuslicher Gewalt in Deutschland? Mediale Aufschreie bei sexuellen Übergriffen von Deutschen? Kaum zu finden. Stattdessen wird verharmlost und werden Femizide zu „Beziehungsdramen“ oder „Eifersuchtstaten“ verklärt.

In Deutschland steigt die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt kontinuierlich an, wie die Statistiken des Bundeskriminalamts zeigen. Im Jahr 2022 wurden mehr als 126.349 Frauen Opfer von häuslicher Gewalt, Bedrohungen oder Nötigungen durch ihre Partner oder Ex-Partner. Unter anderem die Angst vor den Konsequenzen einer Anzeige, die Furcht vor weiterer Gewalt, aber auch vor dem Verlust der Lebensgrundlage sorgen dafür, dass die Dunkelziffer noch deutlich höher liegt. Hinzu kommen Scham und Angst vor einer Anzeige, weil den Frauen der Eindruck vermittelt wird, „Einzelfälle“ zu sein.

Dieser Vereinzelung wird in den Medien Vorschub geleistet. Die Psychologin Deborah Hellmann erläuterte im „Deutschlandfunk“ beispielsweise die Risikofaktoren für Femizide, also die Tötung von Frauen durch Männer. „Wenn im Vorfeld häusliche Gewalt ausgeübt wurde oder ein Trennungswunsch bestand“ oder auch „Subjektiv wahrgenommener Kontrollverlust beim Partner oder Ex-Partner wegen vermeintlicher Untreue der Frau“ zählen dazu. Die ökonomische Abhängigkeit, die viele Frauen zwingt, bei ihren gewalttätigen Partnern zu bleiben, wird nicht erwähnt.

Vor allem Frauen, die staatliche Hilfe beziehen, kein oder ein zu niedriges eigenes Einkommen haben, sind auf einen Platz im Frauenhaus angewiesen, um sich der Gefahr entziehen zu können. Pro Stunde sind 14 Frauen in Deutschland von Gewalt in der Partnerschaft betroffen. Dennoch rühmt sich zum Beispiel die Landesregierung NRW damit, dass NRW „auf ein seit Jahrzehnten gewachsenes und hochdifferenziertes Schutz- und Hilfesystem für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder zurückgreifen“ kann. Mit ganzen 68 Frauenhäusern und 676 landesgeförderten Schutzplätzen. Aktuell gibt es in Deutschland etwa 6.800 Frauenhausplätze. Laut der Istanbul-Konvention müssten es mindestens 21.000 sein.

Dass Deutschland diesbezüglich Nachholbedarf hat, wurde unlängst bei einer Anhörung im UN-Menschenrechtsrat in Genf thematisiert. Eine bundesweit einheitliche Finanzierung für Frauenhäuser gibt es nicht. So müssen Frauenhäuser viel zu viel Zeit und Kreativität aufwenden, um immer wieder aufs Neue Geld zu beantragen. Vielerorts fehlt schlichtweg die Planungssicherheit. Im Koalitionsvertrag hatte sich die Bundesregierung dazu verpflichtet, das Recht auf „Schutz vor Gewalt“ abzusichern und einen „bundeseinheitlichen Rechtsrahmen für eine verlässliche und verbindliche Finanzierung von Frauenhäusern sicherzustellen“. Zu sehen ist davon bisher nichts. Im Gegenteil: Mit der völlig unzureichenden Kindergrundsicherung und den daraus resultierenden Verschärfungen beim Unterhalt für Alleinerziehende verschlechtert die Ampel-Regierung die Perspektiven von Frauen, sich zu trennen – und gefährdet sie damit aktiv.

Gewalt gegen Frauen war lange Zeit ein Tabu in der Öffentlichkeit. Erst in den 1970er Jahren brach die Frauenbewegung das Schweigen zu diesem Thema. Aufgrund dieses Kampfes wurden zunächst Opferhilfeeinrichtungen geschaffen, später wurden die Gesetze geändert. Dennoch ist Gewalt gegen Frauen weltweit noch immer eine der größten Gesundheitsbedrohungen für Frauen, wie die WHO feststellte. Dem Europarat zufolge ist häusliche Gewalt die Haupttodesursache von Frauen im Alter zwischen 16 und 44 Jahren.

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"Aktive Gefährdung", UZ vom 1. Dezember 2023



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