In Berlin beginnt der Prozess „junge Welt“ versus BRD

Marx vor Gericht

Chris Hüppmeier

Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche auch die herrschenden Gedanken, führt Karl Marx in der deutschen Ideologie aus. Der italienische Marxist und Kommunist Antonio Gramsci beschreibt dazu als Gefangener im mussolinischen Gefängnis, dass jene herrschenden Gedanken hegemonial abgesichert werden müssen. So kommt er zur Formel: Hegemonie, das ist die Herstellung von Konsens gepanzert mit Zwang. Gerade in Zeiten von allgemeinen Krisen und Krieg bröckelt die Fassade jener herrschenden Hegemonie und der Zwang wird mehr und mehr zum Mittel, herrschende Verhältnisse abzusichern.

Ob das Verbot der KPD, die Notstandsgesetze, die Praxis der Berufsverbote oder die gegenwärtigen Einschränkungen und Angriffe auf die Wissenschafts-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Das Schleifen der vom bürgerlichen Staat garantierten subjektiven Freiheitsrechte gehört hierzulande zur DNA. Das Geschichtsbuch der Bundesrepublik ist voll davon. Der Zwangsapparat wurde schon immer gegen die fortschrittlichsten Kräfte in der Arbeiterklasse bemüht, gerade weil sie die Grundsätze herrschender Verhältnisse in Frage stellen. Repression zum Mittel des Machterhalts.

Gerade deshalb scheint der Staatsapparat der BRD mit Härte gegen die Tageszeitung „junge Welt“ vorzugehen. Bereits seit den 1990er Jahren taucht die Tageszeitung immer wieder in den Verfassungsschutzberichten auf. Damit soll versucht werden, dieser Form linker Gegenöffentlichkeit die materiellen Grundlagen zu entziehen. Die „junge Welt“ und der Verlag 8. Mai, in dem die von Kirche, Staat und Parteien unabhängige Zeitung erscheint, ziehen deshalb vor das Berliner Verwaltungsgericht. Beim Prozessauftakt am 18. Juli wird es darum gehen, wie es um die Grundrechte in diesem Land bestellt ist.

Denn diese Form der Repression hat System. Durch die fortlaufenden Nennungen im Verfassungsschutzbericht soll der „jungen Welt“ „der Nährboden entzogen werden“, wie es 2021 in einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Partei „Die Linke“ ganz offen bekundet wurde. In der Praxis heißt das: Verweigerte Auskünfte auf Presseanfragen, eingeschränkte Möglichkeiten der Bewerbung an Bahnhöfen, im Rundfunk oder anderen publizistischen Erzeugnissen, ebenso wie der Verbreitung der Zeitung auf öffentlichen Veranstaltungen. Der Verfassungsschutz betreibt so eine ideologische Gesinnungskontrolle durch die Hintertür.

Bemerkenswert sind die Begründungen von Verfassungsschutz und Bundesregierung, um die „junge Welt“ und ihrer Redaktion den Status eines etablierten Pressemediums abzusprechen. Es ist die „Wirkmächtigkeit“ des Marxismus als Methode, die anders als die Mehrzahl der etablierten Leitmedien selbstverständlich zu gegensätzlichen Analysen und Erkenntnissen über die gegenwärtigen Krisen und Kriege kommt. Weiter heißt es in der Erklärung der Bundesregierung, Teile der Redaktion seien Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) oder stünden ihr nahe. Sie sei damit „gesichert linksextrem“.

Klar ist, hier steht das marxistische Denken und Erklären im Fadenkreuz. „Hier soll der Klassenbegriff kriminalisiert werden“, urteilt der Chefredakteur der Tageszeitung Stefan Huth im UZ-Gespräch. Die Orientierung auf „produktionsorientierte Klassen“ verletze die Würde des Menschen, also den ersten Grundpfeiler des Grundgesetztes. So steht es im Bericht der Bundesregierung. „Das ist eine Bestimmung, die alle betrifft: kritische Publizisten, kritische Medien, aber auch kritische Wissenschaft“, so Huth.

Der Prozessauftakt ist kommende Woche im Verwaltungsgericht Berlin. Die „junge Welt“ und der Verlag 8. Mai werden aber nötigenfalls bis zum Europäischen Gerichtshof klagen, das haben die Verantwortlichen bereits angekündigt. Denn der Prozess habe historische Bedeutung, führt Stefan Huth aus, und der Ausgang sei einer, „der für alle fortschrittlich denkenden Menschen von Interesse ist“. Der Angriff auf die „junge Welt“ betrifft alle, die sich aufmachen, gegen die Politik der sogenannten „Zeitenwende“ und deutscher Staatsräson aufzubegehren und das auch öffentlich kundtun.

Alle Informationen zum Prozess unter jungewelt.de/prozess

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"Marx vor Gericht", UZ vom 12. Juli 2024



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