Wie Allendes Chile mit Kybernetik die Wirtschaft steuern wollte

Computergesteuerte Gerechtigkeit

Zum Abschluss der Podcast-Serie auf dieser Seite heute was, das sich richtig lohnt. Und bevor einer meckert, ich weiß auch, dass die meisten Sachen, die hier vorgestellt wurden, einfach schöne altmodische Radioformate sind, die man zum gewünschten Zeitpunkt hören kann. Also sei hier ein wunderbares Feature empfohlen über Kybernetik. In Chile. Nie gehört? Haben die wenigsten. Und damit geben die zwei Folgen einen ganz besonderen Einblick in das, was in Chile 1973 zerstört worden ist.

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Im November 1971 ist die Aufregung in Chile groß, zum ersten Mal nach dem Sieg der Unidad Popular und der Wahl Salvador Allendes zum Präsidenten besucht der kubanische Comandante en Jefe Fidel Castro das Land. Zur gleichen Zeit holt Fernando Flores eine unbekanntere Person vom Flughafen ab, deren Arbeit die Zukunft Chiles maßgeblich hätte bestimmen können, wenn der Putsch nicht auch sein Lebenswerk zerstört hätte. Der Bau- und Industrieingenieur Fernando Flores ist 28 Jahre alt, als er von Salvador Allende zum Technischen Direktor der Wirtschaftsförderungsbehörde ernannt wird – ein Drittel der staatlichen Unternehmen stehen unter seiner Verantwortung. Zentrale Planung nach dem Vorbild der Sowjetunion scheint ihm für Chile nicht umsetzbar, zumindest nicht in dieser Situation. Täglich kommen neue staatliche Betriebe dazu, teils übernehmen die Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Absprache die Leitung ihrer Betriebe und jagen die Kapitalisten davon, teils stellen zum Beispiel Düngemittelhersteller aus Protest gegen die Regierungspolitik der Unidad Popular ihren Betrieb ein und bringen ihre monetären Schäfchen ins US-amerikanische Trockene. Flores, so erzählt er in dem NDR-Radio-Feature von Jakob Schmidt und Jannis Funk, erinnerte sich daran, dass er während des Studiums ein Buch über kybernetisches Management gelesen hatte und hält dies für die Zukunft der chilenischen Wirtschaft. Mit Hilfe der permanenten Analyse von Rechenmaschinen eine funktionierende, gerechte Wirtschaft aufzubauen – ohne Hilfe erschien das Flores unmöglich. Und so wendet er sich in einem Brief an den Unternehmensberater Stafford Beer, den Begründer des kybernetischen Managements. Er habe gehofft, dass er überhaupt Antwort erhält, erzählt Flores, denn Beer war so ein berühmter Mann und „wir so ein kleines Land, so arm …“. Flores erhält nicht die Antwort, die er sich erhofft hat. Der Unternehmensberater, dessen „Viable System Model“ noch heute an jeder Business School gelehrt wird, empfiehlt keinen Kollegen, schickt keinen Assistenten nach Chile. Stattdessen kommt Stafford Beer selbst, lernt die Revolution kennen, die „nach Rotwein und Empanadas schmeckt“ und baut mit Fernando Flores und einem Team das „Projekt Cybersyn“ auf. Der Traum der kybernetisch gelenkten Gerechtigkeit beginnt. Bis zu seiner Zerstörung sollte es keine zwei Jahre dauern.

In ihrem Feature erzählen Schmidt und Funk mitreißend und mit vielen Zeitzeugeninterviews über den Aufbau des Projekts Cybersyn, sind, wie es sich für einen ordentlichen deutschen Radiosender gehört, gehörig erschrocken über den Sozialismus an sich und können doch ihre Faszination für eine gerechte Wirtschaft (und dann auch noch mit solchen Mitteln!) nicht verbergen. Vielleicht versuchen sie es auch gar nicht erst.

Beer sieht sich in Chile vor allerlei Problemen. Wie soll man Management, das eben nicht nur von oben nach unten, sondern auf allen Ebenen stattfinden soll, in einem Land etablieren, dessen Regierung nur über einen einzigen Computer verfügt? Die Antwort fand sich im Keller des Palastes La Moneda: Hunderte Telexmaschinen, von der vorherigen Regierung angeschafft. Mit ihnen konnten Informationen verarbeitet und beinahe in Echtzeit ausgetauscht werden. Mit ihnen übernahmen die Chilenen nach und nach tatsächliche Kontrolle über ihre Produktion. Das Ziel dabei: Daten – die als „Gemeingut“ klassifiziert wurden und nicht mehr als Eigentum von Unternehmen – sollten Produktion und Versorgung planbar machen, selbst die Zufriedenheit der Chileninnen und Chilenen sollte im „Projekt Cyberfolk“ gemessen werden und so einen Austausch zwischen Bürgern und Regierung in Echtzeit ermöglichen, der permanentes Nachsteuern möglich machen sollte. Mit dieser Idee hat Stafford Beer das Internet vorweggenommen.

Eigensinnig, wie Beer den Erzählungen nach war, durfte es dann auch kein normaler Konferenzraum in einem Rechenzentrum sein, in dem das Projekt Cybersyn arbeitete. Wie in einem Stanley-Kubrick-Film sah er aus, der Operation Room, entworfen von dem deutschen Industriedesigner Gui Bonsiepe: Fiberglassessel mit eingebauten Aschenbechern und Getränketischen, angeordnet in einem Halbkreis, jeder mit Bedienfeldern mit intuitiven Symbolen ausgestattet.

Je größer die Bestrebungen wurden, die Regierung Allende zu stürzen und Chile zu dem unerträglichen neoliberalen Experimentierfeld der Chicago-Boys zu machen, zu dem es schließlich wurde, umso schwieriger wurde die Arbeit des Projekts Cybersyn. Aber es half Chile auch durchzuhalten: Als 1972 die Lkw-Fahrer die Arbeit niederlegten und das Land blockierten, um mit Not und Hunger eine Aufgabe der Regierung Allende zu erzwingen, beschlagnahmte Fernando Flores, inzwischen Finanzminister, eine Lkw-Fabrik von Ford und organisierte mit Hilfe von Cybersyn und den Telex-Maschinen die Verteilung von Lebensmitteln und Medikamenten im ganzen Land.

Es war nicht nur der Verlust des Kupfers oder die Gefahr eines ideologischen Flächenbrands im eigenen Hinterhof, was Chile für die USA so gefährlich machte.

Noch am 11. September, direkt nach dem Tod Allendes, zerstörten die Schergen Pinochets den Operation Room des Projekts Cybersyn. In England saß Stefford Beer vor dem Radio und weinte.

Mit dem Radiofeature von Jakob Schmidt und Jannis Funk bekommt man einen ersten Überblick über die Arbeit Chiles mit der Kybernetik. Und ein erstes Gefühl dafür, was das, was uns heute mindestens den halben Tag beschäftigt und was wir „Internet“ nennen, hätte werden können, wäre es nicht in der neoliberalen Hölle entstanden, sondern in einem Land, das technischen Fortschritt für Gerechtigkeit einsetzt. Und über was würden wir dann heute wohl sprechen, wenn wir von „Künstlicher Intelligenz“ reden?

Hat ja aber alles nicht geklappt, sagten Kritiker gern zu Stafford Beer. Wenn durch das kybernetische Management die Wirtschaft eines Landes so viel über sich selbst und äußere Umstände weiß, dass es einem lebenden Organismus gleichkommt, hätten sich Land und Wirtschaft dann nicht verteidigen können müssen? Wie, so antwortete Stafford Beer, „soll sich ein Organismus verteidigen, dem in den Kopf geschossen wurde?“.

Wer neugierig auf das große chilenische Kybernetikexperiment geworden ist und sich neun knapp einstündige Folgen auf Englisch zutraut, sollte unbedingt zusätzlich zum NDR-Feature Evgeny Morozovs neuen Podcast unter dem wunderbaren Namen „The Santiago Boys“ anhören. Es lohnt sich, auch für die, die heute darüber nachdenken wollen, wie das Internet dem Menschen dienen könnte statt dem Profit.


Projekt Cybersyn – Chiles kybernetischer Traum von Gerechtigkeit
Ein Feature von Jakob Schmidt und Jannis Funk
2 Folgen

The Santiago Boys
Ein Podcast von Evgeny Morozov
9 Folgen


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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Computergesteuerte Gerechtigkeit", UZ vom 4. August 2023



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