Vor 500 Jahren entwickelten sich in Italien eine neue Gesellschaft, eine neue Weltanschauung – und damit eine neue Kunst

Die Natur als Prüfstein

Von jf

Leonardos anatomische Zeichnungen zeigen die enge Verbindung von moderner Wissenschaft und Kunst

Leonardos anatomische Zeichnungen zeigen die enge Verbindung von moderner Wissenschaft und Kunst

( Gemeinfrei)

In der Kunst der italienischen Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert zeigt sich bereits ein bürgerlicher Charakter – noch bevor sich der Kapitalismus endgültig herausgebildet hatte. Diese Kunst spiegelte wider, dass es in Italien – im Gegensatz zu Nordeuropa – bereits damals relativ hochentwickelte Ansätze einer frühen kapitalistischen Wirtschaft gab. Aber neue Erscheinungen in der Kunst entstehen nicht erst, wenn sich eine neue Gesellschaftsordnung konsolidiert. Vielmehr treten sie bereits in der vorangehenden Ordnung auf, sie entstehen mit den neuen sozialen Kräften, die die Zukunft bestimmen werden.

Am weitesten fortgeschritten waren die Städte der Lombardei und der Toskana. Hier entfalteten sich im 13. Jahrhundert Handel und Industrie, begünstigt durch ihre Handelswege in den Orient. Davon profitierte vor allem Venedig. Es war die Hauptstadt der Adria und hatte Besitztümer in Griechenland, Kreta, Zypern und an der dalmatinischen Küste. Venezianische Schiffe liefen europäische Häfen an, bis hin nach Holland und England. Venezianische Dukaten wurden zu einer internationalen Währung und mit 200 000 Einwohnern hatte die Stadt eine erstaunlich große Bevölkerung.

Die Gesellschaftsordnung des venezianischen Staates wurde durch seine wirtschaftlichen Interessen bestimmt und umfasste auch den Adel; daher blieb seine Verfassung aristokratisch. Anders in Florenz, der zweitmächtigsten Stadt Italiens. Florenz hatte seit 1293 eine Verfassung, die den Adel von der Regierung ausschloss und seine Verwaltung ausschließlich auf die Patrizier übertrug. Seine Ratsversammlung umfasste weder kleine Handwerker noch das einfache Volk. Dennoch war die florentinische Verfassung fortschrittlicher als die venezianische. Damals war Florenz einzigartig in Europa für seine auf bürgerlich-demokratischen Grundlagen basierende Verfassung.

Die mächtigste der Florentiner Patrizierfamilien war die Familie Medici. Unter ihnen wurden die Patrizier zu den wichtigsten Patronen der Künstler. So erblühte die Kunst und Kultur der Renaissance auf der Grundlage der italienischen bürgerlichen Republik.

Das Italien der Renaissance brachte große Denker, herausragende Dichter und andere Künstler hervor, deren Wissensdurst die Form von künstlerischem Wissen annahm. Die moderne Wissenschaft begann ihre Reise in enger Verbindung mit der Kunst. Wegen ihres Kampfes gegen den Feudalismus musste die neue Bourgeoisie ihr ganzes Denken auf die Realität ausrichten. Damit stand das Wirklichkeitsproblem im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Theorien. Die Natur galt als der wahre Prüfstein in allen Fragen der Kunst, ein Gedanke, der das gesamte Denken der Renaissance durchzieht.

Die aufstrebenden Naturwissenschaften betrachteten den Menschen als einen Teil der Natur, verbunden mit natürlichen und irdischen Dingen und doch als ein rationales Wesen. Persönlichkeit und Individualität wurden zu wichtigen Begriffen, in der Kunst entwickelte sich die Form des Porträts.

All dies war das Ergebnis der gestiegenen gesellschaftlichen Bedeutung der italienischen Städtebürger. Der demokratische Patriotismus ergänzte diese Entwicklungen in der bildenden Kunst, insbesondere in der Zeit der Hochrenaissance. Dieser Patriotismus wurde durch die Bereitschaft der Bürger gefördert, staatliche Unabhängigkeit und demokratische Rechte zu verteidigen. So waren frühe kapitalistische Entwicklung, Patriotismus und relativer Reichtum die Voraussetzungen für den Aufschwung der Renaissance in Italien.

Die Hochrenaissance umfasst den kurzen Zeitraum zwischen 1500 und 1530. Als die Kunst der Renaissance ihren Höhepunkt erreichte, hatte der wirtschaftliche Absturz Italiens bereits begonnen. Das Bürgertum zog sich zurück in Bankgeschäfte, Wucher und Kapitalinvestitionen in Landbesitz. Italien erlebte eine Wiederbelebung feudaler Verhältnisse.

Im Gegensatz dazu verteidigten die fortschrittlichen Denker und Künstler des 16. Jahrhunderts weiterhin die Leistungen des Volkes. Humanistisches Denken, das ursprünglich auf eine kleine lateinisch gebildete Elite beschränkt war, wurde nun in der Landessprache verbreitet. Nationale und demokratische Ideale wurden bewahrt und definierten die Hochrenaissance. Sie ist untrennbar mit drei großen Namen verbunden: Michelangelo, Raffael und eben dem des vor 500 Jahren gestorbenen Leonardo.

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"Die Natur als Prüfstein", UZ vom 3. Mai 2019



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