Gabriel Boric wird neuer chilenischer Präsident

Ein Sieg, der die Zukunft nur verschiebt?

Der neue chilenische Präsident wird Gabriel Boric heißen. Bei der Stichwahl am Sonntag setzte er sich mit 55,9 Prozent der Stimmen gegen den rechtsextremen José Antonio Kast durch. Damit haben sich Positionen der Ausländerfeindlichkeit und der Zuneigung zur Pinochet-Diktatur zu mehr als 44 Prozent summiert.

Die Beteiligung war in der Stichwahl mit 55,7 Prozent um mehr als eine Million Wählerinnen und Wähler höher als in der ersten Runde vor vier Wochen, als 47,3 Prozent teilnahmen. Dazu hat natürlich die Polarisierung durch zwei komplett unterschiedliche Kandidaturen beigetragen. Mit 4,62 Millionen Stimmen geht der nur 35 Jahre alte Boric, Sohn eines katalanisch-kroatischen Einwandererpaares, nicht nur als jüngster, sondern auch als der Präsident mit der historisch höchsten Zustimmung in die chilenische Geschichte ein. Hunderttausende säumten die Hauptstraßen der Hauptstadt Santiago und der Provinzhauptstädte.

Gabriel Boric führt das linke Bündnis „Apruebo Dignidad“ an, das im Zuge der Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung vor einem knappen Jahr entstanden war. Boric hatte sich im Juli in den Vorwahlen der Parteienkoalition, der auch die Kommunistische Partei Chiles angehört, gegen den Kommunisten Daniel Jadue durchgesetzt. Er gilt als gemäßigter Linker, ist aber klarer Gegner der Pinochet-Verfassung und der aus ihr entstandenen Ungerechtigkeit in der Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik, die die chilenische Gesellschaft im lateinamerikanischen Vergleich zu einer ausgeprägten Ellenbogenmentalität geführt hat.

Wie bei solchen Momenten international üblich, unterstrich der neue Präsident in seiner ersten Rede die Bedeutung von Gerechtigkeit und Freiheit sowie, dass er „der Präsident aller Chileninnen und Chilenen sein werde“. Also auch derer, die für Kast gestimmt haben. Genau deren Hang, sich von einem jungen Linken vertreten sehen zu wollen, steht allerdings zu bezweifeln. Die von Gabriel Boric angemahnte „gesellschaftliche Kohäsion“, die in Form einer wahren Entwicklung „den Familien und den Klein- und Mittelunternehmen zugute“ käme, dürfte in Chile derzeit in weiter Ferne sein. Boric sagte, dass „die Hoffnung die Angst besiegt“ habe; um die Wirtschaft werde man sich ebenso kümmern wie um höhere Renten. Im Westen Südamerikas nichts Neues: Soll es für alle besser werden, setzen sich die mit den besten Startchancen durch. Und alles bleibt gleich.

Von überall her kamen Glückwünsche. Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel hob die Möglichkeiten für bessere Beziehungen hervor; Venezuelas Nicolás Maduro sah den Faschismus besiegt; Perus Präsident Pedro Castillo unterstrich angesichts des Drucks, dem er nach in ähnlicher Weise umkämpften und gegen die organisierte Rechte knapp siegreichen Wahlen ausgesetzt ist, richtigerweise die Einheit der lateinamerikanischen Völker. Der spanische Regierungschef Pedro Sánchez sieht für Chile Gerechtigkeit, Feminismus und Ökologie aufziehen und stärkere Beziehungen zur EU aufkommen. Auch aus den konservativ regierten Ecuador und Uruguay kamen Erfolgswünsche.

Im März wird der Amtswechsel also ein weiteres Land Lateinamerikas zurück in eine linke, demokratische Linie führen. Die hohe Zustimmung für rechtsextreme Kandidaturen, die nur mit einer vereinten Linken zu stoppen sind, der sich das bürgerliche Lager aber selbst um den Preis des institutionalisierten Faschismus nur widerwillig oder gar nicht anschließt, lässt indes für die nächste Wirtschaftskrise, der die sozialdemokratisch inspirierten Regierungen in der Regel zum Opfer fallen, Ungutes befürchten.

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"Ein Sieg, der die Zukunft nur verschiebt?", UZ vom 24. Dezember 2021



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