Vor 100 Jahren marschierten italienische Faschisten nach Rom

Eine neue Stufe der Barbarei

In Italien herrschen ziemlich chaotische Verhältnisse: Die Wirtschaft liegt am Boden, die Staatsverschuldung wächst unaufhörlich, die politisch Verantwortlichen sind außerstande, etwas daran zu ändern, die linken Kräfte sind gespalten und zerstritten – und so wächst sich die wirtschaftliche und politische Krise zu einer immer größeren sozialen aus.

Was sich wie eine aktuelle Zustandsbeschreibung liest, charakterisiert die Lage Italiens vor über 100 Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Italien gehörte zwar zu den Siegermächten, jedoch waren die ökonomischen und menschlichen Folgen des Krieges enorm. Die Kriegswirtschaft hatte die zivile Ökonomie zerstört. Ehemalige Soldaten kamen mit dem „Zivilleben“ nicht mehr zurecht – sie hatten zu Hause alles verloren und im Krieg nichts gewonnen. Die Armen waren ärmer geworden und die Besitzenden hatten Angst um ihre Besitztümer.

Aber auch in Italien hatten sich die Nachrichten über die revolutionären Ereignisse in Russland verbreitet und die Menschen wehrten sich: Auf dem Land stürmten Pächter und Landarbeiter die Güter der Großgrundbesitzer und in den Städten Norditaliens kam es zu Fabrikbesetzungen, doch es fehlte eine organisierende Kraft – die Sozialdemokraten hatten sich mit dem Einschwenken auf den Kriegskurs vor den Massen selbst entlarvt, die Anarchisten waren anarchisch und die Kommunisten noch in der Findungsphase.
Auf der anderen Seite hatten Großbourgeoisie und Adel erkannt, welche Gefahr für sie heraufzog. Deswegen erhielten andere Gruppen Unzufriedener, die Nationalisten, großzügige Unterstützung.

Die ersten Faschisten

Unter jenen war die Gruppe mit dem demagogischen Namen Fascio d‘Azione Rivoluzionaria (Bündnis – auch als Bündel übersetzbar – der revolutionären Aktion), die Benito Mussolini gemeinsam mit anderen sowie solventen Förderern bereits 1914 gegründet hatte. Mussolini, bis zum 21. Oktober 1914 Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitung „Avanti“, verließ die italienischen Sozialisten, nachdem sich seine Haltung zum Krieg um 180 Grad gedreht hatte. Noch im Juli 1914 forderte er: Keinen Mann und keinen Pfennig Geld für den Krieg. Drei Monate später war aus ihm ein glühender Nationalist und Verteidiger des „Vaterlandes“ geworden. Er war nicht der einzige, der sich hinsichtlich seiner sozialistischen „Überzeugungen“ als wankelmütig und wenig standhaft erweisen sollte. Wir kennen das aus Deutschland, wo am 2. Dezember 1914 nur Karl Liebknecht von der sozialdemokratischen Fraktion gegen die Kriegskredite stimmte. Im Vorfeld führten Teile des SPD-Fraktionsvorstandes gegen jene, die die Kredite ablehnen wollten, eine Kampagne, die sie als „Zarenversteher“ abstempeln sollte – mit Erfolg, wie man sehen konnte. Dieser Riss zwischen Internationalisten und „Vaterlandsverstehern“ ging auch durch die italienische PSI (Partito Socialista Italiano).

Mussolini sollte der bekannteste jener Nationalisten werden. Zwar hatte sich seine Gruppe Fascio d‘Azione Rivoluzionaria mit dem Kriegseintritt Italiens am 23. Mai 1915 quasi erledigt, auch weil nun alle mit Begeisterung zu den realen Waffen griffen. Aber, wie Zeitzeugen berichteten, kamen fast alle, die den Krieg überlebt hatten, am 23. März 1919 im Gebäude der Industrie- und Handelskammer an der Mailänder Piazza San Sepolcro zur Gründung der Fasci Italiani di Combattimento (Kampfbünde/-Bündel Italiens) zusammen, aus denen dann 1921 die Nationale Faschistische Partei (Partito Nazionale Fascista, kurz PNF), hervorging.

Faschistische Bildsprache

Wie viele Reaktionäre bedienten sich auch die italienischen Faschisten historischer Anleihen, die sie dann zum Mythos verklärten. Der Begriff „Fasci“, aus dem dann die Bezeichnung „Faschismus“ abgeleitet wurde, nimmt eine wichtige Rolle ein. Das Wort kommt vom lateinischen „Fasces“ und bedeutet „Rutenbündel“. Solche Rutenbündel, in die noch Beile gesteckt waren, wurden in der Antike von verschiedenen Kulturen verwendet. Sie dienten als symbolisches Zeichen der Macht. Die straff gebündelten Ruten symbolisierten sowohl die Stärke engen Zusammenstehens als auch Strafe für Ungehorsam und Ausscheren aus der Gruppe, denn mit den Ruten wurden Prügelstrafen verabreicht und die Beile dienten zum Abhacken von Gliedmaßen. Bei den Etruskern und den alten Römern wurden sie im engen Umfeld von Herrschern gezeigt, um deren Macht zu symbolisieren. Das gefiel den italienischen Faschisten: straffe Gruppen, Einordnung, Unterordnung unter starke Führer, Disziplin, autoritäre Ordnung und Bestrafung. Ein Symbol steht für ein ganzes Programm – viel stärker als das Hakenkreuzsymbol der deutschen Faschisten, von dem die meisten, die es am Ärmel trugen, nicht einmal wussten, was es bedeutet.

Kriegsgrauen

Die demobilisierten Soldaten des Ersten Weltkrieges hatten zwar den Krieg für andere gewonnen, aber selbst vieles verloren. Nach vielen Toten, Verwundeten, Dreck, Schlamm und Blut kamen sie zurück in eine Normalität, die nicht ihre war. Sie suchten Halt und fanden ihn in Kriegervereinen oder ähnlich organisierten Männerbünden – dort begegneten sie „Kameraden“, die Ähnliches erlebt hatten. Sie waren sozial entwurzelt und damit auch ihrer Klasse entfremdet. Die Faschisten lieferten ihnen das, was sie suchten. Massenweise strömten sie in die Fasci di Combattimento, bekamen Befehle und Uniformen und ließen sich wieder vor den Karren anderer Interessen spannen. Und so waren sie auch als Sturmtrupps gegen die aufbegehrenden Pächter, Landarbeiter und Fabrikbesetzer im Norden Italiens instrumentalisierbar. Im Süden erledigten diese Aufgabe im Auftrag der Großgrundbesitzer seit Jahrzehnten die Schutztruppen der unterschiedlichen Mafiagruppen. Aber auch hier breitete sich der faschistische Bazillus aus.

3910 March on Rome 1922 Mussolini - Eine neue Stufe der Barbarei - Antifaschismus, Faschismus, Faschisten, Geschichte der Arbeiterbewegung, Italien - Theorie & Geschichte
Von links nach rechts: Italo Balbo, Benito Mussolini, Cesare Maria de Vecchi und Michele Bianchi am 24. Oktober 1922 (Foto: public domain)

Terrortruppe

Mussolini gelang es als Mitgründer der „Bewegung“, sich bis 1921 als faschistischer Führer zu etablieren. Er verfügte über Charisma und gleichzeitig die Chuzpe, die manchmal sehr kleine Männer auszeichnet. Überdies war er gut vernetzt – Teile des Adels und des bürgerlichen Lagers erkannten die Zeichen der Zeit und suchten Kontakt zu den Faschisten. Sie hofften, sie für ihre eigenen Interessen einsetzen zu können. Sie wurden zu Sympathisanten, Unterstützern und sogar Mitgliedern der Faschisten-Partei und wurden nicht enttäuscht. Schon vor dem sogenannten „Marsch auf Rom“ betätigten sich die faschistischen Sturmtruppen als Schlägerbanden des herrschenden Klüngels aus Großkapital, Großgrundbesitzern und Adligen. Dabei schreckten sie nicht vor Totschlag zurück. So verloren im Oktober 1920, nachdem die sozialistischen Kräfte bei den Wahlen einen großen Zuwachs hatten verzeichnen können, bei einem Überfall der Schlägertruppen auf das Rathaus in Bologna neun Menschen ihr Leben. Obwohl die faschistischen Schwarzhemden auf der Straße skandierten: „Italien braucht einen Diktator!“ und Mussolini bereits 1919 in einer Rede klargemacht hatte, dass er ein Parlament für überflüssig halte und die Demokratie nicht schätze, blieben er und seine Mordgesellen nahezu unbehelligt. Dahinter steckten einflussreiche Gönner und Förderer wie Alberto Pirelli, Großindustrieller und „Gummikönig“ Italiens, Antonio Salandra, Abgeordneter und Senator, die Königinmutter und selbst der Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri, die offen Partei für die Faschisten ergriffen.

Staatsstreich von oben

Längst waren sich Unterstützer und Führung der Faschisten einig darüber, den Staat, wie er bisher bestand, völlig umzubauen, um ihre Macht unmittelbarer ausüben zu können. So wurden – angeblich, um den chaotischen Verhältnissen, die sie selbst verursacht hatten, ein Ende zu bereiten – die faschistischen Horden und ihre Anhänger mobilisiert, um nach Rom zu marschieren und die Regierung zum Abdanken zu zwingen. Formal wurde der Beschluss am 22. Oktober 1922 auf einem faschistischen Parteikongress gefasst. Doch alles war bereits organisiert und vorbereitet – auch, dass weder die Armee noch andere Ordnungskräfte eingreifen würden. Nicht nur der Staat und bürgerliche Politiker, sondern auch Intellektuelle trugen mit ihren Äußerungen zum Gelingen des faschistischen Putsches bei. Worum es ging, kann man einem Brief des Schriftstellers Edoardo Giretti an den – 1926 an den Folgen eines Überfalls der Faschisten verstorbenen – Publizisten Piero Gobetti entnehmen: „Wenn Mussolini uns mit der politischen Diktatur ein Regime größerer ökonomischer Freiheit gibt, als wir es bisher von den parlamentarischen Kamorren der letzten hundert Jahre bekommen haben, dann wird die Summe des Guten, das dem Land aus seiner Regierung zufließen wird, bei weitem die des Schlechten übersteigen.“ Der bekannteste unter den italienischen Schriftstellern, die sich völlig vorbehaltlos auf die Seite der Faschisten stellten, war Gabriele D’Annunzio, dessen Bücher auch heute noch weltweit verbreitet sind.

Machtübergabe

In Rom ging alles ganz schnell. Ministerpräsident Facta räumte am 28. Oktober auf mehr oder weniger sanften Druck seinen Sessel und König Vittorio Emanuele III. inaugurierte Mussolini zum neuen Staatschef. Der war seinen Männern übrigens nicht gefolgt, sondern hatte in sicherer Entfernung in Mailand abgewartet. Er kam erst nach seiner Designation als Ministerpräsident bequem im Schlafwagen in die italienische Hauptstadt. Schon hier zeigte sich, dass auch Faschistenführer immer fehlgeleitete und opferbereite Gefolgsleute aller Couleur benötigen, um ihr Geschäft erfolgreich zu betreiben. Tragisch für den Fortgang der Geschichte war allerdings, dass zum ersten Mal Faschisten die Macht in einem Staat übernehmen konnten. Die Rechnung der Reaktionäre war aufgegangen, die Faschisten sicherten ihnen weiterhin die Macht. Denn was Faschisten aller Länder auszeichnet, so unterschiedlich sie in ihren nationalen Ausprägungen auch sein mögen: Sie tasten niemals das Privateigentum der Großkopfeten und das Finanzkapital an.

Der Schoß ist fruchtbar noch …

Da die Entstehung des Faschismus untrennbar mit einer krisenhaften Entwicklung eines bürgerlichen Staates verbunden ist, besteht die Gefahr faschistischer Entwicklung, solange es deren Wurzeln gibt: Groß- und Finanzkapital, Wirtschaftskrise und Krieg. Insofern ist Georgi Dimitroffs Definition „Faschismus an der Macht ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ für die politische Beurteilung von Parteien und Bewegungen noch heute ein guter Ansatz, wie einer der renommiertesten deutschen Faschismusforscher, Manfred Weißbecker, meinte. Doch sollten wir nie aufhören, die konkreten Erscheinungsformen des Faschismus und seine nationalen und historischen Besonderheiten zu analysieren. Das Allerwichtigste ist, den Faschismus zu bekämpfen, in welcher Gestalt er auch immer auftritt. Eine Form des Kampfes muss dabei sein, das Wesen des Faschismus zu enthüllen und den Werktätigen vor Augen zu führen, dass er in jedweder Form immer den Klasseninteressen aller Lohnabhängigen entgegenstehen wird. Wer also den Faschisten nachläuft, verstößt nicht nur gegen seine ureigensten Interessen, sondern auch gegen die der Mehrheit des Volkes!


Antonio Gramsci: „Die italienische Krise“

Der Faschismus hat die radikale Krise des kapitalistischen Regimes, die in Italien wie in der ganzen Welt mit dem Krieg einsetzte, nicht überwunden. Mit seinen repressiven Regierungsmethoden hat er das politische Manifestwerden der allgemeinen kapitalistischen Krise sehr erschwert, ja fast völlig unmöglich gemacht; er hat sie jedoch nicht zum Stillstand gebracht und noch weniger einen Wiederaufschwung und eine Fortentwicklung der nationalen Wirtschaft erreicht. Es heißt allgemein, und auch wir Kommunisten pflegen [dies] zu behaupten, die gegenwärtige italienische Lage sei durch den Ruin der Mittelklassen gekennzeichnet. Das stimmt, muss aber in seiner ganzen Bedeutung begriffen werden. Der Ruin der Mittelklassen wirkt sich verheerend aus, weil sich das kapitalistische System nicht weiterentwickelt, vielmehr eine Beschränkung erfährt; es handelt sich nicht um ein Phänomen an sich, das unabhängig von den allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie untersucht werden und dessen Konsequenzen man vorhersehen kann; es ist die Krise des kapitalistischen Regimes selbst, dem es nicht mehr gelingt, die lebenswichtigen Bedürfnisse des italienischen Volkes zu befriedigen, dem es nicht gelingt, der großen Masse das Brot zu garantieren und das Dach über dem Kopf.
Artikel in der „Ordine Nuovo“ vom 1. September 1924

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"Eine neue Stufe der Barbarei", UZ vom 30. September 2022



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