Verbote und Schikanen bei Gedenkfeiern zum Tag des Sieges in Berlin. Geschichte soll umgeschrieben werden

Angst vor der Wahrheit

Ein junger Mann geht durch das Sowjetische Ehrenmal am Treptower Park, im Bereich der Mutter Heimat wird er von drei Polizisten zu Boden gerungen, zehn weitere stürmen dazu, bilden einen Kreis und versuchen den jungen Mann, dem gerade die Hände auf den Rücken gefesselt werden, von den Umstehenden abzuschirmen. Einer der Polizisten trampelt dabei auf der Fahne des Sieges rum, bis er aufgefordert wird, dies zu unterlassen. Der junge Mann wird – begleitet von ungefähr 15 Polizisten – abgeführt. Sein Vergehen: Er hatte die Fahne der Russischen Föderation und die Fahne des Sieges dabei, beide sind an diesem Tag in Berlin verboten. Es ist der 9. Mai 2023, es ist der Tag des Sieges über den Faschismus. Dass er als Feiertag begangen wird, versucht die Berliner Polizei zu verhindern.

Am Ende des Tages wird Stefan Natke, Landesvorsitzender der DKP Berlin, feststellen, dass er „traurig und wütend“ ist, dass es in Deutschland „schon wieder so weit gekommen ist“. In Berlin hatte die Polizei, wie schon im Jahr zuvor, in einer Allgemeinverfügung das Zeigen der Fahnen der Ukraine, der Russischen Föderation, der Sowjetunion und der Fahne des Sieges untersagt. Das Berliner Verwaltungsgericht erlaubte das Zeigen der Fahne der Ukraine, aber sowjetische und russische Fahnen blieben verboten – auch in der nächsten Instanz.

Durchgesetzt wurde die Verfügung bis ins Kleinste. Als etwa Susanne Steinhardt, extra zum Gedenken nach Berlin gekommen, in einer weißen Jacke, blauem Pullover, roter Hose und weißen Turnschuhen zum Sowjetischen Ehrenmal wollte, sollte sie zuerst die Schuhe ausziehen. Den Hinweis, dass das Weiß in der russischen Fahne nicht unten sei, nahm der Polizist zum Anlass, sie zu belehren: Deutschland sei nicht von den Russen befreit worden, sondern von den Alliierten. Und überhaupt müsse sie nach Hause und sich umziehen – und zwar komplett. Steinhardt fackelte nicht lange, drückte den Menschen neben sich Schal und Jacke in die Hand und zog sich den blauen Pullover aus und die Jacke wieder an. Nur in rot und weiß gekleidet durfte sie die Gedenkstätte nun doch betreten – dass der BH auch blau war, schien den Polizisten entgangen zu sein.

Kleinlich bis ins Letzte setzte die Polizei ihr Verbot auch abseits von Kleidung durch: Fahnen mussten eingerollt, Anstecker mit sowjetischen Symbolen und Georgsbänder abgenommen werden – die Ironie, das unter den in roten Granit gehauenen Hammer-und-Sichel-Symbolen durchzuziehen, entging den beteiligten Ordnungskräften anscheinend.

Fast noch schlimmer war das Vorgehen der Polizei am Sowjetischen Ehrenmal am Tiergarten: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Unsterblichen Regiments, die in sowjetischer Tradition die Fotos von für die Befreiung vom Faschismus gefallenen Rotarmisten trugen, wurden am Brandenburger Tor von der Polizei drangsaliert: Zwei Stunden mussten sie in der Sonne ausharren, dann erst durften sie – in kleine Gruppen unterteilt und von Polizisten eskortiert – zum Ehrenmal. Eine Schweigeminute dort wurde ihnen verwehrt, sie mussten sie auf der Straße abhalten. „Schlimmer“, so Stefan Natke, „kann man die Nachfahren unserer Befreier nicht demütigen.“ Yana Zaugarova, eine der Organisatorinnen des Unsterblichen Regiments, teilte UZ mit, die Maßnahmen des 9. Mai dieses Jahres seien „unfassbar“ gewesen: „All dies ist meiner Meinung nach absolut inakzeptabel und unfair gegenüber Menschen, die an diesem Tag mit den hellsten Gefühlen gekommen sind, um das Andenken ihrer Vorfahren zu ehren.“ Auf die Frage von UZ, ob die Repressalien von Gerichten und Polizei dazu führen werden, dass das „Unsterbliche Regiment“ nicht mehr in Berlin stattfinden wird, antwortete Zaugarova, man werde sich nicht abhalten lassen: „Absurde Verbote können unsere Liebe und Dankbarkeit gegenüber allen 128 Nationalitäten des sowjetischen Volkes, die den Faschismus besiegt haben, nicht beeinträchtigen, ganz im Gegenteil.“

Unfassbar war auch, was außerhalb von Berlin passierte: Vor dem Europaparlament in Straßburg warf Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dem russischen Präsidenten Wladimir Putin anlässlich der Parade zum Tag des Sieges in Moskau „Machtgehabe“ vor. In einer Pressekonferenz im Vorfeld hatte er von der „friedlichen Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg“ fantasiert – der Krieg der NATO gegen Jugoslawien passt halt nicht ins herrschende Narrativ der „Zeitenwende“.

Das Wort „Befreiung“ wollte auch die „picture alliance“, das Fotoportal der Nachrichtenagentur dpa, lieber nicht in den Mund beziehungsweise in ihre Bildbeschreibungen aufnehmen. Zu den – überaus wenigen – Bildern, die vom 9. Mai diesen Jahres vom Ehrenmal in Treptow zur Verfügung standen, waren die Informationen überaus absurd. Am 9. Mai würde zum Beispiel „der gefallenen Soldaten des 2. Weltkriegs gedacht“, hieß es zu einem Bild. Und zu einem anderen, es sei eine „Gedenkveranstaltung zum Sieg Russlands im Deutsch-Sowjetischen Krieg“ – damit hat man dann nicht nur die Befreiung, sondern gleich auch die deutsche Verantwortung für den Weltkrieg entsorgt.

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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Angst vor der Wahrheit", UZ vom 19. Mai 2023



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