Die Geschichte der Friedensidee, ihr Scheitern und ihre Zukunft

Eine Welt ohne Krieg

Domenico Losurdo

Im September erschien das Buch „Eine Welt ohne Krieg“ des 2018 verstorbenen marxistischen Historikers und Philosophen Domenico Losurdo. Er untersucht darin, wie es im Untertitel heißt, die „Friedensidee von den Verheißungen der Vergangenheit bis zu den Tragödien der Gegenwart“. Schon seit der Aufklärung habe es große Erwartungen an einen „ewigen Frieden“ gegeben. Diese seien theoretisch begründet worden, hätten in der Praxis aber zum Gegenteil geführt. „Wie heute für eine Welt ohne Krieg kämpfen?“, überschreibt Losurdo das Schlusskapitel seines Buches. Aus diesem drucken wir hier einen längeren Auszug ab. Christel Buchinger hat das bereits 2016 auf Italienisch veröffentlichte Werk übersetzt. Wir danken dem PapyRossa-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

Der Krieg, von der „Natur“ zur Geschichte

In der Ideologie des Ancien Régime waren sowohl der Krieg als auch das Massenelend ein Verhängnis oder vielmehr ein von der Vorsehung bestimmtes Naturereignis. Heutzutage würden es nur wenige wagen, sich auf die Natur oder auf den göttlichen Willen zu berufen, um das Fortbestehen der Geißel der Armut in diesem oder jenem Gebiet der Erde zu erklären: Einerseits hat die industrielle Revolution eine ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte gefördert, andererseits haben ständige politische Revolutionen das Problem der Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf die Tagesordnung gesetzt. Die These vom endemischen Elend als Naturtatsache wird inzwischen durch massenhafte historische Erfahrungen widerlegt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Man denke an die Höhen und Tiefen in der Geschichte, die dazu geführt haben, dass ein Land mit einer tausendjährigen Zivilisation wie China erst in schwärzeste Armut stürzte und dann auf wundersame Weise wieder auflebte. Die zentrale Bedeutung des politischen Handelns und der historische Charakter des Massenelends sind für alle sichtbar.

Sollen wir Joseph de Maistres Meinung, was den Krieg betrifft, teilen? Tatsächlich hatte er, als er seine historische Bilanz zog, wonach es nie einen „Aufstand auf dem Schlachtfeld“ gegeben habe und geben würde, nur Recht mit Blick auf die Geschichte, die hinter ihm lag: Im zwanzigsten Jahrhundert kam der Aufstand der Armee eines Landes gegen die eigene Regierung, gegen den Krieg und die Kriegstreiber auf die Tagesordnung, beginnend mit der Oktoberrevolution, die entschlossen war, dem Massaker des Ersten Weltkriegs ein Ende zu setzen. Darüber hinaus waren es nicht nur Kriege großen Ausmaßes, die Revolten und Revolutionen provozierten: Die „Nelkenrevolution“, die im April 1974 die faschistische Diktatur in Portugal stürzte, ist ohne die wachsende Unduldsamkeit der Armee in Bezug auf den barbarischen Krieg, den sie in den Kolonien führen musste, nicht zu verstehen.

Ein wesentlicher Wandel im Diskurs über den Krieg wurde durch die Entwicklungen der industriellen und technologischen Revolution herbeigeführt, die beispiellose Gemetzel, Verwüstungen und sogar den nuklearen Holocaust möglich und leicht zu bewerkstelligen machten. Ungeachtet aller anderen Unterschiede können wir für den Krieg die Argumentation wiederholen, die für das Massenelend angeführt wurde: Auf der einen Seite haben die industrielle und technologische Revolution, auf der anderen Seite die politischen Revolutionen ein für alle Mal die Vorstellung vernichtet, die diese beiden Geißeln auf eine Naturkatastrophe reduzierte, gegen die politisches Handeln und Geschichte nichts ausrichten könnten.

Die Entstehung des Ideals des ewigen Friedens als politisches Projekt (und nicht als bloßer Traum), und zwar als politisches Projekt, das die gesamte Menschheit umfassen soll, ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Denkens und der Geschichte als solcher: Statt mit einem Naturphänomen oder einer Naturkatastrophe gleichgesetzt zu werden, wird der Krieg nun unter dem Gesichtspunkt von Machtverhältnissen untersucht, die innerhalb eines einzelnen Landes oder auf internationaler Ebene herrschen. Auf diese Weise hat das Ideal des ewigen Friedens, wie naiv, emphatisch oder messianisch die Formen auch sein mögen, auch auf wissenschaftlicher Ebene das Verdienst, zur Entnaturalisierung und zur Historisierung des Phänomens Krieg beizutragen.

Wie kann der Krieg verhindert werden: imperiale Macht oder Machtbegrenzung?

Selbstverständlich können die verschiedenen Versionen des Ideals des ewigen Friedens nicht alle auf die gleiche Ebene gestellt werden. Im Laufe meiner Ausführungen habe ich bereits eine klare Zweiteilung vorgenommen und mich kritisch gegen jene Versionen geäußert, die explizit oder implizit den universalistischen Ansatz ablehnen oder in Frage stellen, wie dies auf besonders schrille oder entschieden widerwärtige Weise von jenen Theoretikern des „ewigen Friedens“ getan wird, für die die Ausrottung des Krieges mit der Vernichtung von Völkern oder „Rassen“ zusammenfällt, die zuvor als „Krieger“ gebrandmarkt wurden.

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Hinrichtung von chinesischen Aufständischen unter der Aufsicht der imperialistischen Interventionstruppen um 1900. (Foto: Public Domain)

Wir können nun mit einer zweiten Zweiteilung fortfahren: Es gibt Vorstellungen, nach denen die Anarchie der internationalen Beziehungen und die damit verbundene ständige Kriegsgefahr überwunden oder eingedämmt werden kann, indem die Macht der einzelnen Staaten mehr oder weniger gleichmäßig begrenzt wird. Im Gegensatz dazu befürworten andere Visionen, entweder offen oder de facto, die Konzentration der Macht in einem einzigen Staat oder einer Gruppe von Staaten, die dafür verantwortlich wären, als internationale Polizei oder Exekutivorgan der Weltregierung zu agieren. Zu dieser zweiten Kategorie gehören die – wenn auch sehr unterschiedlichen – Projekte, die historisch versucht haben, die Pax Napoleonica, Britannica, Americana oder die Macht der Heiligen Allianz über die „christliche Nation“ durchzusetzen. Auf diese zweite Kategorie verweist auch der heute wiederkehrende Diskurs, wonach der Westen – und in erster Linie sein führendes Land – das Recht, ja die Pflicht hätte, auch ohne Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates die Verbreitung der Demokratie (das heißt die Achtung der Menschenrechte) in der Welt gewaltsam durchzusetzen, um endlich auch die Wurzeln des Krieges auszumerzen und den endgültigen Triumph des Friedens zu ermöglichen.

Diesbezüglich kommt es zu einer paradoxen Umkehrung der Positionen. Wenn die Bewegung, die von Marx und Engels ausging, oft den Traum vom Verschwinden der Macht als solcher verfolgt hat, mit der verhängnisvollen Folge, dem Problem ihrer Begrenzung wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, so hatte die liberale Tradition das Verdienst, gerade auf diesen letzten Punkt die Aufmerksamkeit zu lenken. Das große Diktum von Lord Acton ist allseits bekannt: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut“. Es war daher notwendig, den Schwerpunkt von der Suche nach exzellenten Herrschern auf die Einführung von Regeln und Mechanismen zu verlagern, die die Macht eindämmen und damit akzeptabel oder erträglich und möglichst ungefährlich machen sollten. Adam Smith wiederum, der in gewisser Weise Lord Actons Vision vorwegnahm, sie aber auf die Ebene der internationalen Beziehungen übertrug, stellte fest, dass zur Zeit der Entdeckung und Eroberung Amerikas „das Übergewicht an Macht auf Seiten der Europäer so groß [war], dass sie sich jede Art Ungerechtigkeit in diesen fernen Gebieten erlauben konnten“. Auch und vielleicht besonders auf internationaler Ebene korrumpiert absolute Macht absolut: Ein kolossales Missverhältnis der Kräfte und das Ausnutzen einer unwiderstehlichen militärischen Macht des Westens haben das ermöglicht und geprägt, was man die „kolumbianische Ära“ nennen könnte, jenen historischen Zyklus, in dem der Westen Protagonist ununterbrochener Kriege zur Unterwerfung, Versklavung und Vernichtung kolonialer Völker war.

Wir kommen zur Gegenwart. Indem der Westen sich das Recht anmaßt, einen Krieg auch ohne Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat zu entfesseln, beansprucht er de facto auf internationaler Ebene eine Macht, die keiner Kontrolle unterliegt. Indem sie das Prinzip der Achtung der staatlichen Souveränität für obsolet ansehen, ja dies sogar proklamieren, jedoch ausschließlich sich selbst das Recht vorbehalten, die Souveränität dieses oder jenes Staates für überholt zu erklären, schreiben sich die Großmächte des Westens, allen voran sein Führungsland, eine über das eigene Staatsgebiet hinausgehende, erweiterte Souveränität zu, eine imperiale Souveränität.

Auf einer streng militärischen Ebene ist uns das Bestreben der Vereinigten Staaten bekannt, ein De-facto-Monopol für Atomwaffen zu erlangen, das heißt, in der Lage zu sein, sie ohne Angst vor Vergeltung einzusetzen. Beherzigt man das Motto von Lord Acton, drängt sich eine Schlussfolgerung sofort auf: Unabhängig von der Persönlichkeit des im Weißen Haus sitzenden Präsidenten, wie demokratisch seine Ideen und Einstellungen auch sein mögen, würde die absolute Macht über Leben und Tod, über die er auf planetarischer Ebene verfügte, „absolut“ korrumpieren, und zwar absoluter denn je. Aus der Sicht von Acton ist dies eine höchst bedenkliche Situation. Der liberale Westen und seine angesehensten Denker äußern jedoch die gegenteilige Besorgnis: Sie zeigen sich unruhig und alarmiert durch die Tatsache, dass die von Washington beanspruchte absolute Macht durch den unerwarteten Widerstand, auf den das Imperium in verschiedenen Ecken der Welt gestoßen ist und noch stößt, durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die die Aufrechterhaltung und Entwicklung eines solchen Mammut-Militärapparats behindern, und durch den Aufstieg der Schwellenländer und insbesondere Chinas in die Krise gerät. Die absolute Macht hat im weitgehend unangefochtenen Westen tatsächlich katastrophale Folgen gehabt. Das zeigt sich besonders deutlich im Nahen Osten. Nach Hunderttausenden von Toten, Millionen von Verwundeten und Millionen von Flüchtlingen, materieller Zerstörung in großem Ausmaße und dem Entstehen der Hölle des Konzentrationslagers Abu Ghraib ist die Realität für alle sichtbar: Ganze Länder (Irak, Libyen, Syrien) sehen ihr staatliches Gefüge und ihre territoriale Integrität zertrümmert; Religionskriege flammen auf; die Lage der Frauen erfährt eine drastische Verschlechterung (man denke an die Wiedereinführung der Polygamie in Libyen); überall wüten barbarische fundamentalistische Gruppen, die anfangs vom Westen oder von mit ihm verbündeten Ländern (Saudi-Arabien) unterstützt wurden. Die Utopie des „endgültigen Friedens“, der durch die Verbreitung der „Demokratie“ dank der vom Westen ausgeübten absoluten Macht und unter Missachtung oder Verfälschung von Resolutionen und Leitlinien des Sicherheitsrates durchgesetzt werden soll, hat sich in ihr Gegenteil, in eine Dystopie, verkehrt.

Hat die Sache der Demokratie wenigstens einen bescheidenen Schritt nach vorne gemacht? Am Ende des Krieges gegen Jugoslawien (der, wie gesagt, ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates entfesselt wurde) veröffentlichte die einflussreiche „International Herald Tribune“ einen Artikel, der einer in den Vereinigten Staaten und in der Europäischen Union weit verbreiteten Euphorie und einem Allmachtswahn Ausdruck verlieh: „Was Gutes aus dem Kosovo hervorgeht, sollte die Welt jetzt zur Kenntnis nehmen; die NATO kann tun, was immer nötig ist, um ihre vitalen Interessen zu verteidigen.“ Als sie so frohlockte, feierte die angesehene amerikanische Zeitung nicht den Triumph der Demokratie in einem einzelnen Land, sondern den des Despotismus auf internationaler Ebene. Und es war ein Triumph, der nichts Gutes verhieß und der neue selbstherrlich beschlossene Kriege und neue Katastrophen ankündigte. Und so schamlos war der Despotismus, dass er sich nicht einmal auf „Werte“ berief, sondern explizit den absoluten Vorrang westlicher und amerikanischer „Interessen“ postulierte, ohne jede Rücksicht auf das Völkerrecht oder auf „humanitäre“ Gründe. Und wieder sehen wir, wie die Utopie in die Dystopie umschlägt.

Tatsache ist, dass die Sache des Friedens nicht von der Sache der Demokratisierung der internationalen Beziehungen trennbar ist. Es war eine Vision, über die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs die gesamte internationale Gemeinschaft einig zu sein schien: Was war das Dritte Reich gewesen, wenn nicht der Versuch, die koloniale Tradition wieder aufzunehmen und zu radikalisieren, die „kolumbianische Epoche“ zu verlängern und zu erneuern – unter dem Banner der überwältigenden „Überlegenheit der Kräfte“ des Westens, als deren Vorkämpfer sich Hitler gegenüber den Kolonialvölkern, zu denen auch die „Eingeborenen“ Osteuropas zählten, aufschwang? Ähnlich, nur in einem völlig anderen geographischen Kontext, verhielten sich das Reich der aufgehenden Sonne und das von Mussolini. So konnte sich Gandhi eines breiten Konsenses erfreuen, als er am Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Prinzip der „Gleichheit aller Rassen und Nationen“ als Grundlage eines „wahren Friedens“ bestand.

Der Kampf um dieses Prinzip ist jedoch noch lange nicht zu Ende. Kehren wir zu Lord Acton zurück. Es ist wahr, dass man ihm das zu Recht berühmte Motto verdankt, das vor dem Missbrauch von Macht warnt. Es ist jedoch erwähnenswert, dass er anlässlich des Bürgerkriegs in den Vereinigten Staaten mit großer Sympathie und sogar Bewunderung auf die Sache des sezessionistischen und sklavenhaltenden Südens blickte: Mit anderen Worten, er machte das Prinzip der Begrenzung der Macht nur innerhalb der weißen, zivilisierten Gemeinschaft geltend, während er sich nicht über die absolute Macht empörte, die von weißen Herren über ihre schwarzen Sklaven ausgeübt wurde. Es ist diese Tradition, die es dem liberalen Westen erlaubt, sich nicht im Widerspruch zu sich selbst zu fühlen, sondern mit sich selbst im Reinen zu sein, wenn er sich unter Umgehung der UNO den Anspruch anmaßt, mit seinen Armeen und seiner Kriegsmaschinerie in jedem Winkel der Welt eigenmächtig zu intervenieren.

Wer schützt uns vor der „Responsibility to protect“?

Selbstverständlich hätte in der heutigen Zeit das Schwenken der Fahne der Rassenungleichheit und Rassen­hierarchie keinerlei Aussicht auf Erfolg. Man geht ganz anders vor. Die Theoretiker der „neokonservativen Revolution“ (genauer: der zweiten kolonialistischen Konterrevolution) wissen das sehr wohl und sie urteilen folgendermaßen: Im Falle eines Gegensatzes zwischen Rechtsnorm und moralischer Norm ist es die letztere, die sich bedingungslos durchsetzen muss. Gewiss, das Völkerrecht und die Satzung der UNO sanktionieren das gleiche Recht eines jeden Landes auf Achtung seiner staatlichen Souveränität; bei Vorliegen einer schweren und umfangreichen Verletzung der Menschenrechte kann man sich jedoch der „Schutzverantwortung“ nicht entziehen und muss daher „humanitär intervenieren“; wer sich an den legalistischen Bürokratismus klammert, zeigt, dass er für die höheren Gründe der Moral und der Menschlichkeit taub ist.

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Truppen der Acht-Nationen-Allianz, die 1900 gegen Aufständische in China kämpften. Von links: Britannien, USA, Australien, Indien, Deutschland, Frankreich, Österreich-Ungarn, Italien, Japan. (Foto: Julius Jääskeläinen / Wikimedia / CC BY 2.0)

Selbst mit ihrer demagogischen Großspurigkeit (die die Vernunft zum Schweigen bringen will, indem sie an Gefühle und Emotionen appelliert) und selbst wenn sie notfalls von einem gigantischen multimedialen Apparat unterstützt wird, gelingt es dieser zum Gemeinplatz der herrschenden Ideologie gewordenen Argumentationsweise nicht, eine elementare und unausweichliche Frage überzeugend zu beantworten: quis judicabit (wer urteilt)? Wenn dem Westen und den USA, und nur ihnen, wenn der NATO, und nur ihr, das Recht eingeräumt wird, zu beurteilen, wann es notwendig ist, die Resolutionen des Sicherheitsrates abzuwarten und einzuhalten, und wann es erlaubt und sogar richtig ist, auf sie zu verzichten oder sie zu missachten und zu verletzen, dann ist klar, dass das Prinzip der Gleichheit zwischen den Nationen, das freundlicherweise durch die Tür hereingelassen wurde, brutal aus dem Fenster hinausgeworfen wird, so dass die zur Schau gestellten edlen moralischen Gefühle nur als Deckmantel für einen skrupellosen Wunsch nach Macht und Herrschaft dienen.

(…)

Noch in der heutigen Zeit kann man sich fragen: Wer schützt uns vor denen, die einseitig und eigenmächtig die „Schutzverantwortung“ übernommen haben? Und wer wird den Protagonisten der humanitären Kriege Lektionen über die Achtung der Menschenrechte und die Grundprinzipien der Menschlichkeit erteilen? Ein Jahr nach dem Zweiten Golfkrieg, der auch im Namen des Kampfes gegen Brutalität und Grausamkeit gerechtfertigt wurde, rechnete eine konservative französische Zeitung vor, dass es dreißig Jahre nach dem Ende der Feindseligkeiten in Vietnam immer noch „vier Millionen“ Opfer gibt, deren Körper vom „schrecklichen Agent Orange“ (gemeint ist die Farbe des Dioxins, das von US-Flugzeugen rücksichtslos über ein ganzes Volk versprüht wurde) entstellt sind. Es dürfte kein Zweifel mehr bestehen: Der Anspruch eines Landes oder einer Gruppe von Ländern, die privilegierten oder ausschließlichen Interpreten universeller Werte zu sein, die sie auch durch einseitige und eigenmächtige Anwendung von Waffengewalt zu schützen befugt wären, dient nur dazu, das Recht des Stärkeren in der internationalen Arena zu verankern, den Krieg zu verewigen und die Sache des Friedens noch schwieriger oder gar aussichtslos zu machen.

Mit welchen Veränderungen kann der Frieden gefördert werden?

(…)

Die mythologische Verklärung der Zivilgesellschaft als Sinnbild des Friedens ist auch in der Vorstellung präsent, die, ausgehend von Benjamin Constant (oder noch früher von George Washington oder Jean-François Melon), in der Förderung der wirtschaftlichen und produktiven Tätigkeit und in der Entwicklung des Handels und des Marktes die Garantie sieht für das Verschwinden sowohl des Militarismus als auch des Anreizes, sich durch militärische Eroberung und Krieg zu bereichern. Nach dieser Ansicht würde die Zivilgesellschaft, wenn sie ihren Neigungen frei folgen könnte, nur friedliche Arbeit verrichten, um die für ihren Unterhalt und ihr Wohlergehen notwendigen Güter zu produzieren und auszutauschen. Wir sollten uns jedoch alle des Zusammenhangs bewusst sein, der zu Beginn des Kapitalismus zwischen dem Aufbau des Weltmarktes und der Versklavung und Dezimierung oder Vernichtung ganzer Völker bestand; insbesondere nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wissen wir sehr wohl, dass der Kampf um den Absatz der industriellen Produktion und die Kontrolle des Weltmarktes durchaus zu dem „industriellen Vernichtungskrieg der Nationen untereinander“ führen kann, den das Manifest der Kommunistischen Partei voraussah.

Bei seiner Analyse der Gesellschaft und der Welt hatte Marx das Verdienst, die Aufmerksamkeit auf die Machtverhältnisse (und auf Herrschaft und Unterdrückung) zu lenken, die sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in der Politik gelten. Es ist ein Ansatz, der auch für das Verständnis des Phänomens Krieg gilt: Es kann sehr wohl eine Zivilgesellschaft sein – und ist es historisch oft gewesen –, die einen solchen Krieg provoziert, eine Zivilgesellschaft, die „frei“ und ohne von der politischen Macht behindert zu werden die in ihrem Besitz befindlichen Territorien oder die Zahl ihrer Sklaven oder des von ihr kontrollierten kolonialen oder halbkolonialen Gebiets und Einflussbereichs mit Waffengewalt ausweitet.

(…)

Die Verbindung zwischen dem Kapitalismus/Imperialismus einerseits und dem modernen Krieg andererseits ist klar. Wir werden gewissermaßen zurück zu Lenin geführt. Dieser berücksichtigt bei der Entwicklung seiner Analyse nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die ideologische Dimension. In seinen Augen ist eines der wesentlichen Merkmale des Imperialismus der Anspruch der Großmächte, sich als „Musternationen“ aufzuspielen, indem sie sich selbst „das ausschließliche Privileg auf staatliche Konstituierung“ zuschreiben und es den Barbaren der Kolonien oder Halbkolonien absprechen. Und wiederum wird die Verbindung zwischen Krieg und Kapitalismus/Imperialismus bestätigt. Wir haben die Euphorie des Westens bei seinem Triumph im Kalten Krieg erlebt: Zusammen mit dem Kommunismus war auch die „Dritte-Welt-Bewegung“ bezwungen worden; die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten konnten mehr denn je ihren „Exzeptionalismus“ geltend machen, indem sie in jedem Winkel der Welt militärisch intervenierten und sich in der Tat das „exklusive Privileg“ der Souveränität und die internationale Polizeigewalt vorbehielten (die Macht, die kolonialistische oder neokolonialistische Mächte seit jeher für sich beansprucht haben, und das natürlich exklusiv). Es ist wohl wahr, dass die UNO fortbestand, aber vor mehr als zwanzig Jahren berichtete eine maßgebliche italienische Tageszeitung („La Repubblica“) darüber, wie die Debatten und Abstimmungen im Sicherheitsrat abliefen: „China war gegen Sanktionen gegen Libyen, und die drei Westmächte drohten mit verheerenden wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen“; auf diese Weise konnten mögliche Dissidenten zum Gehorsam gezwungen werden. Doch heute, auch dank der außerordentlichen wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung des großen asiatischen Landes (und in geringerem Maße auch anderer Schwellenländer), hat sich alles geändert oder beginnt sich zu ändern. In den Ländern und den Kreisen, die den Exzeptionalismus für sich in Anspruch nahmen, weicht die Euphorie der Sorge und sogar der Angst: Bezog sie sich auf wirtschaftlicher Ebene auf die 2008 ausgebrochene Krise, so hängen auf der politischen Ebene die wachsenden Kriegsgefahren mit der Weigerung der USA und ihrer engsten Verbündeten zusammen, sich mit dem Verlust des „Exzeptionalismus“ und mit dem Rückgang von Kolonialismus und Neokolonialismus sowie mit der Demokratisierung der internationalen Beziehungen abzufinden, die sich trotz allem zaghaft abzuzeichnen beginnt.


Domenico Losurdo
Eine Welt ohne Krieg
Die Friedensidee von den Verheißungen der Vergangenheit bis zu den Tragödien der Gegenwart
PapyRossa Verlag Köln, 2022, 462 Seiten, 28,00 Euro
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"Eine Welt ohne Krieg", UZ vom 28. Oktober 2022



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