Afghanistan: Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg

Die Taliban führen einen unerklärten Krieg gegen die Frauen

Matin Baraki

Im Sommer 2021 verließen die westlichen Truppen Hals über Kopf Afghanistan. 20 Jahre hatten die imperialistischen Mächte unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung und des Demokratieexports das geostrategisch wichtige Land mit Krieg überzogen. In seinem neuen Buch zeichnet Matin Baraki die Entwicklung Afghanistans nach und zeigt die verheerenden Folgen des NATO-Krieges als auch der Talibanherrschaft auf. Wir danken Autor und PapyRossa-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck dieses Auszugs.

Das Talibanregime steigerte die Entrechtung und Unterdrückung der afghanischen Frauen, indem es sie Stück für Stück aus dem öffentlichen Leben verbannte. So ist das Land kaum noch von den Zuständen der ersten Talibanherrschaft von 1996 bis 2001 entfernt. Während es damals immerhin fünf Jahre dauerte, bis die Taliban ähnlich drastische Verordnungen erließen, haben sich jetzt „die Dinge sehr schnell in eine sehr besorgniserregende Richtung entwickelt“. Es wurde ein regelrechter Kulturkampf gegen die Frauen entfacht, dessen Ende noch nicht absehbar ist. Auf diese Weise wollten die Hardliner innerhalb der Organisation endlich die Machtfrage klären.

Obwohl ab dem 6. Oktober 2022 in 33 Provinzen des Landes Aufnahmeprüfungen für eine Zulassung zum Studium durchgeführt worden waren, verbot der Hochschulminister Mawlawi Neda Mohammad Nadim unter Verweis auf den „Erlass 28“ des Kabinetts von 2021 erst am 20. Dezember 2022 den Studentinnen, weiter die Universitäten zu besuchen. Dies betraf sowohl die staatlichen als auch die privaten Hochschulen. Damit waren 20 Millionen Studentinnen vom Studium ausgeschlossen. Daraufhin erklärten 20 Hochschullehrer von der Universität Kabul und zwölf von der Universität Nangrahar (im Osten des Landes) aus Protest schriftlich ihren Rücktritt. Bis zum 28. Dezember 2022 traten 47 Hochschullehrer zurück, am 2. Januar 2023 waren es schon über 100. Eine Gruppe von 13 Dozenten der Umweltfakultät der Universität Kabul verurteilte in einer gemeinsamen Erklärung das Studienverbot für Studentinnen sehr scharf und nannte es unbegründet. Darin hieß es unter anderem: „Solche Maßnahmen vergrößern die Kluft zwischen Regierung und Volk.“ Mohammad Ismail Maschal, der an verschiedenen Universitäten des Landes Journalistik lehrte, verbrannte öffentlich seine Zeugnisse. „Wenn meinen Studentinnen nicht erlaubt wird, Zeugnisse zu erwerben, brauche ich auch kein Zeugnis mehr“, sagte er vor laufender Kamera mit Tränen in den Augen.

In den Städten Kabul, Herat, Jalalabad, Qandahar und Taluqan protestierten Studierende aus Solidarität mit ihren Kommilitoninnen gegen das Verbot, Frauen zum Studium zuzulassen. Sie wurden von Sicherheitskräften brutal misshandelt und einige sogar verhaftet. An einigen Universitäten weigerten sich die Studenten, ihre Prüfungen abzulegen. Andere verbrannten öffentlich ihre Zeugnisse. Sie schlossen sich den protestierenden Kommilitoninnen an. „Entweder ein Studium für alle oder für niemand“, riefen sie. Eine Studentin der medizinischen Fakultät der Universität in Jalalabad nahm sich aus Verzweiflung das Leben.

Der Hochschulminister Mawlawi Neda Mohammad Nadim begründete in einem Interview mit dem staatlichen Fernsehsender Radio Television Afghanistan (RTA) das erlassene Verbot damit, dass die Studentinnen die von ihm als islamisch bezeichnete Kleiderverordnung nicht beachtet hätten. Dieser Behauptung wurde durch Professor Mohammad Habib Asimi von der juristischen Fakultät der Universität Kabul vehement widersprochen. Es seien alle Anordnungen des Hochschulministeriums umgesetzt, nämlich getrennte Klassen für Studentinnen und Studenten eingerichtet worden und das Tragen einer Gesichtsmaske, von schwarzen Kleidern sowie das Verbot, Hosen zu tragen, eingehalten worden. Außerdem sei das Tragen von Gürteln untersagt worden, um die Körperkonturen unsichtbar zu machen. Asimi war der erste Hochschullehrer, der als Protest und aus Solidarität mit den Studentinnen seinen Rücktritt erklärte.

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Frauen auf einem Markt in Afghanistan 2009. Laut US-Armee werden sie dabei von dem Soldaten im Hintergrund beschützt. (Foto: public domain)

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nahm in einer Erklärung deutlich dazu Stellung: „Die Mitglieder des Sicherheitsrats sind zutiefst beunruhigt über Berichte, wonach die Taliban den Zugang zu Universitäten für Frauen und Mädchen ausgesetzt haben, und brachten erneut ihre tiefe Besorgnis über die Suspendierung von Schulen über die sechste Klasse hinaus und ihre Forderung nach einer vollen, gleichberechtigten und sinnvollen Teilhabe von Frauen und Mädchen in Afghanistan zum Ausdruck und forderten die Taliban auf, die Schulen wieder zu öffnen und diese Politik und Praxis rasch rückgängig zu machen, die eine zunehmende Aushöhlung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten darstellen.“ Die erste Reaktion aus Kabul war, dass die zwei Schwergewichte in der Talibanhie­rarchie, der Innenminister Sarajuddin Haqqani und der Verteidigungsminister Mohammad Yaqub Mujahed, die auch als Stellvertreter des Talibanführers Heibatullah Achundsada fungierten, vorgeschlagen hatten, eine Delegation zu Achundsada nach Kandahar zu entsenden, um eine Rücknahme des Verbots zu erwirken, damit Frauen wieder zum Studium zugelassen werden. Ob Mujahed und Haqqani vom „Saulus zum Paulus“ geworden waren oder eher ihren Realitätssinn entdeckt hatten, sei dahingestellt. Ob es überhaupt eine Delegation nach Kandahar gegeben hat, blieb ungeklärt.

Nur wenige Tage später, am 24. Dezember 2022, forderte der Wirtschaftsminister Mohammad Hanif alle afghanischen und internationalen „Non-governmental organizations“ (NGOs) auf, ihre Mitarbeiterinnen – ausgenommen blieben nur medizinische Einrichtungen – zu entlassen. Ansonsten würden diese ihre Akkreditierung verlieren. Gerade die über 50 NGOs waren es, die schon nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft und dann im kalten Winter das Leben von über 28 Millionen Menschen gerettet hatten. Da die Hilfsorganisationen unter anderem auch Frauenprojekte betreuen, sind sie auf weibliche Kräfte vor Ort angewiesen. Deswegen setzten zahlreiche NGOs, darunter Save the Children, Care International, International Rescue Committee (IRC), Norwegian Refugee Council und Caritas International, ihre Tätigkeit vorläufig aus. „Wir können Kinder, Frauen und Männer in dringender Not nicht ohne unsere weiblichen Angestellten erreichen“, ließen die NGOs in einer gemeinsamen Erklärung am 25. Dezember 2022 verlautbaren. Vier NGOs mussten bis zum 28. Dezember 2022 insgesamt 4.313 Mitarbeiterinnen entlassen.

„Für uns Frauen ist es die schlimmste Zeit unseres Lebens“, sagte eine Juristin aus Herat, die aus Angst vor Repressalien namentlich nicht genannt werden wollte. Die Taliban „zögern nicht mehr damit, jedes erdenkliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen“.

Die frauenfeindlichen Maßnahmen des Talibanregimes lösten weltweite Kritik aus. Auch die islamischen Länder und die Vereinten Nationen forderten die unverzügliche Rücknahme dieser schändlichen Akte. UN-Generalsekretär António Guterres brachte in einer Presseerklärung am 24. Dezember 2022 seine tiefste Beunruhigung zum Ausdruck. „Die Vereinten Nationen und ihre Partner, darunter nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen, helfen mehr als 28 Millionen Afghanen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, zu überleben. Die wirksame Bereitstellung humanitärer Hilfe erfordert uneingeschränkten, sicheren und ungehinderten Zugang für alle Helfer, einschließlich der Frauen.“ Auch der UN-Sicherheitsrat verabschiedete am 27. Dezember 2022 eine Entschließung, in der er seine tiefe Besorgnis zum Ausdruck brachte. Die Frauenpolitik der Taliban weise auf eine zunehmende Aushöhlung der Menschen- und Freiheitsrechte hin, hieß es in der veröffentlichten Erklärung. Dies stehe auch im Widerspruch zu allen Verpflichtungen der Taliban im Rahmen des Abkommens zwischen USA und Taliban in Doha vom 29. Februar 2020.

In einem Gespräch am 27. Dezember 2022 mit Ramiz Alakbarov, dem stellvertretenden Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für Afghanistan bei „The United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA)“ in Kabul, äußerte sich der Wirtschaftsminister Mohammad Hanif fast beschämt und entschuldigend zu dem Arbeitsverbot. Der Gesundheitsminister Doktor Qalandar Ebad wandte sich aus Verzweiflung an die internationale Presse, in der Hoffnung, damit etwas bewirken zu können. Für die Hardliner um den Talibanführer Achundsada schienen allerdings all diese internationalen Reaktionen und die besorgte Öffentlichkeit kein Hindernis zu sein. Sie erklärten öffentlich, ihre Vorstellungen von einem, man muss es Steinzeitislam nennen, umsetzen zu wollen. Ihr Ziel sei die totale Abkapselung des Landes von der modernen Welt. Innerhalb der Talibanführung entbrannte eine offene Auseinandersetzung über zentrale politische und kulturelle Fragen, wie zum Beispiel die Stellung der Frauen in der Gesellschaft. Aus dem inneren Kreis des Regimes wurde der Presse zugespielt, dass die „Mehrheit der Minister gegen die Schließung der Universitäten für Frauen wie auch gegen die jüngste NGO-Anordnung war“. Alles deutete darauf hin, dass ein erbitterter Machtkampf innerhalb der Führung des Regimes in vollem Gange und noch nicht entschieden war. Am 5. Januar 2023 wurde dann bekannt gegeben, dass die NGOs entweder ohne weibliche Ortskräfte arbeiten müssen oder das Land zu verlassen hätten. Die erhoffte internationale Anerkennung des Talibanregimes rückt damit in immer weitere Ferne, es ist sogar auf dem besten Wege, international geächtet zu werden.


Die CIA hat bewusst die afghanischen Frauen instrumentalisiert, um dem Krieg 2001 gegen die Taliban einen humanitären Anstrich zu geben.
Ein Blick zurück auf die Regierungszeit des reformfreudigen Königs Amanullah Anfang des 20. Jahrhunderts und dessen Reformen, als die Frauenemanzipation einen besonderen Stellenwert hatte. Sodann auf die ersten Reformansätze unter König Mohammad Zaher ab 1943 und den Kampf der Frauen ab den 1960er Jahren, in deren Folge Frauen Zugang zur Legislative und Exekutive bekamen. Als Mitglied der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) wurde Doktor Anahita Ratebzad ins Parlament (Wolesi Dschirga) gewählt.
Mit der Machtübernahme der DVPA 1978 begann eine Modernisierung der gesamten afghanischen Gesellschaft. Die große Bildungsreform der afghanischen Geschichte wurde eingeleitet. Profitiert haben davon in erster Linie die afghanischen Mädchen und Frauen. Gerade im Bildungssektor standen ihnen viele Türen offen. Sie hatten zum ersten Mal die Möglichkeit, in der Sowjetunion, in der DDR oder anderen sozialistischen Ländern zu studieren. Danach kehrten gut ausgebildete und selbstbewusste Frauen nach Afghanistan zurück, die hohe Positionen in der Verwaltung, beim Militär und im Gesundheits- und Sozialwesen übernahmen. In den 1980er Jahren wurden etwa 60 Prozent der Lehrkräfte an der Universität Kabul von Frauen gestellt. Im allgemeinen Bildungswesen und in den medizinischen Bereichen waren es sogar etwa 80 Prozent.
Nach dem Sturz der DVPA-geführten Regierung und der Machtübernahme durch die Mujaheddin (1992) sowie der darauffolgenden Talibanherrschaft (1996 bis 2001) begannen vor allem für die Frauen die barbarischsten und unerträglichsten Jahre.
Das totale Scheitern des westlichen Militäreinsatzes wird auch am Beispiel der Frauen deutlich. Auch 20 Jahre westlicher Präsenz im Land haben an ihrem Schicksal kaum etwas geändert. Afghanistan ist weltweit eines der gefährlichsten Länder für Frauen. Zwangs- und Kinderheirat, Gewalt innerhalb und außerhalb der Familien, Ehrenmorde und Mädchenhandel gehören nach wie vor zu ihrem Alltag. Laut Human Rights Watch werden fast 90 Prozent der afghanischen Frauen Opfer von massiven Menschenrechtsverletzungen. Auch sexualisierte Gewalt ist ein weiteres Risiko, dem viele Afghaninnen schutzlos ausgeliefert sind. Dazu gehören auch massive Übergriffe wie Zwangspornografie, Zwangsheirat und Zwangsprostitution. Da solche Fälle selten juristisch verfolgt werden, treiben sie die schutzlosen Frauen in den Selbstmord. In einem Regionalkrankenhaus in der Stadt Herat (West-Afghanistan) hatte es allein im ersten Halbjahr 2010 mehr als 80 Fälle von Selbstmordversuchen gegeben, die 57 Frauen nicht überlebt haben. Dies alles geschah noch unter der vom Westen eingesetzten „demokratischen Regierung“ am Hindukusch. Als Mitte August 2021 die Taliban wieder die Macht übernommen hatten, ließen sie alle Einrichtungen, wo Frauen Schutz finden könnten (Frauenhäuser), schließen. Die afghanischen Frauen waren Spielball der Politik des Westens, der Warlords und der Islamisten und sind somit die größten Verliererinnen der letzten 20 Jahre westlicher Präsenz am Hindukusch.



Matin Baraki
Afghanistan: Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg
PapyRossa Verlag Köln 2023, etwa 290 Seiten, 17,90 Euro
Im UZ-Shop erhältlich


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"Die Taliban führen einen unerklärten Krieg gegen die Frauen", UZ vom 3. März 2023



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