Ein Gespräch mit Christel Buchinger über „Der Kommunismus“ von Domenico Losurdo – Teil 2

Programm und Wirklichkeit

Im Dezember vergangenen Jahres erschien im PapyRossa-Verlag posthum das Buch „Der Kommunismus – Geschichte, Erbe und Zukunft“ des 2018 verstorbenen italienischen Philosophen Domenico Losurdo. UZ sprach mit Christel Buchinger, die das Werk aus dem Italienischen übersetzt hat, über das Buch und seine Entstehungsgeschichte. Der erste Teil des Gesprächs erschien in UZ vom 16. Februar. Im folgenden zweiten Teil geht es um den „Westlichen Marxismus“, den antikolonialen Kampf und die Rolle Chinas.

UZ: Für einen neuerlichen Aufschwung des Kommunismus hält Losurdo die Überwindung einer Reihe von „Kinderkrankheiten“ für notwendig, die er vor allem im „Westlichen Marxismus“ verortet. Welche Bedeutung hat das in Deutschland?

Christel Buchinger: Von Kinderkrankheiten zu sprechen, finde ich bei einer so alten Bewegung schwierig. Vielleicht lässt es sich mit „Unreife“ besser fassen. Losurdo nennt etwa den Rebellismus, der die soziale Realität und die Machtverhältnisse ignoriert und sich dem Sozialismus nur in starken Worten nähert. Der „Westliche Marxismus“, der sich ja nie praktisch erproben musste, kultiviert geradezu seine Machtferne und bildet sich auf seine ihm dadurch vermeintlich gebliebene Reinheit viel ein.

Die Bauernproteste eignen sich als Beispiel. Ein Teil der Linken bis in die kommunistische Bewegung hinein empfindet ein großes Unbehagen gegenüber diesen Protesten und reagiert mit Moralismus: Die Bauern, Spediteure und Handwerker sind ja selber Ausbeuter, weil sie schlecht bezahlen. Insofern könne man mit ihnen nicht solidarisch sein. Nein, nur die ganz Reinen, die ausgebeutet sind, können und dürfen für den Sozialismus oder auch nur für eine Änderung der Politik eintreten. Der Sozialismus muss dann – möglichst aus dem Stand und ohne Umwege und Zwischenstationen – in einem Sprung erreicht werden. Man könnte sich ja sonst Fehler zuschulden kommen lassen. Losurdo behandelt dies unter dem Stichwort „Kommunismus als Flucht“ und stellt dieser den Kommunismus als wirkliche Bewegung entgegen. Diese Übermacht der Moralisiererei macht die kommunistische Bewegung zu einer leichten Beute für die Parteigänger und Agenten des Imperialismus.

UZ: Dem „Westlichen Marxismus“ ist auch der wirtschaftliche Aufschwung sozialistischer Staaten suspekt …

Christel Buchinger: Die Idealisierung von Mangel und Mühe kennen wir als Auswirkung des Kriegskommunismus. Losurdo bezeichnet dies als Populismus. Dieser Denkweise begegnen wir heute in abgewandelter Form in der Ideologie des „Degrowth“. Die Kritik am Wirtschaftswachstum als Ziel per se wird zu einem „Kult des Degrowth und der Natur“, der Schrumpfung, der Stagnation. Aber allein ein Blick auf den Globalen Süden macht klar, dass „Degrowth“ eine Ideologie ist, die nur den Globalen Norden sieht und die ökonomische und soziale Entwicklung des Südens – man könnte sagen: in schöner kolonialer Manier – völlig aus dem Blick verliert. Für Karl Marx ist hingegen gesellschaftlicher Reichtum nicht denkbar ohne die Natur, die allerdings seit Beginn der menschlichen Entwicklung bedroht wird. Eine Lösung kann aber nicht in der Schrumpfung liegen, sondern in Entwicklung. Dieser Teil des Werks von Losurdo gehört für mich zu den interessantesten.

Ein weiterer populistischer Irrtum – oder besser gesagt: eine Missachtung der Dialektik – betrifft die erhoffte Weltrevolution und die Weltrepublik mit dem Verschwinden der Nation und des Marktes, des Geldes und des Privateigentums in naher Zukunft. Losurdo kritisiert dabei am Kommunismus, dass er in weiten Teilen die objektive Dialektik revolutionärer Prozesse nur unzureichend verstanden hat und dass in Wirklichkeit die Diskrepanz zwischen Programmen und Ergebnissen revolutionärer Prozesse für jede Revolution charakteristisch ist.

UZ: Losurdo argumentiert fast ausschließlich auf einer theoretischen und politischen Ebene. Schätzt er damit nicht die „letzte Instanz“, die ökonomische Basis, zu gering?

Christel Buchinger: Losurdo ist kein Ökonom und beschäftigt sich nicht mit ökonomischen Problemen im engeren Sinne. Aber er ist Marxist – und wenn er die Ideengeschichte verfolgt und erklärt, dann bezieht er sich immer auf die realen Verhältnisse. So konfrontiert er die Ideen gerade des Liberalismus immer wieder mit der Realität. Er fordert, dass man sich mit Realitäten beim Aufbau von postkapitalistischen Gesellschaften auseinandersetzt und sie nicht an idealisierten Zukunftsträumen misst. An Ländern wie Kuba, Vietnam und China scheiden sich auch deswegen die kommunistischen Geister, schreibt er, weil diese Länder sich von Idealvorstellungen wegbewegen. Diese Länder – wie im Übrigen auch die Sowjetunion – begannen unter Bedingungen der ökonomischen Unterentwicklung, einer wenig ausgebildeten bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung. Er zitiert in dem Zusammenhang Deng Xiaoping: „Wenn die Produktivkräfte nicht entwickelt und der Lebensstandard des Volkes nicht erhöht werden, kann keine Rede davon sein, dass der Sozialismus aufgebaut wird.“ Alle heute noch vorhandenen sozialistischen Länder sind dem nationalen und antikolonialen Befreiungskampf entsprungen. Sie mussten die Entwicklung der Produktivkräfte nachholen, und zwar um jeden Preis und bei Strafe des Untergangs. Wenn Linke heute mit einer Träne im Knopfloch die Bedingungen in den kapitalistischen Unternehmen in China kritisieren, sollten sie sich vor Augen führen, wie die Lebensbedingungen der Chinesen wären, wenn die Revolution gescheitert wäre.

UZ: Ohne die Sowjetunion wäre die Befreiung der Völker vom Joch des Kolonialismus nicht möglich gewesen. Welche Rolle spielen Länder wie China, ­Vietnam und Kuba heute?

Christel Buchinger: Zum antikolonialen Kampf als Teil des Klassenkampfes hat Losurdo sehr ausführlich in dem Band „Klassenkampf“ argumentiert. Dabei zieht er immer wieder Marx, Engels und Lenin als Zeugen heran, die den Klassenkampf innerhalb eines Landes nicht nur in Verbindung mit dem Kampf um nationale und koloniale Befreiung sahen, sondern diesen auch als Teil des internationalen Klassenkampfes. Auch hier weist Losurdo auf theoretische Schwierigkeiten hin: Etwa Mao Zedongs Vorstellung, dass die Erhebungen in der Dritten Welt nach und nach die kapitalistische „Stadt“ eingrenzen und zum schnellen Sieg des sozialistischen „Landes“ führen würden. Oder die Hoffnungen in Kuba, dass die Revolution in anderen lateinamerikanischen Ländern kurzfristig zu wiederholen sei. Der Weg war und ist letztlich viel länger und schwieriger als erhofft und gedacht. Er forderte unzählige kluge und weniger kluge Kompromisse und viel Kreativität. Länder wie Kuba, Vietnam und China – und hier muss auch die Sowjetunion eingereiht werden – sind Länder, in denen sich der Kampf um den Sozialismus zu einem Kampf um nationale Befreiung gewandelt hat. Losurdo erinnert uns daran, dass die Kriege gegen China und die Sowjetunion die größten Kolonialkriege der Geschichte waren und sind.

Es geht darum, die Dialektik des Klassenkampfes zu verstehen, der heute mehr denn je den Kampf um nationale Souveränität einschließt, die von der „einzigen Weltmacht“ nicht nur in Bezug auf Kuba, China und Russland bedroht wird, sondern auch bei uns. Dabei geht es nach Losurdo auch darum, Demokratie in den internationalen Beziehungen durchzusetzen. Das bedeutet die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Akteure – so wie es innerhalb von BRICS und in den Beziehungen Chinas zu den Ländern des Globalen Südens schon umgesetzt wird.

UZ: In diesen Kämpfen spielt China eine entscheidende Rolle. Wie schätzt du Losurdos Position zu den heutigen Realitäten Chinas ein?

Christel Buchinger: Aussagen zu China sind in dem Band verstreut, es spielt indirekt immer eine Rolle. Der Sozialismus chinesischer Prägung oder der Marktsozialismus ist heute der Dreh- und Angelpunkt. Losurdo bezieht sich auf Mao, der darauf bestand, dass die Verallgemeinerung und gerechte Verteilung der Armut kein Sozialismus sei, sondern dass Sozialismus schnelle Entwicklung der Produktivkräfte bedeute. Dies sieht auch Deng so, Losurdo hat ihn aber auch in Bezug auf Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit genannt, weil er die Notwendigkeit der „Herrschaft des Rechts“ beteuert – und zwar in einem Land, das bis dahin auf keinerlei bürgerliche Rechtstradition zurückgreifen konnte und wo das Volk erst lernen musste, Gesetze zu akzeptieren und zu befolgen.

Natürlich, sagt Losurdo, braucht man für einen schwierigen und oft gefährlichen Kampf um eine postkapitalistische neue Gesellschaftsordnung eine Utopie, einen Traum, den man verwirklicht sehen will – das war auch in China so. Aber die Utopie muss zu einem konkreten politischen Projekt werden. Es sind dabei vor allem die Kritiker des Sozialismus, die die Unmöglichkeit der Verwirklichung der Utopie beschreien und die Unzulänglichkeiten der Umsetzung gegen ihn in Anschlag bringen. Aber auch die Sozialisten und Kommunisten selber zerstreiten sich darüber. Die Diskussion um China in der UZ ist dafür ein gutes Beispiel. Die Schritte der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) werden nicht an den Problemen, mit denen sie konfrontiert war und ist, gemessen und beurteilt, sondern an Idealen, die möglicherweise erst in 100 Jahren verwirklicht werden können. Für keines der Länder, die gegenwärtig auf dem Weg zum Sozialismus sind, ist die vollständige Abschaffung der Ausbeutung durch vollständige Sozialisierung der Produktionsmittel heute und in naher Zukunft umsetzbar.

UZ: Wird es noch eine Veröffentlichung zu Losurdos China-Positionen geben?

Christel Buchinger: Wie Grimaldi im Vorwort schreibt, hatte Losurdo noch einen weiteren Band über China und die Probleme geplant, die mit der Verwirklichung einer postkapitalistischen Ordnung verbunden sind, den aber er nicht mehr schreiben konnte. Gegenwärtig wird Losurdos Nachlass von seinen Schülern gesichtet, geordnet und ausgewertet. Wir können also hoffen, dass zu China noch eine Veröffentlichung folgen wird. Ich denke, dass Losurdo in Anbetracht der Tatsache, dass in Bezug auf China viele ideologische Fäden zusammenlaufen, aufzeigen wollte, was von China zu lernen ist. Dies aber keinesfalls in einem platten Sinn oder gar mit dem Gedanken, die Vorgehensweise zu kopieren. Das betrifft zum Beispiel die Entwicklung der Produktivkräfte oder die Planung.

Aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit hat die KPCh verschiedene Versuche der schnellen Entwicklung der Produktivkräfte gestartet, die zum Teil mit dramatischem Scheitern verbunden waren. Es gab den Versuch, das sowjetische Modell zu übernehmen, den „Großen Sprung“ mit Hochöfen in jedem Dorf und schließlich die Einführung einer sehr radikalen NÖP. Heute geht es – nach deren eigenen Aussagen – den Kapitalisten in China besser als in Europa, jedenfalls jenen Kapitalisten, die etwas produzieren wollen. Aber sie haben politisch nichts zu melden! Mit welchen Maßnahmen und Methoden sichert aber die KPCh die politische Macht? Die Produktivkraft Mensch entwickelt sich teils im Produktionsprozess, aber auch im staatlichen Bildungswesen. Und Letzteres ist offenbar in der Lage, den CEO von Apple in Staunen zu versetzen, der begründet, warum er in China und nicht in den USA produziert: In den USA kannst du in einer bestimmten Region mit den Ingenieuren für Werkzeugbau einen Raum füllen, in China mehrere Fußballfelder. In der Ökologie setzt China keinesfalls auf Schrumpfung, sondern auf Entwicklung. Das sind alles Sachen, die unter den europäischen Linken und auch den Kommunisten umstritten sind. Das aktuelle Buch schließt mit dem Kolumbus-Gleichnis. Für mich sieht es so aus, als hätte Losurdo dieses Gleichnis noch weiter ausführen wollen, aber nicht mehr dazu gekommen ist. Er weist darauf hin, dass „die Diskrepanz“ zwischen Programmen und den Ergebnissen von Revolutionen charakteristisch für diese ist.

Kurz bevor das Manuskript abbricht, fordert Losurdo uns auf, die objektiven Widersprüche zu untersuchen, die die modernen sozialistischen Revolutionen hervorgerufen haben, vor allem die Oktoberrevolution, die Mutter aller folgenden Revolutionen; ebenso die tatsächlichen, die wirklichen Merkmale der auf diese Revolutionen folgenden Welt. Nur so können die Gründe dafür gefunden werden, warum die Realität sich notwendig anders entwickelte und entwickelt werden musste, als es im Programm vorgesehen war. Daraus und aus dem methodischen Vorgehen der Klassiker können wir lernen. Und so muss eine wirkliche Revolution heute in den jeweiligen Ländern aus den wirklichen, den objektiven Widersprüchen entstehen und entwickelt werden. Das nimmt uns niemand ab.

Domenico Losurdo
Der Kommunismus – Geschichte, Erbe und Zukunft
PapyRossa Verlag, Köln 2023, 258 Seiten, 24 Euro
Erhältlich unter uzshop.de

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Über den Autor

Björn Blach, geboren 1976, ist als freier Mitarbeiter seit 2019 für die Rubrik Theorie und Geschichte zuständig. Er gehörte 1997 zu den Absolventen der ersten, zwei-wöchigen Grundlagenschulung der DKP nach der Konterrevolution. In der Bundesgeschäftsführung der SDAJ leitete er die Bildungsarbeit. 2015 wurde er zum Bezirksvorsitzenden der DKP in Baden-Württemberg gewählt.

Hauptberuflich arbeitet er als Sozialpädagoge in der stationären Jugendhilfe.

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"Programm und Wirklichkeit", UZ vom 23. Februar 2024



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