Warum der Rüstungskeynesianismus scheitern muss

Kein Ausweg

Über Jahrhunderte sah sich die Elite des „europäischen Abendlands“ als Hort der Aufklärung und Kultur sowie des ökonomischen und technologischen Fortschritts. Das beinhaltete auch die militärische und waffentechnische Überlegenheit. Diese Position ermöglichte es Europa, ab Ende des 14. Jahrhunderts den gesamten Globus nach und nach zu kolonisieren. Auf der Gewinnerseite dieser kolonialen und später neokolonialen Ausbeutungsordnung konnte sich die arbeitende Bevölkerung Europas und der USA einen relativ hohen Lebensstandard erkämpfen. Dieser sozialökonomische Standard steht seit gut zwei Jahrzehnten im Feuer. Die Krise wird verstärkt durch das erneute Aufbegehren der Länder Asiens und des Globalen Südens, die sich gegen die alte Ordnung zusammenschließen. Die geopolitisch-strategischen Zirkel des Imperialismus haben beschlossen, einen offenen Krieg gegen diesen – wie sie es sehen – Aufstand zu führen.

Schuldenorgie

Dieser Krieg soll nun vor allem von Europa und mit europäischen Ressourcen geführt werden, was zuallererst eine gewaltige Schuldenaufnahme erfordert. Für diese zu „Sondervermögen“ umetikettierten Kriegskredite werden in Brüssel unter dem Namen „ReArm Europe“ Zahlen um die 800 Milliarden Euro gehandelt. Das dürfte allerdings nur der Anfang sein. Allein die Bundesregierung will für ihr Vorhaben, Deutschland „wieder“ zur stärksten Militärmacht Europas zu machen, Kredite in Höhe von 900 Milliarden Euro mobilisieren. Von den Rüstungslobbyisten wird ganz offen die Forderung „Kanonen statt Butter“ erhoben. Kritikern dieses abenteuerlichen Kriegskurses wird gern entgegengehalten, dass es sich hier um eine Art „Rüstungskeynesianismus“ handele. Mit den durch diese Schuldenaufnahme ermöglichten Investitionen sei es möglich, Europa – vor allem seine ökonomische Vormacht Deutschland – wieder auf Wachstumskurs zu bringen und zu alter Größe zurückzuführen. Um dieses erstaunliche Argument diskutieren zu können, muss man ein wenig in der Zeit zurückgehen.

Keynes

John Maynard Keynes (1883 bis 1946) gilt als einer der fähigsten und weitestblickenden bürgerlichen Ökonomen des vorigen Jahrhunderts. Im Gegensatz zu vielen simplen Kapitalismus-Apologeten standen ihm die Probleme des Kapitalismus im Zeitalter des Imperialismus deutlich vor Augen. Das machte er schon mit seiner Kritik an den Verhandlungen zum Versailler Vertrag nach der Niederlage des deutschen Imperialismus im Ersten Weltkrieg deutlich. Keynes sah hier nichts, um das durch den Krieg hoch verschuldete „Europa wirtschaftlich wieder aufzurichten, nichts um die besiegten Mittelmächte zu guten Nachbarn zu machen, nichts um die neu entstandenen europäischen Staaten zu stabilisieren“. Was folgte, war der kreditfinanzierte Tanz auf dem finanzspekulativen Vulkan, bis am 24. Oktober 1929 die Blase implodierte – wie so viele kapitalistische Spekulationsblasen vorher, nur in dieser Weltwirtschaftskrise mit den bislang weitestreichenden, desaströsesten Konsequenzen.

Weltwirtschaftskrise und New Deal

Ebenso wie bei den Pariser Vorortverträgen sah Keynes 1929 die sozialen, politischen und ökonomischen Konsequenzen. Hinzu kam die Gefahr für den Kapitalismus als sozialökonomisches System. Die So­wjet­union war dabei, sich mit ihrem ersten Fünfjahresplan (1928 bis 1932) auf Platz zwei der industrialisierten Staaten zu katapultieren. Es gab eine starke Kommunistische Internationale, kampfbereite Arbeiterparteien und Gewerkschaften und eine zunehmend radikalisierte Arbeiterschaft. Keynes sah, dass die vorherrschende Wirtschaftstheorie nicht in der Lage war, eine Lösung des Problems im Sinne der Stabilisierung herbeizuführen, wozu es eines Kompromisses mit der Arbeiterklasse bedurfte. In den kommenden Jahren bis 1936 konnte er seine Thesen systematisieren und zu seinem Buch „Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ zusammenfassen. Er verwarf die „neoklassischen“ Dogmen eines „freien Marktes“ und eines internationalen „Freihandels“ und setzte ihnen einen makroökonomischen, nachfrageorientierten Ansatz entgegen. Sein zentraler Gedanke war, die stagnierende Nachfrage durch geeignete fiskalische und monetäre Maßnahmen im Sinne eines positiven ökonomischen Impulses zu beeinflussen und damit die kapitalistische Wirtschaft weiterlaufen zu lassen. Dafür bieten sich Infrastrukturprogramme an, da hiermit ein gesamtwirtschaftlicher Produktivitätsfortschritt erzielt werden kann – und Finanzierung mittels Krediten vergrößert die ökonomische Basis, auf der diese Prozesse stattfinden können. Die USA verfolgten in den 1930er Jahren unter Präsident Franklin Delano Roosevelt mit dem „New Deal“ in weitem Umfang keynesianische Konzepte, die das Land mit einer gewaltigen Masse bis heute wichtiger Infrastrukturprojekte im großen Umfang modernisierten.

Der New Deal war ein Klassenkompromiss, der neben den Infrastrukturprojekten und der Regulierung des Finanz- und Bankensektors auch eine deutliche Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation der Arbeiterklasse durch Einführung eines Mindestlohns, das Recht auf Gründung von Gewerkschaften, die 40-Stunden-Woche und die Beschäftigung von 15 Millionen Staatsangestellten erreicht hatte.

„Rüstungskeynesianismus“

In Deutschland gelang es dem Hitler-Faschismus nach dem wirtschaftspolitischen Scheitern der Regierungen Brüning und von Papen zwar relativ schnell, die Krisendynamik zu überwinden und Vollbeschäftigung zu erreichen – was aber nur begrenzt an der durch Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht ab 1933 massiv betriebenen Kreditaufnahme lag, sondern eher an der Zerschlagung der Gewerkschaften und der Einführung zwangsarbeitsähnlicher „Beschäftigungsverhältnisse“ unter dem Namen „Reichsarbeitsdienst“. Die faschistische Wirtschaftspolitik stellte keineswegs eine nachhaltige zivile, sondern eine auf einen Revanchekrieg ausgerichtete Kriegswirtschaft zu Friedenszeiten dar. Ein siegreicher Krieg war eingepreist: Die für die Aufrüstung aufgenommenen Schulden sollten getilgt werden durch die Ausplünderung und Ausbeutung der besetzten Länder.

Perversion

Wenn nun von „Rüstungskeynesianismus“ als einer Art wirtschaftspolitischem Rettungsprogramm die Rede ist, so stellt sich die Frage, ob sich die Propagandisten dieser Idee tatsächlich auf die Strategien Hitler-Deutschlands in den 1930er Jahren beziehen wollen. Darüber hinaus wäre zu klären, wie sich die politisch-ökonomischen Verhältnisse seit damals geändert haben.

„Rüstungskeynesianismus“, das muss man so offen aussprechen, ist eine Perversion der keynesianischen Versuchs, dem strukturell krisenhaften Kapitalismus etwas mehr Stabilität zu verleihen. Es ging Keynes nicht darum, die Vorbereitungen für einen Weltkrieg zu treffen – er wollte das Überleben des Kapitalismus friedlich bewerkstelligen.

Die Rüstungsproduktion des Deutschen Reiches ab 1933 und der USA nach 1940 häufte gigantische Schuldenberge auf, die von den USA nur durch ihre koloniale Supermachtposition teilweise abgetragen werden konnten und die im Falle Nachkriegsdeutschlands – anders als nach 1918 – nur deswegen großzügig erlassen wurden, weil die BRD als Frontstaat gegen die DDR und die So­wjet­union gebraucht wurde.

Krise wird vertieft

Diese Voraussetzungen sind nicht mehr gegeben. Die ohnehin vorhandene Verschuldung der westlichen Staaten erreicht in vielen Fällen 100 Prozent des Bruttosozialprodukts, in nicht wenigen Fällen auch deutlich mehr. Deutschland mit einer bisher relativ geringen Staatsverschuldung wird die 100-Prozent-Marke mit den geplanten Kriegskrediten ebenfalls erreichen. Die Schuldentragfähigkeit ist auch ohne Kriegskredite schon ausgeschöpft. Dazu kommt, dass die USA – anders als 1945 – selbst in einer schweren Krise stecken. Es reicht inzwischen nicht mehr, den Globalen Süden neokolonial auszubeuten. Die Politik der Trump-Regierung zeigt, dass die US-Wirtschaft mittels Zöllen und anderen Zwangsmaßnahmen auch auf Kosten der „Verbündeten“ saniert werden soll. Hinzu kommt die Verstärkung der Abhängigkeit Europas von US-Energie- und Waffenlieferungen. Das führt bei Letzteren zu einem massiven Abfluss von „Rüstungsinvestitionen“ in die USA.

Doch selbst wenn die Rüstungsmilliarden ausschließlich an deutsche Konzerne gingen, ergäbe sich kein besseres Bild. Die deutsche Rüstungsindustrie ist hoch spezialisiert und beschäftigt etwa 110.000 Menschen. Selbst wenn sich diese Zahl in den nächsten Jahren erheblich vergrößern sollte, läge sie bei maximal 500.000 Personen. Das wären bei der Gesamtbeschäftigung im verarbeitenden Gewerbe von 5,5 Millionen Menschen gerade einmal 9 Prozent. Da keine ökonomischen Positiveffekte durch eine gestiegene Warenmenge zu erwarten sind, blieben nur die Effekte einer gestiegenen Lohnsumme. Das aber dürfte in jedem Fall durch die Negativeffekte und Jobverluste durch die US-Zölle, die massiv gestiegenen Energiekosten und die Milliarden, die in den Krieg in der Ukraine und den israelischen Völkermord versenkt werden, mehr als konterkariert werden.

Krieg, Verfall und gesellschaftliche Spaltung

Keynes hatte seine „Allgemeine Theorie“ mit Blick auf die nationalstaatliche Handlungssouveränität des britischen Empire verfasst. Diese ist für den Westen – erst recht für die EU – heute nicht mehr gegeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das angloamerikanische Finanzkapital den Kampf gegen den „New Deal“ auf – der Klassenkompromiss sorgte für schlechte Profitraten. Nach dem verlorenen Vietnamkrieg und der sich 1974/75 anschließenden Weltwirtschaftskrise erfolgte der Großangriff auf die keynesianische Wirtschaftspolitik. Mit dem Amtsantritt der britischen Premierministerin Margaret Thatcher 1979 und des US-Präsidenten Ronald Reagan 1981 wurde der Politikwechsel vollzogen. Seither ist Keynes ein „toter Hund“, der Keynesianismus verfemt und der Marsch des „Wertewestens“ in den Ruin anscheinend kaum noch aufzuhalten.

Seit knapp 50 Jahren wird eine zwar differenzierte, aber im Kern neoliberal angebotsorientierte Wirtschaftspolitik gelehrt und betrieben. Sparsamkeit und Haushaltszurückhaltung wurden gepredigt, während die Staatsschulden immer weiter stiegen. Aus Multimillionären wurden Multimilliardäre, aber die Gesellschaft insgesamt verarmte. Inzwischen tritt der infrastrukturelle und sozialökonomische, letztlich gesellschaftlich-ideologische Verfall offen zu Tage.

Der Kriegskurs von USA, NATO und EU ist ein Verrat an den Inte­ressen der arbeitenden Bevölkerung Europas und an den nationalen Inte­ressen der europäischen Staaten ganz allgemein. Selbst wenn es nicht zum Krieg kommt, verbliebe eine durch den entstehenden militärisch-industriellen Komplex drastisch verzerrte Ökonomie mit den daraus notwendig entstehenden innenpolitischen Repressions- und außenpolitischen Aggressionsinteressen. Man muss sich nur das Beispiel der verfallenden USA ansehen, um zu begreifen, wohin das alles führt.

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"Kein Ausweg", UZ vom 10. Oktober 2025



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