Immer häufiger schießen Polizisten auf Menschen in psychischen Notsituationen

Kugelhagel statt Hilfe

Nienburg, 30. März. Polizisten stehen neben und hinter dem Gartenzaun eines Mehrfamilienhauses nahe des Bahnhofs. Ein Hund bellt. Plötzlich laufen die Beamten los. Zwei Schüsse fallen. Ein Mann kommt ins Bild, bewegt sich hektisch und wedelt mit einem Messer. Fünf weitere Schüsse fallen, der Mann geht zu Boden. Es wird still. Dann fällt noch ein Schuss. Lamin Touray stirbt noch vor Ort an seinen Verletzungen. „Statt zu helfen, haben sie ihn wie ein Tier im Wald erschossen“, sagt die Freundin des Opfers später. Sie hatte den Notruf gewählt, weil Touray sich in einer psychischen Krise befand. Die Polizisten, die ihn erschießen, lassen seinen nackten Leichnam noch mehrere Stunden auf der Terrasse liegen. Ohne Sichtschutz.

Dortmund, 3. April. Vor der Reinoldikirche in der Innenstadt soll ein Obdachloser einen anderen angegriffen haben. Als die Polizei eintrifft, greift er zu einer zweieinhalb Meter langen Eisenstange. Ein Augenzeuge filmt den Einsatz. In dem Video hört man einen Taser. Eine Polizistin schreit „Stehenbleiben!“ Ein Kollege rennt von hinten auf den Obdachlosen zu – und weicht plötzlich zurück, als ein weiterer Beamter den Mann aus nächster Nähe niederschießt. Das Opfer stirbt noch in der Nacht. Seinen Namen nennt die Polizei nicht.

Seit 1976 hat die Polizei in der BRD nach Zählung der Zeitschrift „Bürgerrechte & Polizei/CILIP“ mindestens 485 Menschen getötet. Rassistische Diskriminierung und Wohnungslosigkeit sind Risikofaktoren dafür, Opfer von Polizeigewalt zu werden. Drei Viertel der Opfer befinden sich in psychischen Ausnahmesituationen, schätzt Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes. Noch mehr sind von Armut betroffen, auf Sozialleistungen angewiesen oder schlagen sich mit prekären Jobs durch. Tödliche Polizeigewalt ist eine Klassenfrage.

In dem Maße, in dem die Gesellschaft Armut produziert, produziert sie psychische Erkrankungen und Ausnahmesituationen. Diese Zerfallserscheinungen kann der Kapitalismus nicht mehr einfangen. Als Mouhamed Dramé sich am 8. August 2022 im Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt ein Messer an den Bauch hielt, entschieden seine Betreuer, die Situation nicht selbst lösen zu können. Der Leiter der Einrichtung wählte den Notruf und erkundigte sich am Telefon, ob er mit seinem Anliegen überhaupt richtig sei bei der Polizei. Der Beamte in der Leitstelle bejahte. Ein Dutzend Beamte rückte an. Kurz darauf war der Jugendliche tot – von Kugeln durchsiebt. Die Freundin von Lamin Touray wusste, dass die Polizei in solchen Situationen der falsche Ansprechpartner ist. Sie rief einen Rettungswagen – und bekam trotzdem Sterbehelfer in Uniform.

Der Umgang mit psychisch erkrankten Menschen spielt kaum eine Rolle in der Polizeiausbildung. Politisch erwünscht ist der schnelle Griff zur Dienstwaffe. „Die Polizei NRW muss an Konsequenz, Stabilität, Führungsstärke und Robustheit deutlich zulegen!“, heißt es in einem Papier des Landesamts für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei Nordrhein-Westfalens, das „FragDenStaat“ 2023 nach erfolgreichem juristischem Kampf der Öffentlichkeit zugänglich machte.

Jeder Streifenwagen in Nordrhein-Westfalen hat eine Maschinenpistole an Bord. Stichsichere Kettenhemden bekommen die Beamten nicht. Sie werden unzureichend vorbereitet in Einsätze geschickt, die ihr eigenes Leben gefährden können. Die Einpeitscher aus „Polizeigewerkschaften“ und rechten Parteien, die ständig vor angeblich wachsender Gewalt gegen Polizisten warnen, spielen dann die Begleitmusik zum reaktionären Staatsumbau.

Menschen, die sich gegen Polizeigewalt engagieren, raten der Öffentlichkeit mittlerweile: Rufe nie die Polizei. Die können sich nur Reiche leisten.

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"Kugelhagel statt Hilfe", UZ vom 12. April 2024



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