Ein autobiografisches Geschichtsbuch über den sozialistischen Anlauf in Chile

„Mensch, du lebst noch?“

Sigurd Mutiger

Chile – Salvator Allende, Sozialismus – da war doch mal was! Manche werden sich vage erinnern. Aber was wissen wir von diesem Land, in dem derzeit wieder heftige Proteste gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Bevölkerung stattfinden? Schüler, Studierende, Arbeiter und bürgerliche Gruppierungen gehen gegen die Regierung von Sebastian Piñera auf die Straße.

Vor allem, was wissen wir über Chile vor der Regierungszeit von Salvator Allende? Orlando Mardones, Arbeiter und Kommunist, nimmt uns in seinem Buch „Mensch, du lebst noch?“ mit auf einen Streifzug durch sein Leben in Chile von 1955 bis zu seiner Ankunft im Exil in Westberlin.

„Die glücklichste Zeit meines Lebens war zu Ende, als meine Großmutter starb. Das war 1955 und ich war gerade neun Jahre alt.“ Mit diesem nüchternen Satz beginnt Orlando sein Buch. Er stammt aus einer zerrütteten Familie und wird, bis er ein halbwüchsiger Junge ist, hin und her geschubst. Familiäre Wärme lernt er nicht kennen, dafür bittere Armut in kleinen Dörfern am Rande der Zivilisation. Eigentlich geht er gerne in die Schule, ohne richtige Förderung verlässt er sie allerdings ohne Abschluss. Die Lehrmethoden und Schläge der Lehrer sind für den jungen wissbegierigen Orlando, mit seinem Sinn für Gerechtigkeit, wenig Ansporn. Beim Energiekonzern ENDESA findet er nach dem Militärdienst erstmals Halt – finanziell und ideologisch. Er lernt Gewerkschafter sowie Kommunisten kennen, die ihm manchmal auch mit klaren Worten beibringen, was Solidarität und Klassenbewusstsein heißt. „Mitte der sechziger Jahre habe ich mich immer mehr in der gewerkschaftlichen und politischen Arbeit engagiert. Das wurde eine der entscheidenden Phasen für mein Leben, ein neuer Horizont.“ Er übernahm Verantwortung in der Gewerkschaft und wurde Teil der Kämpfe der chilenischen Arbeiterklasse in den sechziger und siebziger Jahren. „Es gab in Chile noch vieles, wofür die Arbeiter kämpfen mussten. Oftmals schufteten sie noch 50 oder 60 Stunden in der Woche bei viel zu geringen Löhnen.“ 1966 trat er in die Kommunistische Partei ein und übernahm dort Verantwortung in der lokalen Leitung der Partei sowie im Bündnis „Unidad Popular“ als Wahlkämpfer für Allende. Die „Unidad Popular“ gewinnt. In staatlichen Betrieben wurden für die Gewerkschaften umfangreiche Mitbestimmungsrechte eingeführt. Arbeiter wurden in die Unternehmensleitungen integriert. Der Reaktion und dem Militär war dies zuwider. Sie wandten sich gegen das Volk und putschten mit Hilfe der USA 1973 die vom Volk gewählte Regierung weg. „Der verlorene Sieg“ nennt Orlando das Kapitel und sucht nach den Ursachen. „Aber wir, die Gewerkschaften, die Linke, waren nicht genügend darauf vorbereitet, eines Tages die politische Macht in unseren Händen zu halten. Wir hatten immer gegen die Regierung gekämpft und diese Haltung behielten viele Arbeiter auch nach der Wahl des Präsidenten. Wir sollten auf einmal sowohl die Interessen der Beschäftigten und des Staates vertreten. Das war tragisch.“ Es war nicht nur ein verlorener Sieg – Tausende Linke und Gewerkschafter wurden ermordet. Auch Orlando wird verhaftet und gefoltert, aber er überlebt. „Mensch, du lebst noch?“ fragt ihn verwundert ein Genosse im Folterknast. Nach drei Jahren Lager kommt er frei. Eine Chance, in Chile wieder Fuß zu fassen, hat er nicht. 1978 kehrt er einsam seinem Heimatland den Rücken. Seine Familie ist zerbrochen. Seiner politischen Überzeugung ist er jedoch auch im Exil treu geblieben. Ich habe Orlando beim letzten Parteitag der DKP in Frankfurt kennengelernt, wo er mich bat, sein Buch zu lesen. Es ist ein aufschlussreiches Dokument einer Kindheit und Jugend in der Armut der Arbeiterklasse. Es ist ein Geschichtsbuch über den Versuch, in Chile ein sozialistisches System für das Volk zu etablieren. Es ist eine zutiefst emotionale Lebensgeschichte. Orlando erzählt diese allerdings so nüchtern, dass mir manchmal der Atem stockte. Es ist außerdem ein hochpolitisches Buch, das Fragen über den richtigen Weg zur Überwindung des Kapitalismus und Imperialismus anspricht: „Wir besaßen nicht die Kraft, mit der wirtschaftlichen Krise fertig zu werden, gegenüber der Rechten in der Offensive zu bleiben, die gesamte Arbeiterklasse für unsere Politik zu gewinnen.“ Es bleibt unser Auftrag, gemeinsam mit Orlando den Traum vom Sozialismus in Chile und an anderen Orten der Welt zu verwirklichen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"„Mensch, du lebst noch?“", UZ vom 7. August 2020



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Baum.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit